R. Fiktive Erwerbe i.S.d. Abs. 8
A. Grundaussagen der Vorschrift
Rz. 1
"Schenkungen unter Lebenden unterliegen der gleichen Steuer wie der Erwerb von Todes wegen ..." In knapper Form sorgte so schon § 55 ErbStG i.d.F. v. 3.6.1906 reichseinheitlich dafür, dass die Erbschaftsteuer nicht durch lebzeitige Zuwendungen umgangen werden konnte. Der Tatbestand der freigebigen Zuwendung wurde erst in § 40 ErbStG i.d.F. v. 10.9.1919 der Schenkung gleichgestellt. Bereits damals fingierte man katalogmäßig weitere Erwerbsfälle als Schenkungen. Diese Fiktionstechnik wurde bis heute beibehalten. Allerdings gab man die seit § 3 ErbStG i.d.F. v. 20.7.1922 getroffene Unterscheidung zwischen der bürgerlich-rechtlichen Schenkung und anderen freigebigen Zuwendungen mit der Erbschaftsteuerreform 1974 wieder auf. Seit 1.1.1974 gilt nun § 7 ErbStG, ursprünglich i.d.F. v. 20.4.1974, letztmals geändert mit dem Gesetz zur Vereinheitlichung des Stiftungsrechts und zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes v. 16.7.2021.
Rz. 2
Der unentgeltliche Erwerb unterliegt als Erwerb von Todes wegen der Erbschaftsteuer und als Schenkung unter Lebenden der Schenkungsteuer (§ 1 Abs. 1 Nrn. 1, 2 ErbStG). Während § 3 ErbStG die Fälle des Erwerbs von Todes wegen abschließend aufzählt und hierbei Schenkungen auf den Todesfall i.S.d. § 2301 BGB und durch den Tod des Schenkers bedingte Leistungen Dritter (Abs. 1 Nr. 2, 4) einbezieht, beschreibt § 7 ErbStG abstrakt die freigebige Zuwendung in Abs. 1 Nr. 1 als Grund- und Auffangtatbestand lebzeitiger Schenkungen und in Abs. 1 Nrn. 2–10 sowie Abs. 6–8 mehr oder weniger konkret spezielle Fälle steuerbarer Schenkungen. Darüber hinaus stößt man im Umkehrschluss aus § 13 Abs. 1 Nr. 4a, 5, 9a, 11–19, § 18 ErbStG sowie in § 29 Abs. 2 ErbStG "notwendigerweise" auf die grundsätzliche Schenkungsteuerpflicht dort benannter Vorteilszuwendungen (zu Zustiftungen an und Leistungen der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" s. § 13 ErbStG Rz. 201).
Rz. 3
Im Übrigen enthält § 7 ErbStG in Abs. 3 und 4 sowie mit Abs. 6 und 8 wichtige klarstellende Regelungen, die sich der Rechtsanwender stets in Erinnerung rufen sollte:
- Nur in Geld bewertbare (Gegen-/)Leistungen sind schenkungsteuerlich relevant.
- Der Zweck einer Schenkung ist grundsätzlich unerheblich.
- Auf die äußere Form kommt es nicht an; auch verdeckte sowie fremdunübliche Zuwendungen können steuerbar sein.
- Freigebigkeit ist auch zwischen Kapitalgesellschaften (und Genossenschaften) möglich.
- Die Bereicherung einer Gesellschaft geht regelmäßig mit einer Werterhöhung der Gesellschaftsanteile einher.
Rz. 4
Abs. 2 ergänzt § 7 Abs. 1 Nr. 7 ErbStG. Abs. 5 gilt nur für die Übertragung von Anteilen an Personengesellschaften. Abs. 7 Satz 3 hätte man als lediglich ergänzende Vorschrift des § 10 Abs. 10 ErbStG zielgenauer unter § 3 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG platzieren können.
B. Freigebige Zuwendung (Abs. 1 Nr. 1)
I. Unmittelbare Zuwendungen
1. Steuerbare Erwerbsvorgänge
Rz. 5
Hauptanwendungsfall und "Grundmodell" der begrifflich weiter gefassten freigebigen Zuwendung ist die – noch in § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG i.d.F. v. 1.4.1959 ausdrücklich genannte – Schenkung i.S.d. bürgerlichen Rechts. Zu Lebzeiten des Schenkers ausgeführte Vorteilsgewährungen müssen daher objektiv unentgeltlich geschehen. Sind sich die Beteiligten einig über dieses ungeschriebene Tatbestandsmerkmal des § 7 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG, verwirklichen sie unter den weiteren Voraussetzungen des § 516 Abs. 1 BGB stets eine steuerbare Schenkung. Zur Steuerbarkeit der (sonstigen) frei gebig en Zuwendung genügt jedoch bereits allein das Bewusstsein des Schenkers unentgeltlich zu handeln; m.a.W.: Als Schenkung gilt jede objektiv unentgeltliche Zuwendung, soweit der Bedachte durch sie auf Kosten des Zuwendenden bereichert wird, es sei denn, dieser hätte nicht freigebig gehandelt. Einer zivilrechtlichen Schenkung bedarf es hierzu nicht.
Rz. 6
Wer im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte unentgeltlich leistet, handelt freigebig i.S.d. § 7 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG. Unentgeltliche Zuwendungen sind in jeder denkbaren Rechtsform möglich. Sie müssen nicht ausdrücklich als Schenkung bezeichnet werden. Sie kommen auch in anderen zivilrechtlichen Vertragsformen vor (gemischte Schenkung) und/oder sind durch besondere Vertragsgestaltungen verborgen...