Leitsatz (amtlich)
1. Die Entscheidung über die Gewährung einer Stundung nach § 222 AO 1977 ist eine Ermessensentscheidung.
2. Betrifft der Anordnungsanspruch i. S. des § 114 Abs. 1 FGO eine Ermessensentscheidung der Verwaltung, so genügt zu seiner Glaubhaftmachung nicht der Hinweis allein, daß die begehrte Ermessensentscheidung rechtlich möglich ist.
2. Ist den Beteiligten der Tenor eines BFH-Beschlusses fernmündlich bekanntgegeben worden, so ist der Beschluß nicht mehr abänderbar; nachträgliches Vorbringen der Beteiligten vor Zustellung des Beschlusses kann daher nicht mehr berücksichtigt werden.
Normenkette
AO 1977 § 222; FGO § 114 Abs. 1, § 155; ZPO § 329 Abs. 3 S. 2
Tatbestand
Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin) unterhält seit Mitte 1976 Mineralölsteuerlager in X, Y und Z. Am 10. März 1977 beantragte sie, von der am selben Tag für Entnahmen aus dem Lager X fälligen Mineralölsteuer einen Betrag von 2 Mio. DM zu stunden und ihr zu gestatten, die Steuerforderung in 10 gleichen Monatsraten von je 200 000 DM, beginnend mit dem 10. April 1977, tilgen zu dürfen. Nachdem am 15., 22. und 24. März 1977 Gespräche zwischen den Beteiligten stattgefunden hatten, lehnte der Antragsgegner und Beschwerdegegner (HZA) die Stundung mit Verfügung vom 25. März 1977 ab. In der Verfügung heißt es, die Voraussetzungen des § 222 AO seien nicht gegeben. Außerdem könnte die vom HZA geforderte Sicherheit nach Angaben der Antragstellerin nicht geleistet werden. Das HZA führte am 25. März 1977 bei der Antragstellerin eine Sachprüfung durch, am 28. März 1977 auch Forderungspfändungen.
Die Antragstellerin legte gegen die die Stundung ablehnende Verfügung Beschwerde ein und stellte gleichzeitig beim FG den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung, durch die dem HZA aufgegeben werden sollte, bereits erfolgte Pfändungsmaßnahmen aufzuheben und weitere Pfändungsmaßnahmen zu unterlassen.
Das FG wies den Antrag ab. Es führte aus, es fehle an der Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs. Das HZA habe die Stundung zu Recht mit der Begründung abgelehnt, daß die Antragstellerin keine Sicherheit leisten könne.
Mit ihrer Beschwerde beantragt die Antragstellerin, unter Aufhebung der Vorentscheidung dem HZA aufzugeben, die bereits getroffenen Pfändungsmaßnahmen aufzuheben und weitere Pfändungsmaßnahmen zu unterlassen, sowie die einstweilige Stundung der Mineralölsteuerrestschuld von 2 Mio. DM zinslos und ohne Sicherheitsleistung anzuordnen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist nicht begründet.
Voraussetzung für eine einstweilige Anordnung nach § 114 FGO ist das Glaubhaftmachen eines Anordnungsanspruchs (§ 114 Abs. 3 FGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO). Im vorliegenden Fall ist im Hauptverfahren streitig, ob die Antragstellerin einen Anspruch auf Stundung der am 10. März 1977 fällig gewordenen Mineralölsteuer in Höhe von 2 Mio. DM hat. Das Vorliegen eines solchen Anspruchs hat die Antragstellerin nicht glaubhaft gemacht.
Nach § 222 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder teilweise stunden, wenn die Einziehung bei Fälligkeit eine erhebliche Härte für den Schuldner bedeuten würde und der Anspruch durch die Stundung nicht gefährdet erscheint; die Stundung soll in der Regel nur auf Antrag und gegen Sicherheitsleistung gewährt werden. Diese Bestimmung verbindet ein "Können" der Behörde mit unbestimmten Rechtsbegriffen. Für den vergleichbaren Fall des Billigkeitserweises nach § 131 AO a. F. hat der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes durch Beschluß vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70 (BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603) entschieden, daß entsprechende Entscheidungen der Verwaltung von den Gerichten nach den für die Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen geltenden Grundsätzen zu prüfen seien. Die Anwendung der Grundsätze dieser Entscheidung auf § 222 AO 1977 ergibt, daß auch diese Vorschrift als Ermessensbestimmung zu beurteilen ist (ebenso wie § 127 AO a. F., der fast wörtlich in § 222 AO 1977 eingegangen ist; vgl. Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 1. bis 6. Aufl., § 127 AO a. F., Anm. 8 bis 9).
