Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahren nach inkorrekter Entscheidung des FG
Leitsatz (NV)
1. Macht ein Beteiligter nach Ergehen eines Hauptsachenerledigungsbeschlusses geltend, er habe die erforderliche Erledigungserklärung nicht abgegeben, so ist dieser Einwand als Begehren auf Fortsetzung des Verfahrens auszulegen und durch Urteil zu bescheiden.
2. Entscheidet das FG in diesem Fall nicht durch Urteil, sondern durch Beschluss, so dürfen die Beteiligten sowohl das Rechtsmittel einlegen, das gegen die gewählte Entscheidungsform zulässig wäre, als auch das Rechtsmittel, das gegen die richtige Entscheidungsform zulässig gewesen wäre.
3. Hat ein Beteiligter dem Gericht gegenüber durch Telefax erklärt, der Rechtsstreit sei nicht erledigt, und wird fünf Tage später ein bereits zuvor gefasster Hauptsachenerledigungsbeschluss an die Beteiligten versandt, so ist der Beschluss auch dann als verfahrensfehlerhaft aufzuheben, wenn das Gericht von dem Inhalt der per Fax übermittelten Erklärung keine Kenntnis genommen hatte.
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 138 Abs. 1
Verfahrensgang
FG München (Beschluss vom 30.10.2007; Aktenzeichen 9 K 2265/07) |
Tatbestand
I. In dem vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger), einem in eigener Sache tätigen Rechtsanwalt, betriebenen Klageverfahren u.a. gegen die Einkommensteuerbescheide 2001, 2002 und 2003 erließ der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) für das Jahr 2002 einen Abhilfebescheid, mit dem die Einkommensteuer auf 0 € festgesetzt wurde, und erklärte den Rechtsstreit in der Hauptsache insoweit für erledigt. Der Berichterstatter des Finanzgerichts (FG) bat daraufhin den Kläger, bis zum 29. Oktober 2007 mitzuteilen, ob er den Rechtsstreit ebenfalls für das Streitjahr 2002 in der Hauptsache für erledigt erkläre. Falls bis zum Ablauf dieser Frist keine Erklärung eingehe, werde das Gericht annehmen, dass auch der Kläger den Rechtsstreit insoweit in der Hauptsache als erledigt ansehe.
Durch Beschluss vom 30. Oktober 2007 trennte das FG das Verfahren für das Streitjahr 2002 ab und erlegte die Kosten des abgetrennten Verfahrens dem Kläger auf. Zur Begründung führte es unter anderem aus, die Beteiligten hätten den Rechtsstreit für das Streitjahr 2002 durch ein Schreiben des FA und entsprechendes schlüssiges Verhalten des Klägers in der Hauptsache für erledigt erklärt.
Am 31. Oktober 2007 ging beim FG ein Telefax des Klägers ein, in dem dieser der Erledigungserklärung des FA nicht zustimmte. Der angefochtene Bescheid sei von Anfang an nicht begründet gewesen und somit aufhebungsreif. Eine nachträgliche Erledigung sei nicht eingetreten.
Gleichwohl versandte das FG den Beschluss vom 30. Oktober 2007 am 5. November 2007 an die Beteiligten.
Gegen diesen Beschluss erhob der Kläger Gegenvorstellung, mit der er rügte, das FG sei zu Unrecht von einer Erledigung des Rechtsstreits ausgegangen; vielmehr habe der Kläger der Erledigungserklärung des FA ausdrücklich widersprochen. Zugleich legte der Kläger "höchstvorsorglich" Beschwerde ein.
Das FG wies durch einen weiteren Beschluss die Gegenvorstellung zurück. Es handele sich nicht um einen Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens, da die Gegenvorstellung von einem prozesskundigen Rechtsanwalt erhoben worden und damit einer Auslegung nicht zugänglich sei. Zum anderen würde eine Auslegung als Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens dem erkennbaren Willen des Klägers widersprechen. Im Streitfall sei von einer übereinstimmenden Erledigungserklärung auszugehen. Da bis zum Ablauf der gesetzten Frist keine Erklärung des Klägers eingegangen sei, habe das Gericht davon ausgehen können, dass der Kläger eine schlüssige Erledigungserklärung abgegeben habe. Die hilfsweise eingelegte Beschwerde des Klägers sei dem Bundesfinanzhof (BFH) vorzulegen.
Entscheidungsgründe
II. Auf die Beschwerde des Klägers ist der Beschluss des FG vom 30. Oktober 2007 aufzuheben, die Sache ist an das FG zur Fortsetzung des Verfahrens zurückzuverweisen.
1. Die Beschwerde des Klägers ist statthaft.
a) Macht der Beteiligte eines finanzgerichtlichen Verfahrens --wie im Streitfall der Kläger-- nach Ergehen eines Hauptsachenerledigungsbeschlusses nach Maßgabe des § 138 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geltend, er habe die für einen solchen Beschluss erforderliche Erledigungserklärung nicht abgegeben, so führt dieser Einwand zwar nicht zur Anfechtbarkeit der nach § 128 Abs. 4 FGO unanfechtbaren Kostenentscheidung. Er ist jedoch als Begehren auf Fortsetzung des Verfahrens --mit dem Ziel, das Fehlen übereinstimmender Erledigungserklärungen festzustellen und sodann eine Sachbescheidung des Klagebegehrens zu erreichen-- auszulegen und durch Urteil zu bescheiden (BFH-Beschluss vom 2. Dezember 1982 IV B 35/82, BFHE 137, 393, BStBl II 1983, 332; vgl. auch BFH-Urteil vom 30. März 2006 V R 12/04, BFHE 212, 411, BStBl II 2006, 542).
