Entscheidungsstichwort (Thema)
Prozeßvollmacht: Verdacht des Mißbrauchs einer allgemeinen Vollmacht, Verpflichtung zur Anforderung einer neuen Vollmacht, Anwendbarkeit der BGH-Rechtsprechung zum Vertretungsmißbrauch, ungewöhnliche Prozeßführung, Umfang und Beschränkbarkeit einer Vollmacht
Leitsatz (amtlich)
Besteht für das Gericht erkennbar der Verdacht, daß ein Bevollmächtigter eine ihm erteilte, kein konkretes gerichtliches Verfahren benennende allgemeine Prozeßvollmacht in mißbräuchlicher Weise zum Nachteil des Vollmachtgebers (Klägers) verwendet haben könnte, so hat es die Vorlage einer neuen, vom Kläger selbst auf das konkrete Verfahren bezogenen Vollmacht zu verlangen. Der Verdacht eines Vollmachtsmißbrauchs kann sich aus einer besonders ungewöhnlichen, keinerlei Erfolg versprechenden Prozeßführung ergeben.
Orientierungssatz
1. Das Gericht muß berechtigten Zweifeln, ob sich eine Vollmacht auf ein konkretes Verfahren erstreckt, nachgehen und kann die Vorlage einer neuen Vollmacht verlangen (vgl. BFH-Rechtsprechung).
2. Eine Prozeßvollmacht umfaßt grundsätzlich alle in bezug auf einen bestimmten Rechtsstreit in Betracht kommenden Prozeßarten. Etwaige Beschränkungen im Innenverhältnis zwischen Steuerpflichtigem und Bevollmächtigtem sind --abgesehen von den Fällen des § 83 ZPO-- im Außenverhältnis ohne Wirkung. Eine nach § 83 ZPO wirksame Beschränkung der Vollmacht muß sich aus der Vollmachtsurkunde selbst ergeben.
3. Nach der BGH-Rechtsprechung zum Vertretungsmißbrauch im privatrechtlichen Rechtsverkehr ist der Vertretene gegen einen erkennbaren Mißbrauch der Vertretungsmacht im Verhältnis zum Vertragsgegner (im Außenverhältnis) dann geschützt, wenn der Vertreter von der Vollmacht in ersichtlich verdächtiger Weise Gebrauch macht, so daß beim Vertragsgegner begründete Zweifel entstehen müssen, ob nicht ein Treueverstoß des Vertreters gegenüber dem Vertretenen vorliegt. Die Grundsätze dieser Rechtsprechung sind auf den Mißbrauch einer allgemeinen, nur vom Bevollmächtigten auf das konkrete gerichtliche Verfahren bezogenen Prozeßvollmacht im finanzgerichtlichen Verfahren übertragbar.
4. Eine besonders ungewöhnliche, keinen Erfolg versprechende Prozeßführung liegt vor, wenn wegen der Weigerung des FA, über einen Einspruch zu entscheiden, Beschwerde und gegen die ablehnende Beschwerdeentscheidung Klage erhoben wird, um eine Verfahrensaussetzung auf Klageebene zu erreichen.
5. Parallelentscheidung: BFH, 17.9.1996, III B 111/95, NV.
Normenkette
FGO §§ 155, 62 Abs. 3; ZPO §§ 81, 83
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) erhob unter dem Datum des 16. September 1986 Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1985. Er war vertreten durch Wirtschaftsprüfer und Steuerberater A, der im Laufe des Einspruchsverfahrens u.a. vortrug, der Grundfreibetrag, die Kinderfreibeträge sowie die Ausbildungsfreibeträge seien aus verfassungsrechtlichen Gründen zu niedrig; auch die Beschränkung der Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen sei verfassungswidrig. Darüber hinaus sei der Bescheid fehlerhaft bekanntgegeben worden. Mit Schreiben vom 30. Juli 1990 beantragte der Kläger durch A den Erlaß einer "rechtsbehelfsfähigen Entscheidung". Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) teilte A im Schreiben vom 29. Januar 1991 mit, daß die beantragte Einspruchsentscheidung zur Zeit nicht ergehen könne, weil das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) durch Beschluß vom 12. Juni 1990 1 BvL 72/86 (BStBl II 1990, 664) den Kinderfreibetrag i.d.F. des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 vom 20. Dezember 1982 (BGBl I 1982, 1857) für verfassungswidrig erklärt habe und nicht absehbar sei, wie der Gesetzgeber den Kinderlastenausgleich regeln werde. Hiergegen legte der Kläger, vertreten durch A, Beschwerde ein. In der Beschwerdeschrift vertrat A die Auffassung, für das Streitjahr 1985 seien Kinderfreibeträge von jeweils 6 000 DM zu berücksichtigen. Die Oberfinanzdirektion (OFD) wies die Beschwerde des Klägers gegen das Schreiben vom 29. Januar 1991 zurück. Sie ließ offen, ob der Rechtsbehelf zulässig sei; jedenfalls sei er unbegründet, da eine Aussetzung des finanzamtlichen Verwaltungsverfahrens geboten sei.