In Rechtsprechung und Literatur werden verschiedene Auffassungen zur Frage geäußert, unter welchen Voraussetzungen der Erlaß einer einstweiligen Anordnung möglich ist, wenn der Anordnungsanspruch eine Ermessensentscheidung der Verwaltung betrifft. Hübschmann/Hepp/Spitaler (a. a. O., § 114 Anm. 19) und Eyermann/Fröhler (Verwaltungsgerichtsordnung, 7. Aufl., § 123 Anm. 14, beide jeweils mit weiteren Nachweisen) meinen, der Erlaß der begehrten einstweiligen Anordnung sei nur dann möglich, wenn das der Verwaltung eingeräumte Ermessen i. S. einer Ermessenseinengung nur in der Weise ermessensfehlerfrei ausgeübt werden könne, daß die begehrte Verwaltungsentscheidung erlassen wird. Nach Auffassung des FG Münster genügt es in einem solchen Fall, daß die rechtliche Möglichkeit einer für den Antragsteller günstigen Verwaltungsentscheidung dargelegt wird (vgl. Beschluß vom 22. Januar 1974 IV 2112/73 A, EFG 1974, 337). Tipke/Kruse (Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 114 FGO Anm. 11) sind der Auffassung, daß das über den Erlaß der beantragten einstweiligen Anordnung entscheidende Gericht bei der vorläufigen Regelung selbst Ermessen ausüben könne ("Interimsermessen"). Schließlich wird noch die Auffassung vertreten, daß die Darlegung und Glaubhaftmachung einer gewissen Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg im Rechtsbehelfsverfahren der Hauptsache genüge (Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 21. August 1961 V A 773/61, JZ 1962, 322; Entscheidungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. Oktober 1961 B II 56/61, ESVGH 12/97, und vom 4. Februar 1974 VI OG 123/73, Die Öffentliche Verwaltung 1974 S. 750; wohl auch Beschluß des BFH vom 22. September 1971 I B 26/71, BFHE 103, 390, BStBl II 1972, 83).
Der Senat teilt die vom FG Münster vertretene Auffassung (a. a. O.) nicht. Mit der Regelung des § 114 FGO ist es nicht vereinbar, als Voraussetzung für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung die Darlegung der Möglichkeit einer für den Antragsteller günstigen Verwaltungsentscheidung ausreichen zu lassen. Das käme praktisch dem Wegfall des Erfordernisses des Anordnungsanspruchs bei Ermessensentscheidungen der Verwaltung gleich (vgl. Beschluß des FG Hamburg vom 16. Juli 1974 I 59/74, EFG 1974, 583), was nicht Sinn und Zweck des § 114 FGO sein kann (vgl. auch § 920 ZPO). Im übrigen aber ist der Senat der Meinung, daß der vorliegende Fall keine Veranlassung bietet, die genannte Streitfrage zu entscheiden. Denn selbst wenn die für die Antragstellerin günstigste Auffassung zugrunde gelegt wird, kann das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs nicht als glaubhaft gemacht angesehen werden.
Aus den Darlegungen der Antragstellerin ergibt sich eindeutig eine erhebliche Gefährdung des Steueranspruchs i. S. des § 222 AO 1977. (Wird ausgeführt.)
Im übrigen fehlt es auch an einer Sicherheitsleistung der Antragstellerin in den Formen des § 241 AO 1977. Nach § 222 Satz 2 AO 1977 "soll" die Stundung "in der Regel" nur gegen Sicherheitsleistung gewährt werden. Daraus ergibt sich eine Wertung des Gesetzgebers dahin, daß bei der Abwägung zwischen dem Interesse des Steuergläubigers und jenem des Steuerschuldners hinsichtlich der Sicherheitsleistung im Regelfall dem Interesse des Steuergläubigers an der vollständigen Steuererhebung der Vorzug gebührt. Da das bereits für nicht gefährdete Steueransprüche gilt, muß es erst recht für solche Steueransprüche gelten, die wie der vorliegende erheblich gefährdet sind.
