Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussageverweigerungsrecht des Zeugen bei Möglichkeit strafrechtlicher Verfolgung
Leitsatz (NV)
1. Der Umstand, daß durch eine neue Aussage offengelegt wird, daß der Zeuge in einem anderen gerichtlichen Verfahren die Unwahrheit gesagt hat, begründet ein Aussageverweigerungsrecht des Zeugen.
2. Lassen sich Antworten zu einem Beweisthema trennen in solche, die eine Gefahr der Strafverfolgung für den Zeugen mit sich bringen, und solche, die den Zeugen einer solchen Gefahr nicht aussetzen, so entfällt das Aussageverweigerungsrecht im Fall der zweiten Alternative. Bei der Beurteilung der Trennbarkeit ist zu berücksichtigen, daß eine auch nur entfernte Möglichkeit der strafrechtlichen Verfolgung das Auskunftsverweigerungsrecht auslöst.
3. Besteht ein Auskunftsverweigerungsrecht, so braucht der Zeuge zum Termin der Beweisaufnahme nicht zu erscheinen. Er hat die Tatsachen, auf die er die Weigerung stützt, schriftlich anzugeben und glaubhaft zu machen. Nicht entscheidend ist, ob sich der Zeuge zu Recht auf die Auskunftsverweigerungsmöglichkeit berufen hat oder nicht.
Normenkette
FGO §§ 82, 84, 128; AO 1977 §§ 101-103; ZPO §§ 386-387
Tatbestand
Im Hauptsacheverfahren ist vor allem streitig, ob die Klage des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) gegen die Umsatzsteuerbescheide 1975 bis 1978 rechtzeitig erhoben worden ist. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt - FA -) wies die Einsprüche gegen die Umsatzsteuerbescheide ab. Die Einspruchsentscheidung wurde dem seinerzeitigen Bevollmächtigten des Klägers, Rechtsanwalt H, am 21. Juni 1985 zugestellt.
Beim FA ging am 22. August 1985 ein an das Finanzgericht (FG) ,,per Adresse" des FA gerichtetes Schreiben des H ein, das dieser unter dem 20. August 1985 geschrieben hatte und in dem u. a. folgendes ausgeführt ist:
,,In der Anlage übersende ich zum zweitenmal die von mir erhobenen Klagen vom 25. 6. 1985. Die auf mich lautende Vollmacht habe ich Ihnen bereits am 8. 7. 1985 überreicht.
. . .
Die Klagen richten sich, wie Sie aus den beigefügten Fotokopien ersehen, gegen
Einkommensteuerbescheide 1975-1981
. . .
Umsatzsteuerbescheide 1975-1978
. . ."
Dem Schreiben waren Kopien eines Schreibens vom 8. Juli 1985 sowie Vollmachten in Fotokopie und Kopien von auf den 25. Juni 1985 datierten Klageschriften in der Einkommensteuersache und gegen die Umsatzsteuerbescheide 1975 bis 1978 in Gestalt der Einspruchsentscheidung beigefügt.
Der II. Senat des FG wies die Klagen in der Einkommensteuersache u. a. wegen verspäteter Klageerhebung rechtskräftig als unzulässig ab. Er hatte H sowie dessen Sekretärin, Frau R, als Zeugen gehört. Diese hatten zur Sache bekundet:
H: . . .
R: ,,Ich bin Sekretärin des früheren Prozeßbevollmächtigten Rechtsanwalt H und habe auch in dem Rechtsstreit X die im Büro anfallenden Arbeiten erledigt.
Am 25. Juni 1985 nach 18.00 Uhr diktierte mir Rechtsanwalt H eine Klage in Sachen X ins Stenogramm und anschließend übertrug ich das Stenogramm in Langschrift. Rechtsanwalt H sagte mir, die Sache sei wichtig und eilig, und mir war bekannt, daß es im Einspruchsverfahren zu Unstimmigkeiten bei der Postbearbeitung im Finanzamt gekommen war. Darüber hat sich Rechtsanwalt H mit mir auch unterhalten. Als die Reinschrift fertig war, bestand Rechtsanwalt H darauf, daß ich ihn mit meinem Wagen zum Finanzamt fuhr, wo er gegen 22.00 Uhr den Umschlag mit dieser Klageschrift in den Postkasten am Eingang des Finanzamts einwarf. Ich habe dies mit eigenen Augen gesehen. Ich kann nicht näher begründen, wieso ich mich an das Datum 25. Juni 1985 so genau erinnere, aber ich bin mir vollständig sicher darin, daß sich die Vorgänge so abgespielt haben und gerade an diesem Tage, wie ich es eben geschildert habe. Ich kann heute nicht mehr mit Sicherheit sagen, welchen Bezug der Name X in meinem Terminkalender am 24. und 25. Juni 1985 hat. Ich notiere in diesem Buch in der Regel alle Vorgänge, die sich auf unsere Prozesse beziehen . . .