Hiergegen richtete sich die Klage, die A während des gesamten Verfahrens nicht begründete. A legte eine auf ihn lautende undatierte umfassende Vollmacht vor, die ihn u.a zur Vertretung in den Steuerangelegenheiten des Klägers "vor allen Gerichten, Finanzämtern, Steuer- und sonstigen Behörden" ermächtigte. Das Finanzgericht (FG) verwarf die Klage als unzulässig, weil der Streitgegenstand trotz Aufforderung nicht konkretisiert worden sei. Es ließ die Revision zum Bundesfinanzhof (BFH) nicht zu.
Gegen die Nichtzulassung wendet sich der Kläger mit der Beschwerde, mit der er grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs.2 Nr.1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) sowie Verfahrensmängel (§ 115 Abs.2 Nr.3 FGO) geltend macht. Zusätzlich hat der Kläger gegen das Urteil Revision eingelegt (§ 116 FGO).
Der Vorsitzende des erkennenden Senats hat A mit Schreiben vom 19. Januar 1996 um Vorlage einer Prozeßvollmacht gebeten. A hat hierauf nicht reagiert.
Der Kläger beantragt, die Revision zuzulassen.
Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unzulässig.
1. Nach § 62 Abs.3 FGO ist die Bevollmächtigung für ein Verfahren vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit schriftlich nachzuweisen. Wird eine Vollmachtsurkunde nicht vorgelegt, so fehlt es an einer Prozeßvoraussetzung, und das eingelegte Rechtsmittel ist als unzulässig zu verwerfen (vgl. BFH-Urteil vom 15. Mai 1981 VI R 212/78, BFHE 133, 344, BStBl II 1981, 678). Das Gericht muß berechtigten Zweifeln, ob sich eine Vollmacht auf ein konkretes Verfahren erstreckt, nachgehen und kann die Vorlage einer neuen Vollmacht verlangen (Senatsurteil vom 15. März 1991 III R 112/89, BFHE 164, 210, BStBl II 1991, 726; BFH-Beschluß vom 7. März 1995 X R 195/93, BFH/NV 1995, 713).
2. Die im finanzgerichtlichen Verfahren eingereichte allgemeine Vollmacht reicht als Nachweis für eine Bevollmächtigung im vorliegenden Beschwerdeverfahren nicht aus. Zwar kann die dem FG vorgelegte Vollmacht grundsätzlich zur Prozeßführung vor den FG sowie vor dem BFH berechtigen (vgl. Senatsurteil in BFHE 164, 210, BStBl II 1991, 726). In dem vorliegenden Verfahren besteht indes für den Senat erkennbar der Verdacht, daß A die ihm vom Kläger erteilte Vollmacht in mißbräuchlicher Weise verwendet. Hiergegen ist der Kläger geschützt.
a) Gemäß § 81 der Zivilprozeßordnung (ZPO), der nach § 155 FGO im finanzgerichtlichen Verfahren sinngemäß gilt, ermächtigt die Prozeßvollmacht zu allen den Rechtsstreit betreffenden Prozeßhandlungen. Sie umfaßt grundsätzlich alle in bezug auf einen bestimmten Rechtsstreit (hier Einkommensteuer 1985) in Betracht kommenden Prozeßarten. Etwaige Beschränkungen im Innenverhältnis zwischen Steuerpflichtigem und Prozeßbevollmächtigtem sind --abgesehen von den Fällen des § 83 Abs.1 und 2 ZPO-- im Außenverhältnis ohne Wirkung. Eine nach § 83 ZPO wirksame Beschränkung der Vollmacht muß sich aus der Vollmachtsurkunde selbst ergeben. Dies ist hier nicht der Fall.
