Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Verwirkung prozessrechtlicher Befugnisse
Leitsatz (NV)
- Hat der Adressat ein unter Verletzung von Zustellungsvorschriften zugestelltes Schriftstück tatsächlich erhalten, ist der Zustellungsmangel geheilt; lediglich die betreffende Frist wird nicht in Lauf gesetzt.
- Eine prozessrechtliche Befugnis (z.B. Rechtsmitteleinlegung) verwirkt der Empfänger eines fehlerhaft zugestellten, aber tatsächlich zugegangenen Schriftstückes, wenn er nach dessen Erhalt länger als ein Jahr untätig bleibt.
Normenkette
ZPO §§ 179-180; VwZG § 9 Abs. 2
Verfahrensgang
FG Nürnberg (Urteil vom 23.04.2002; Aktenzeichen II 495/2001) |
Tatbestand
I. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), einer Steuerberaterin, wegen Umsatzsteuer 1998 abgewiesen.
Das FG ordnete die Zustellung des Urteils mit Postzustellungsurkunde an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin an. Auf dieser Postzustellungsurkunde ist vermerkt, dass der Postbedienstete versucht hat, die für Herrn Rechtsanwalt X bestimmte Sendung "in der Wohnung des in der Anschrift bezeichneten Empfängers (Einzelperson, Einzelfirma, Rechtsanwalt usw.)" zuzustellen, jedoch niemanden angetroffen habe. Der Postbote habe ―wie bei gewöhnlichen Briefen üblich― die schriftliche Benachrichtigung über die vorgenommene Niederlegung in den Hausbriefkasten eingelegt. Als Datum der Niederlegung ist der 6. Mai 2002 vermerkt. Am 6. Juni 2002 ging die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin beim Bundesfinanzhof (BFH) ein mit der Bemerkung, die Begründung werde nachgereicht. Auf den der Klägerin am 13. Juli 2002 zugestellten Hinweis der Geschäftsstelle des erkennenden Senats, dass die Frist für die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde beim BFH abgelaufen und die Beschwerdebegründung bisher nicht eingegangen sei, beantragte die Klägerin Fristverlängerung, da der beauftragte Rechtsanwalt sich bis zum 15. August 2002 in Urlaub befinde. Eine Begründung hat die Klägerin bisher nicht eingereicht.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision ist unzulässig, weil sie nicht, wie erforderlich (§ 116 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―), begründet worden ist.
Dabei kann offen bleiben, ob die Zustellung des angefochtenen Urteils an Rechtsanwalt X dessen Wohnungs- oder Kanzleianschrift betraf.
1. Im ersten Fall war die Zustellung wirksam (§§ 176, 180 der Zivilprozessordnung (ZPO) in der bis 30. Juni 2002 geltenden Fassung ―a.F.― vor In-Kraft-Treten der Änderungen durch das Gesetz zur Reform des Verfahrens bei Zustellungen im gerichtlichen Verfahren Zustellungsreformgesetz ―ZustRG― vom 25. Juni 2001, BGBl I 2001, 1206, BStBl I 2001, 491 am 1. Juli 2002). Dann sind die Rechtsmittelfristen abgelaufen.
2. Im zweiten Fall war die Zustellung gemäß § 183 Abs. 2 ZPO a.F. unwirksam und hat die Rechtsmittelfrist gemäß § 116 FGO nicht ausgelöst.
a) Hat in einem solchen Fall der Empfänger ―wie hier die Klägerin spätestens am 6. Juni 2002, dem Tag, an dem sie die Beschwerde verfasst und dem BFH per Telefax übermittelt hat― das zuzustellende Schriftstück ―hier das Urteil des FG― tatsächlich erhalten, ist der Mangel der Unwirksamkeit geheilt (§ 9 des Verwaltungszustellungsgesetzes ―VwZG― a.F.); jedoch wurden die in § 9 Abs. 2 VwZG in der bis zum 30. Juni 2002 geltenden Fassung benannten Fristen, zu denen auch die Frist für die Einlegung und Begründung eines Rechtsmittels gehört, nicht in Lauf gesetzt (BFH-Beschluss vom 31. Mai 2001 V B 40/01, BFH/NV 2001, 1573, m.w.N.).
b) Das bedeutet indessen nicht, dass die Klägerin ohne zeitliche Begrenzung in einem solchen Fall noch ihre Beschwerdebegründung nachholen kann.
Auch die Geltendmachung prozessrechtlicher Befugnisse kann im Einzelfall verwirkt werden (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Januar 1972 2 BvR 255/67, BVerfGE 32, 305; BFH-Urteil vom 14. Juni 1972 II 149/65, BFHE 106, 134; Urteil des Bundessozialgerichts vom 29. Juni 1972 2 RU 62/70, Neue Juristische Wochenschrift ―NJW― 1972, 2103; Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 2. November 1961 2 AZR 66/61, Arbeitsrechtliche Praxis Nr. 1 zu § 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches "Prozessverwirkung"; BFH-Beschlüsse vom 5. Februar 1985 VII R 173/82, BFH/NV 1986, 29; vom 19. August 1987 IV B 70/86, BFH/NV 1988, 244). Bleibt z.B. ―wie hier― der jeweilige Rechtsmittelführer unter solchen Verhältnissen untätig, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt (BVerfGE 32, 305, 308), können die übrigen Beteiligten und das zuständige Gericht nach Ablauf eines Jahres von dem Zeitpunkt an, in dem die Frist bei fehlerfreier Bekanntgabe bzw. Zustellung der Entscheidung zu laufen begonnen hätte, darauf vertrauen, dass ein Rechtsmittel nicht mehr geltend gemacht werden soll (z.B. BFH in BFH/NV 1986, 29; BFH/NV 1988, 244, jeweils m.w.Nachw.).
c) Davon ausgehend ist im Streitfall die Frist für die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde am 6. Juni 2003 abgelaufen, denn außerordentliche Hinderungsgründe für die Einreichung der Begründung der von der Klägerin erhobenen Nichtzulassungsbeschwerde sind nicht ersichtlich und nicht vorgetragen. Die Klägerin hat am 19. Juli 2002 lediglich beantragt, die Begründungsfrist zu verlängern, weil sich der beauftragte Rechtsanwalt bis 15. August 2002 in Urlaub befinde. Obwohl sie von der Geschäftsstelle des erkennenden Senats mit Schreiben vom 23. Juli 2002 nochmals auf den Ablauf der Begründungsfrist und die Möglichkeit der Wiedereinsetzung hingewiesen wurde, hat sich die Klägerin nicht mehr geäußert. Seit der Einlegung der Beschwerde am 6. Juni 2002 ist mehr als ein Jahr verstrichen.
Fundstellen