Entscheidet das FG nicht entsprechend den verfahrensrechtlichen Vorgaben durch Urteil, sondern durch Beschluss, so dürfen die Beteiligten nach ständiger Rechtsprechung nach dem Grundsatz der sog. Meistbegünstigung sowohl das Rechtsmittel einlegen, das gegen die gewählte Entscheidungsform zulässig wäre, als auch das Rechtsmittel, das gegen die richtige Entscheidungsform zulässig gewesen wäre (vgl. BFH-Beschluss vom 18. November 1966 III B 18/66, BFHE 87, 335, BStBl III 1967, 142; BFH-Urteil vom 12. August 1981 I B 72/80, BFHE 134, 216, BStBl II 1982, 128; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., vor § 115 Rz 4, m.w.N.).
b) Nach diesen Maßstäben ist die Beschwerde des Klägers jedenfalls als Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO statthaft.
Der Beschluss vom 30. Oktober 2007 ist eine so genannte inkorrekte Entscheidung, die in Form eines Urteils hätte ergehen müssen und deshalb nach den Vorschriften über die Nichtzulassungsbeschwerde (§ 115 FGO) angreifbar ist.
Im Zeitpunkt der Bekanntgabe des vorgenannten (am 5. November 2007 versandten) Beschlusses lag dem FG bereits das Telefax des Klägers vom 31. Oktober 2007 vor, mit dem dieser ausdrücklich der Erledigungserklärung des Beklagten nicht zugestimmt hatte. Darin lag zugleich ein Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens, so dass das FG das Klageverfahren hätte fortsetzen und durch Urteil abschließen müssen (vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 138 Rz 21). Stattdessen ist der Beschluss vom 30. Oktober 2007 versandt worden, in dem dargelegt war, dass der Rechtsstreit aufgrund schlüssigen Verhaltens des Klägers erledigt sei. Damit hatte das FG über die Frage, ob der Rechtsstreit erledigt war, durch Beschluss statt durch Urteil entschieden. Gegen die hier angebrachte Entscheidung durch Urteil wäre als Rechtsmittel die Nichtzulassungsbeschwerde gegeben gewesen. Mithin ist im Streitfall die Beschwerde des Klägers als Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO statthaft, was auch dem Rechtsschutzziel des Klägers entspricht.
2. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist auch begründet. Der angefochtene Beschluss des FG ist offensichtlich verfahrensfehlerhaft ergangen. Zum einen hat das FG durch Beschluss entschieden, obwohl es durch Urteil hätte entscheiden müssen. Außerdem hat es den Rechtsstreit für das Streitjahr 2002 als erledigt angesehen, obwohl der Kläger mit Telefax vom 31. Oktober 2007 der Erledigungserklärung des FA ausdrücklich widersprochen und den angefochtenen Steuerbescheid als "aufhebungsreif" bezeichnet hatte. Indem das FG gleichwohl den Beschluss vom 30. Oktober 2007 an die Beteiligten versandt hat, hat es gegen das Gebot verstoßen, die für die Auslegung bedeutsamen Begleitumstände zu erforschen und zutreffend zu würdigen (vgl. BFH-Urteile vom 19. Oktober 2001 V R 75/98, BFH/NV 2002, 547; vom 31. Juli 2002 X R 48/99, BFHE 200, 504, BStBl II 2003, 282).
Dieser Beurteilung steht nicht entgegen, dass der Kläger sich innerhalb der vom FG gesetzten Äußerungsfrist bis zum 29. Oktober 2007 nicht zur Frage der Erledigung des Rechtsstreits geäußert hatte. Diese Frist war keine Ausschlussfrist, die Präklusionswirkung hätte entfalten können. Im Zeitpunkt der Versendung des angefochtenen Beschlusses am 5. November 2007 lag das Telefax des Klägers, mit dem dieser der Erledigungserklärung des FA ausdrücklich widersprochen hatte, dem FG jedenfalls vor, so dass das FG diesen Beschluss nicht mehr hätte versenden dürfen. Wenn der Berichterstatter des FG vor der Versendung des angefochtenen Beschlusses keine Gelegenheit gehabt haben sollte, von dem Telefax des Klägers Kenntnis zu nehmen, würde dies zu keiner anderen Beurteilung führen. Organisatorische Unzulänglichkeiten im Geschäftsablauf dürfen nicht zulasten der Prozessbeteiligten gehen.
3. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG hinsichtlich der außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 143 Abs. 2 FGO. Gerichtskosten für das Beschwerdeverfahren werden gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 des Gerichtskostengesetzes nicht erhoben, da sie bei richtiger Behandlung der Beschwerde durch das FG nicht entstanden wären (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. April 1996 I B 6/96, BFH/NV 1996, 827, m.w.N.; vom 11. März 1999 X B 91/98, BFH/NV 1999, 1227).
Fundstellen
Haufe-Index 1961898 |
BFH/NV 2008, 815 |