b) Jedoch braucht ein Steuerpflichtiger eine ihrem Wortlaut nach umfassende Prozeßvollmacht nicht gegen sich gelten zu lassen, wenn sie mißbräuchlich zu seinem Nachteil verwendet werden soll. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zum Vertretungsmißbrauch im privatrechtlichen Rechtsverkehr ist der Vertretene gegen einen erkennbaren Mißbrauch der Vertretungsmacht im Verhältnis zum Vertragsgegner (im Außenverhältnis) dann geschützt, wenn der Vertreter von der Vollmacht in ersichtlich verdächtiger Weise Gebrauch macht, so daß beim Vertragsgegner begründete Zweifel entstehen müssen, ob nicht ein Treueverstoß des Vertreters gegenüber dem Vertretenen vorliegt (vgl. BGH-Entscheidungen vom 28. Februar 1966 VII ZR 125/65, Wertpapier-Mitteilungen --WM-- 1966, 491; vom 25. März 1968 II ZR 208/64, BGHZ 50, 112; vom 10. Dezember 1980 VIII ZR 186/79, WM 1981, 66; vom 14. Mai 1986 VIa ZR 146/85, WM 1986, 1061). Im erwähnten Urteil in BGHZ 50, 112 hat der BGH ausgeführt, daß sich ein Dritter auf die Unbeschränkbarkeit der Vertretungsmacht eines Prokuristen dann nicht berufen kann, wenn der Vertreter bewußt zum Nachteil des Vertretenen gehandelt hat und dies dem Dritten in schuldhafter Weise nicht bekanntgeworden ist.
c) Die Grundsätze dieser Rechtsprechung sind auf den Mißbrauch einer allgemeinen, vom Kläger nicht selbst, sondern vom Prozeßbevollmächtigten auf das konkrete gerichtliche Verfahren bezogenen Prozeßvollmacht im finanzgerichtlichen Verfahren übertragbar (zur Übertragbarkeit auf das Verwaltungsprozeßrecht vgl. Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 10.Aufl., § 67 Rdnr.10). Ebenso wie eine Privatperson, die bei dem sich aufdrängenden Verdacht eines Vollmachtsmißbrauchs beim Vertretenen Rücksprache nehmen muß (vgl. BGH-Urteil in WM 1986, 1061), hat sich auch im Finanzgerichtsprozeß das Gericht in Verdachtsfällen über das Vertretungsverhältnis zu vergewissern. In derartigen Fällen gebietet es die prozessuale Fürsorgepflicht, die Vorlage einer neuen, vom Kläger selbst auf das konkrete gerichtliche Verfahren bezogenen Vollmacht zu verlangen.
3. Im Streitfall drängt sich der Verdacht eines Mißbrauchs der Prozeßvollmacht durch A und eines Handelns zum Nachteil des Klägers angesichts der besonders ungewöhnlichen und keinerlei Erfolg versprechenden Prozeßführung auf. Die Art der Prozeßführung könnte dafür sprechen, daß es A nicht mehr um die Interessen des Klägers, sondern nur noch um die Begründung eigener Gebührenforderungen geht. Der Senat kann offenlassen, ob dieser Eindruck berechtigt ist oder nicht. Wie oben dargelegt worden ist, ist schon dann eine neue, vom Kläger selbst auf das konkrete gerichtliche Verfahren bezogene Vollmacht zu verlangen, wenn begründete Zweifel bestehen, ob nicht ein Treueverstoß des Prozeßbevollmächtigten gegenüber seinem Mandanten vorliegt.
Folgende Gründe lassen im Streitfall die Prozeßführung als so ungewöhnlich erscheinen, daß sich die Frage aufdrängt, ob es A überhaupt noch um die Wahrnehmung der Interessen des Klägers geht.
a) Die Klage richtet sich gegen die Entscheidung der OFD, mit der diese die Beschwerde gegen das Schreiben des FA vom 29. Januar 1991 zurückgewiesen hat. Ziel des Rechtsbehelfs war es, das FA zu einer Einspruchsentscheidung zu veranlassen. Für den Senat ist nicht erkennbar, wie dieses Ziel durch die Klage gegen die Beschwerdeentscheidung erreicht werden könnte. Ebenso wie das FA durch einen außergerichtlichen Rechtsbehelf nicht zu einer Entscheidung über den Einspruch verpflichtet werden kann (§ 348 Nr.2 der Abgabenordnung --AO 1977--; zur Rechtslage vor 1996 vgl. § 349 Abs.2 Satz 2 AO 1977 a.F.), ist eine Klage auf Erlaß einer Einspruchsentscheidung unzulässig. Entscheidet das FA über einen Einspruch nicht oder lehnt es eine solche Entscheidung ausdrücklich ab, so ist dagegen nach § 46 Abs.1 FGO nur die Untätigkeitsklage unmittelbar gegen den angegriffenen Steuerbescheid gegeben. A hat die Klage im finanzgerichtlichen Verfahren im übrigen nicht einmal begründet. Eine sinnvolle Klagebegründung ist auch nicht denkbar.