Nach der Beschlußfassung des Senats vom 5. Mai 1977 über die Beschwerde teilte der Vorsitzende des Senats den Tenor der Entscheidung dem Prozeßbevollmächtigten der Antragstellerin auf dessen Wunsch am 6. Mai 1977 fernmündlich mit; er wies dabei darauf hin, daß diese Mitteilung eine Änderung des Beschlusses aufgrund nachträglichen Parteivorbringens ausschlösse. Auch dem HZA wurde fernmündlich der Tenor des Beschlusses bekanntgegeben. Mit Schriftsatz vom 9. Mai 1977, eingegangen beim BFH am 11. Mai 1977, trug die Antragstellerin noch Weiteres mit der Bitte vor, es bei der Entscheidung zu berücksichtigen.
Es ist streitig, ob ein Beschluß schon dann unabänderlich ist, wenn er existent geworden ist (vgl. BGH-Beschluß vom 28. November 1973 VIII ZB 23/73, Versicherungsrecht 1974, 365; BGH-Beschluß vom 5. Februar 1954 IV ZB 3/54, BGHZ 12, 248, 252; Thomas/Putzo, Zivilprozeßordnung, 9. Aufl., § 329 Anm. 3; Baumbach/Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 35. Aufl., § 329 Anm. 4 A) oder erst dann, wenn er Wirksamkeit erlangt hat (vgl. Wieczorek, Zivilprozeßordnung und Nebengesetze, 2. Aufl., § 329 Anm. B I b 2). Diese Frage bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung. Denn durch die fernmündliche Bekanntgabe des Tenors der Entscheidung an die Parteien am 6. Mai 1977 ist der Beschluß nicht nur existent (Herausgabe aus dem inneren Geschäftsbereich des Gerichtes), sondern er ist darüber hinaus auch gegenüber den Parteien wirksam geworden.
Wirksam wird ein Beschluß mit der gesetzmäßigen Bekanntgabe (vgl. Thomas/Putzo, a. a. O.; Baumbach/Lauterbach, a. a. O.). Nach § 329 Abs. 3 Satz 2 in der bis 1. Juli 1977 geltenden Fassung (die sachlich übereinstimmt mit § 329 Abs. 2 und 3 ZPO n.F.) genügt es, wenn nichtverkündete Beschlüsse formlos mitgeteilt werden, falls die Entscheidung weder der sofortigen Beschwerde oder der befristeten Erinnerung nach § 577 Abs. 4 ZPO unterliegt noch einen Vollstreckungstitel gegen die Partei bildet, eine Terminsbestimmung enthält oder eine Frist in Lauf setzt. Diese Bestimmung ist im finanzgerichtlichen Verfahren nach § 155 FGO entsprechend anzuwenden (vgl. Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 8. Aufl., § 155 FGO Anm. 4, für die entsprechende Anwendung dieser Bestimmung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vgl. Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 116 Anm. 19; Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl., § 122 Anm. 2). Der vorliegende Beschluß ist eine letztinstanzliche Entscheidung, also nicht mehr angreifbar. Er setzt auch keine Fristen in Lauf und ist kein Vollstrekkungstitel. Sein Tenor darf daher nach § 155 FGO i. V. m. § 329 Abs. 3 Satz 2 ZPO formlos mitgeteilt werden. Zur formlosen Mitteilung zählt auch eine fernmündliche Mitteilung an die Beteiligten (vgl. BGH-Urteil vom 5. Juli 1954 IV ZR 69/54, BGHZ 14, 148, 152), wie das im vorliegenden Fall geschehen ist.
Da danach der vorliegende Beschluß am 6. Mai 1977 gegenüber den Parteien wirksam geworden ist, ist er nicht mehr abänderbar. Die Antragstellerin kann daher mit ihrem Vorbringen im Schriftsatz vom 9. Mai 1977 nicht mehr gehört werden.
Fundstellen
Haufe-Index 72073 |
BStBl II 1977, 587 |