Ich habe mich auf die heutige Vernehmung vorbereitet, indem ich den Terminkalender und die Handakte durchgesehen habe. Ich bin mir in dem fraglichen Datum 25. Juni 1985 so sicher, weil dies nicht nur dem Terminkalender, sondern auch dem auf der Klageschrift aufgeführten Datum entspricht."
Der II. Senat des FG hatte seine Klageabweisung im wesentlichen darauf gestützt, daß die Darstellungen der Zeugen H und R nicht zuträfen.
Im vorliegenden Hauptsacheverfahren betreffend die Umsatzsteuer 1975 bis 1978 macht der Kläger geltend, die Beweisaufnahme müsse erneut durchgeführt werden; dabei seien die beiden Zeugen dezidierter als bisher zu befragen.
Der IV. Senat des FG, dessen Zwischenurteil hier angefochten ist, hat versucht, dem nachzukommen. Dabei hat sich ergeben, daß der Zeuge H nicht erreichbar ist; er ist auch in der Liste der Rechtsanwälte bei der zuständigen Anwaltskammer gelöscht.
Vor dem Verhandlungs- und Beweistermin des FG am 25. März 1987 (Beweisthema: ,,Behandlung der vom 25. Juni 1985 datierten Klageschrift") legte R am 23. März 1987 ein privatärztliches Attest vor, nach dem sie wegen eines Schlaganfalles nicht reise- und verhandlungsfähig sei.
Zum erneut anberaumten Termin auf den 30. September 1987 meldete sich für R Rechtsanwalt N mit Vollmacht. Er reichte einen Schriftsatz und beigefügt eine eidesstattliche Versicherung der R mit folgendem Wortlaut ein:
,,Eidesstattliche Versicherung
Hiermit versichere ich . . ., in Kenntnis der Bedeutung einer eidesstattlichen Versicherung sowie in dem Wissen, daß diese eidesstattliche Versicherung zur Vorlage bei Gericht dient, folgendes an Eides Statt:
,Ich habe die Ladung zum Verhandlungstermin vom 30. 9. 1987 . . . erhalten.
Ich bin sowohl vom Gericht als auch von meinem Rechtsanwalt darüber unterrichtet worden, daß ich unter Umständen ein Aussageverweigerungsrecht habe.
Ich möchte von diesem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen, und zwar
1. Ich berufe mich auf das Aussageverweigerungsrecht gemäß § 102 AO. Sämtliche Vorgänge, die ich in Zusammenhang mit dem vorliegenden Verfahren zur Kenntnis erhalten habe, unterliegen der beruflichen Schweigepflicht meines ehemaligen Arbeitgebers, Herrn Rechtsanwalt H.
2. Wenn ich den Gesamtsachverhalt in Zusammenhang mit dem Klageverfahren, insbesondere die Umstände der Klageeinreichung, dem Gericht schildern würde, würde ich mich unter Umständen selbst einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen. Ich mache daher insoweit ebenfalls von meinem diesbezüglichen Aussageverweigerungsrecht Gebrauch.
Ich erkläre, daß die Angaben vollständig und wahrheitsgemäß sind.
M, den 29. Sept. 1987
gez. . . .` "
Der Kläger vertrat danach vor dem FG die Auffassung, das Zeugnisverweigerungsrecht der R sei allenfalls beschränkt. Sie hätte deshalb dem Termin nicht fernbleiben dürfen und sei auch künftig verpflichtet zu erscheinen.
Das FG entschied hierauf durch Zwischenurteil, daß R ein Zeugnisverweigerungsrecht zustehe und daß sie nicht zum Termin habe erscheinen müssen. Es begründete seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt:
Nach § 386 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) habe der Zeuge, der das Zeugnis verweigere, vor dem Vernehmungstermin die Tatsachen anzugeben und glaubhaft zu machen, auf die er die Weigerung gründet. Wenn der Zeuge seine Weigerung schriftlich erkläre, sei er nach § 386 Abs. 3 ZPO nicht verpflichtet, zum Termin zu erscheinen. Diese Voraussetzungen seien gegeben. Denn die schriftliche Erklärung der Zeugin R habe vor dem Termin vorgelegen; die Erklärung sei aufgrund der eidesstattlichen Versicherung auch glaubhaft gemacht. Das Zeugnisverweigerungsrecht von R habe sich auf das gesamte Beweisthema bezogen. Die Freistellung vom Erscheinen gelte unabhängig davon, ob die Verweigerung im Ergebnis gerechtfertigt sei oder nicht.