b) Auch dann, wenn A in Wirklichkeit die Aussetzung des Einspruchsverfahrens angreifen wollte, die möglicherweise in der Mitteilung des FA oder in der Beschwerdeentscheidung zu sehen sein könnte, hätte sein Vorgehen keinen Sinn. Selbst wenn nämlich die Mitteilung des FA über die Nichtentscheidung des Einspruchs als Aussetzung des Einspruchsverfahrens anzusehen sein sollte, wäre dagegen der einzig mögliche Rechtsweg ebenfalls die Untätigkeitsklage (vgl. BFH-Urteil vom 16. Dezember 1987 I R 350/83, BFHE 152, 401, BStBl II 1988, 600). Das gilt unbeschadet einer etwaigen Mißbräuchlichkeit einer solchen Untätigkeitsklage im Streitfall (vgl. Senatsbeschluß vom 8. Mai 1992 III B 138/92, BFHE 167, 303, BStBl II 1992, 673). Denn durch die Erhebung einer Anfechtungsklage gegen die Aussetzungsverfügung würde eine solche Mißbräuchlichkeit nicht beseitigt, sondern allenfalls noch gesteigert.
c) Es handelt sich im Streitfall offenbar nicht um ein einzelnes, auf die Belange und den Willen des Klägers abgestimmtes Vorgehen des A. Dieser hat vielmehr massenhaft Untätigkeitsklagen für andere Steuerpflichtige erhoben mit dem alleinigen Ziel, eine Verfahrensaussetzung auf der Klageebene statt auf der Einspruchsebene zu erreichen. Die Verfolgung ausschließlich dieses Ziels durch eine Klage hat der Senat als mißbräuchlich angesehen (vgl. Senatsbeschluß in BFHE 167, 303, BStBl II 1992, 673). Wie sich aus den dem Senat vorliegenden Akten des Streitfalles und anderer Verfahren ergibt, geht A zur Erreichung desselben Ziels auch offenbar in breiter Front gegen Mitteilungen der FÄ vor, daß das Einspruchsverfahren wegen bereits getroffener Entscheidungen des BVerfG und ausstehender Folgerungen des Gesetzgebers daraus oder wegen anhängiger Musterverfahren vor dem BVerfG noch nicht entschieden werden könne. Auch die zwischenzeitliche Kenntnis von der genannten Rechtsprechung des Senats hält A nicht davon ab, diesen Weg weiter zu verfolgen.
Selbstverständlich ist der Kläger nicht gehindert, gerichtliche Verfahren zu betreiben, die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung unzulässig oder sogar mißbräuchlich sind, um diese Rechtsprechung erneut auf den Prüfstand zu stellen. In Fällen, in denen wie im Streitfall die Prozeßführung derartig ungewöhnlich und nach obigen Ausführungen (unter 3. a und b) auch völlig ungeeignet ist, das angestrebte Ziel zu erreichen, besteht aber besonderer Anlaß für die Prüfung durch den Senat, ob das von dem Prozeßbevollmächtigten angestrengte Verfahren wirklich auf einer Vollmacht des Klägers beruht.
4. Dem Verdacht, von der vorgelegten Vollmacht in mißbräuchlicher Weise Gebrauch zu machen, hätte A nur durch die Vorlage einer neuen, vom Kläger selbst auf das Verfahren bezogenen Vollmachtsurkunde begegnen können. A hat im vorliegenden Beschwerdeverfahren trotz Aufforderung keine auf ihn lautende Vollmacht eingereicht. Das Rechtsmittel ist nach den vorstehenden Grundsätzen als unzulässig zu verwerfen.
5. Die Kosten des Verfahrens sind dem als vollmachtlosen Vertreter aufgetretenen A aufzuerlegen (s. hierzu schon den Senatsbeschluß vom 19. April 1968 III B 85/67, BFHE 92, 173, BStBl II 1968, 473).
Fundstellen
Haufe-Index 65815 |
BFH/NV 1996, 379 |
BStBl II 1997, 75 |
BFHE 180, 520 |
BFHE 1997, 520 |
BB 1996, 2185 |
BB 1996, 2185-2186 (LT) |
DB 1996, 2164 (L) |
DStR 1996, 1809-1810 (KT) |
DStZ 1997, 421 (L) |
HFR 1996, 809-810 (L) |
StE 1996, 671 (K) |
StRK, R.104 (LT) |
Information StW 1996, 733 (KT) |
NJW 1997, 1029 |
NJW 1997, 1029-1030 (LT) |
BFH/NV BFH/R 1996, 379-380 (LT) |
SGb 1997, 423 (L) |