Bei dem klaren, aber umfassend formulierten Beweisthema habe für R die Gefahr bestanden, daß sie sich strafrechtlicher Verfolgung aussetze, gleichgültig, ob sie ihre früheren Angaben wiederhole, widerrufe oder ändere.
Der Einwand des Klägers, anderweitige Fragen an R seien denkbar, sei unberechtigt. Eine Differenzierung müsse in bezug auf das Beweisthema möglich sein. Das sei hier aber nicht der Fall. Alle das Beweisthema betreffenden Fragen brächten für R die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung. Demgegenüber bleibe ohne Belang, daß etwa Fragen zur Person oder zu Einzelheiten des Dienstverhältnisses ohne eine entsprechende Gefahr von R beantwortet werden könnten. Denn derartige Fragen hätten mit dem Beweisthema nichts zu tun.
Mit der Beschwerde macht der Kläger geltend, das Aussageverweigerungsrecht entbinde nicht von der Pflicht zu erscheinen. Es sei auch kein generelles Verweigerungsrecht; vielmehr beschränke es sich nur auf solche Fragen, deren Beantwortung den Zeugen der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aussetzten. Habe ein Zeuge in einem anderen Verfahren die Unwahrheit gesagt, so begründe das kein Aussageverweigerungsrecht.
Im übrigen solle die Zeugin nicht über Tatsachen befragt werden, die sie der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aussetzten. Sie solle vielmehr dazu befragt werden, wieso sie sich an das Datum des 25. Juni 1985 so genau erinnert habe. Dies sei deshalb von Bedeutung, weil der II. Senat des FG in seinem Prozeßurteil die Überzeugung geäußert habe, daß R sich hinsichtlich dieses Datums geirrt habe.
Die anderen Verfahrensbeteiligten haben sich zur Beschwerde nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet.
1. Gegen ein Zwischenurteil des FG über die Rechtmäßigkeit der Weigerung eines Zeugen, Zeugnis abzulegen und dem Vernehmungstermin fernzubleiben, ist die Beschwerde gemäß § 128 der Finanzgerichtsordnung (FGO) statthaft (vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 14. Juli 1971 I R 9/71, BFHE 103, 121, BStBl II 1971, 808 unter I. 2.; BFH- Urteil vom 5. März 1974 I R 91/72, BFHE 111, 460, BStBl II 1974, 359 unter 1.).
2. Nach § 82 FGO sind, soweit die §§ 82 bis 89 FGO nicht abweichende Vorschriften enthalten, auf die Beweisaufnahme die §§ 358 bis 377, 380 bis 382, 386 bis 414 und 450 bis 494 ZPO sinngemäß anzuwenden. Demnach richtet sich im vorliegenden Verfahren das Zeugnisverweigerungsrecht der R nach § 84 FGO in Verbindung mit §§ 101 bis 103 der Abgabenordnung (AO 1977); das Verfahren ergibt sich hingegen aus den Vorschriften der §§ 386, 387 ZPO.
a) Frau R steht ein Aussageverweigerungsrecht zu.
Nach dem Beweisbeschluß des FG sollte Frau R als Zeugin zur ,,Behandlung der vom 25. Juni 1985 datierten Klageschrift" gehört werden. Mit den Angaben von R unter 2. ihrer eidesstattlichen Versicherung hat sie sich auf das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 84 FGO in Verbindung mit § 103 AO 1977 berufen. Danach kann ein Zeuge die Auskunft zu solchen Fragen verweigern, deren Beantwortung ihn der Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung aussetzen würde.
Das FG hat im Zwischenurteil zutreffend ausgeführt, daß sich bei dem weitgefaßten Beweisthema für R die Gefahr ergeben hätte, sich strafrechtlicher Verfolgung auszusetzen, und zwar sowohl wenn sie ihre frühere Aussage zum Beweisthema bestätigt als auch wenn sie diese geändert hätte. Hätte sie sie bestätigt, so hätte sie - wie es der II. Senat des FG in der Einkommensteuersache auch für gegeben erachtete - möglicherweise vor Gericht erneut die Unwahrheit gesagt. Hätte sie die Aussage geändert, hätte sie möglicherweise bestätigt, daß sie vor dem II. Senat des FG die Unwahrheit geäußert habe. Entgegen der Auffassung des Klägers in der Beschwerde begründet also auch der Umstand, daß durch eine neue Aussage offengelegt wird, daß in einem anderen gerichtlichen Verfahren die Unwahrheit gesagt wurde, ein Aussageverweigerungsrecht.
Soweit der Kläger meint, er wolle bei einer Zeugenanhörung von Frau R nur klären, wieso sie sich früher so genau an das Datum des 25. Juni 1985 erinnert habe, und eine Aussage von R hierzu könne sie nicht der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aussetzen, kann der Senat dem nicht folgen.
Lassen sich die Antworten zu einem Beweisthema trennen in solche, die eine Gefahr der Strafverfolgung für den Zeugen mit sich bringen, und in solche, die den Zeugen einer solcher Gefahr nicht aussetzen, so entfällt allerdings das Auskunftsverweigerungsrecht im Falle der zweiten Alternative (ebenso Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 103 AO 1977 Tz. 3). Eine derartige Trennbarkeit kann hier indessen hinsichtlich der Frage, weshalb sich die Zeugin R an das Datum des 25. Juni 1985 genau zu erinnern glaubt, nicht angenommen werden. Denn diese Frage steht in engem Zusammenhang mit der Frage der tatsächlichen Geschehnisse an diesem Tag und genau diese sollen Gegenstand der Beweisaufnahme sein.
Für diese Auffassung spricht nicht zuletzt, daß auch nur eine entfernte Möglichkeit der strafrechtlichen Verfolgung das Auskunftsverweigerungsrecht auslöst (so Tipke/Kruse, a. a. O.). Eine derartige Möglichkeit kann aber nicht ausgeschlossen werden, wenn sich die Zeugin zu der Frage äußern würde, weshalb sie sich gerade an das Datum des 25. Juni 1985 genau erinnern zu können glaubte.
b) Da Frau R also ein Auskunftsverweigerungsrecht zustand, brauchte sie zum Termin der Beweisaufnahme auch nicht zu erscheinen.
Nach § 386 Abs. 1 ZPO hat der Zeuge, der das Zeugnis verweigert, vor dem Vernehmungstermin u. a. schriftlich die Tatsachen, auf die er die Weigerung gründet, anzugeben und glaubhaft zu machen. Diese Voraussetzungen sind, wie das FG zutreffend ausgeführt hat, im vorliegenden Fall erfüllt. Dadurch wurde die Rechtsfolge des § 386 Abs. 3 ZPO ausgelöst, daß Frau R nämlich zum Vernehmungstermin nicht zu erscheinen brauchte. Denn das Weigerungsrecht von R umfaßte - wie zu 2. a) ausgeführt - die ganze Beweisfrage (vgl. hierzu Thomas/ Putzo, ZPO, Zivilprozeßordnung mit Nebengesetzen, 15. Aufl., § 386 Anm. 2; Zöller/Stephan, Zivilprozeßordnung, 15. Aufl., § 386 Anm. 2; Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 46. Aufl., § 386 Anm. 2).
Daß die Zeugin zu ihrer Person oder zu anderen Fragen Auskünfte hätte erteilen können, ohne eine Gefahr der Strafverfolgung heraufzubeschwören, ändert nichts an ihrem Recht, dem Termin fernzubleiben. Eine andere Auffassung, daß nämlich wegen anderer, außerhalb des Beweisthemas liegender Fragen eine Pflicht zum Erscheinen bestehe, würde § 386 Abs. 3 ZPO leerlaufen lassen. Dies kann indessen nicht angenommen werden.
Da die Freistellung vom Erscheinen im Termin unabhängig davon ist, ob die Auskunftsverweigerung sich im Ergebnis als gerechtfertigt erweist oder nicht (vgl. die zuletzt bezeichneten Kommentarstellen), ist im vorliegenden Verfahren auch nicht abschließend zu klären, ob sich R zu Recht auf die Auskunftsverweigerungsmöglichkeit berufen hat oder nicht.
3. Das Beschwerdeverfahren ist gebührenpflichtig (vgl. Zöller/Stephan, a. a. O., § 387 Anm. 9). Es bedarf deshalb im vorliegenden Verfahren - anders als im Verfahren des FG - einer Kostenentscheidung. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat gemäß § 135 Abs. 2 FGO der Kläger zu tragen.
Fundstellen
Haufe-Index 415729 |
BFH/NV 1989, 82 |