Entscheidungsstichwort (Thema)
Eigene Ermessensentscheidung des Beschwerdegerichts über Ort der Akteneinsicht
Leitsatz (NV)
1. Die Entscheidung über die Art und Weise von Akteneinsicht stellt keine prozessleitende Verfügung im Sinne des eine Beschwerde ausschließenden § 128 Abs. 2 FGO dar.
2. Die Entscheidung darüber, ob die Akteneinsicht an einem anderen Ort erfolgen soll, ist eine Ermessensentscheidung. Diese obliegt im Beschwerdeverfahren dem Beschwerdegericht, das als Tatsachengericht eigenes Ermessen auszuüben hat. Maßgebend sind die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung.
3. In dem Beschwerdeverfahren ist eine Zurückverweisung an das FG möglich.
4. Eine Kostenentscheidung ist in der Beschwerdeentscheidung nicht zu treffen.
Normenkette
FGO § 78 Abs. 1-2, § 128 Abs. 2, § 143 Abs. 1
Tatbestand
I. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) hat in den beim Finanzgericht (FG) anhängigen Verfahren wegen gesonderter und einheitlicher Feststellung von Grundlagen für die Einkommensbesteuerung 2001 und Gewerbesteuermessbetrags 2001 jeweils beantragt, ihm Einsicht in die Akten des Gerichts und die durch das Gericht beigezogenen Akten des Besteuerungsverfahrens durch Übersendung der Akten zu gewähren. Der Berichterstatter teilte daraufhin mit, es entspreche einer Übung des Senats, die Akten zur Gewährung von Akteneinsicht nicht in das Büro von Prozessbevollmächtigten zu versenden. Es bestehe jedoch u.a. die Möglichkeit, die Akten bei einem Gericht in der Nähe der Kanzlei einzusehen. Daraufhin erbat der Prozessbevollmächtigte eine Übersendung an das Amtsgericht X (im Folgenden: AG).
Die Gerichtsakten in beiden Verfahren wurden dementsprechend am 18. Januar 2007 an das AG versandt; der Prozessbevollmächtigte wurde zeitgleich darüber informiert. Am 14. Februar 2007 beantragte der Prozessbevollmächtigte, die Akten noch weitere vier Wochen beim AG zu belassen. Wegen Terminschwierigkeiten habe noch keine Akteneinsicht genommen werden können. Der Berichterstatter bat das AG daraufhin schriftlich, die Akten noch bis zum 9. März 2007 zur Einsichtnahme bereitzuhalten. Am 16. März 2007 beantragte der Prozessbevollmächtigte, die Akten an das Finanzamt X zur dortigen Einsichtnahme zu übersenden; wegen terminlicher Schwierigkeiten des Sachbearbeiters im Hause des Bevollmächtigten habe beim AG keine Akteneinsicht genommen werden können. Der Berichterstatter teilte dem Prozessbevollmächtigten daraufhin mit, die Akten würden unverändert bis letztmalig zum 30. März 2007 beim AG bereitgehalten, und bat zugleich das AG um Bereithaltung bis zu diesem Datum.
Unter dem 2. April 2007 vermerkte die Geschäftsstelle des FG, der Prozessbevollmächtigte habe die Steuerakten einsehen wollen; diese seien noch nicht bei Gericht, man habe sie angefordert. Am Folgetag teilte der Prozessbevollmächtigte schriftlich mit, am 30. März 2007 habe die Akteneinsicht stattfinden sollen. Dabei sei festgestellt worden, dass die angeforderten Akten gefehlt hätten. Die Akteneinsicht sei untauglich gewesen und erfülle nicht die Anforderungen des § 78 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Es werde Einsichtnahme in sämtliche vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) geführten Steuerakten beantragt. Später teilte das FA mit, wegen einer laufenden Betriebsprüfung seien die Akten derzeit nicht entbehrlich. Es sei beabsichtigt, die Prüfung Ende Juni 2007 abzuschließen. Daraufhin klärte der Berichterstatter mit dem FA telefonisch ab, dass die Akten nach vorheriger Terminabsprache beim FA eingesehen werden könnten und teilte dies dem Prozessbevollmächtigten am 4. Mai 2007 schriftlich mit.
Im Anschluss daran bat der Prozessbevollmächtigte am 10. Mai 2007 schriftlich um vollständige Akteneinsicht beim AG und nahm hierzu Bezug auf den Beschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 24. März 1981 VII B 64/80 (BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475). Am gleichen Tag gingen die an das AG übersandten Akten unter Hinweis darauf, dass Einsicht nicht genommen worden sei, wieder beim FG ein.
Am 24. Mai 2007 verfügte der Berichterstatter ein Schreiben an den Prozessbevollmächtigten, in dem es heißt:
"Nachdem der Prozessbevollmächtigte in einer Vielzahl von Verfahren Akteneinsicht beim Amtsgericht X hat nehmen wollen, dann die Akteneinsicht nicht binnen der üblichen Monatsfrist hat bewältigen können und die Steuerakten sich beim Beklagten befinden, der von X aus bequem in kurzer Zeit zu erreichen ist, können die Steuerakten unverändert dort eingesehen werden. Der Beklagte ist ebenso wie das Gericht in Y ansässig."
Außerdem wies der Berichterstatter darauf hin, das AG habe im Gegensatz zu dem Schreiben des Prozessbevollmächtigten mitgeteilt, dass dort keine Akteneinsicht genommen worden sei. Aus dem vom Prozessbevollmächtigten in Bezug genommenen Beschluss des BFH in BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475 ergebe sich keine Aussage zum Ort der Einsicht in die Steuerakten für den Fall, dass sich die Akten beim am Ort des FG ansässigen Beklagten befinden. Dem Beschluss sei darüber hinaus zu entnehmen, dass die Reise an den Ort des Gerichts zur Akteneinsicht generell zumutbar sei.
Gegen dieses zu beiden Verfahren ergangene Schreiben erhob der Prozessbevollmächtigte Beschwerde.
Er macht geltend, der Gesetzgeber habe mit § 78 FGO eine vollumfängliche Akteneinsicht geregelt, um rechtsstaatlichen Grundsätzen im Finanzprozess zu entsprechen. Im Vorverfahren werde regelmäßig unter Hinweis auf § 30 der Abgabenordnung eine Akteneinsicht abgelehnt. Wenn die rechtsstaatlich gebotene Akteneinsicht im Prozess verhindert werde, seien die verfassungsrechtlichen Grundsätze des rechtlichen Gehörs und das Gebot des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten massiv erschüttert. Es stelle sich bereits die Frage nach einer Richterablehnung. Ein solcher Antrag bleibe aber dem weiteren Verfahren vorbehalten.
Zum Ort der Akteneinsicht enthalte das Gesetz keine Regelung. Die Übersendung der Akten an ein anderes Gericht oder eine andere Behörde sei eine Ermessensentscheidung. Im Allgemeinen sei die Versendung der Akten an das dem Wohnsitz des Prozessbevollmächtigten am nächsten gelegene Gericht sachgerecht.
Das FG habe diese Grundsätze nicht hinreichend berücksichtigt. Die Klägerin brauche sich nicht auf ihren Sitz am Ort des Gerichts verweisen zu lassen, weil sie einen Prozessbevollmächtigten mit der Wahrnehmung ihrer Interessen beauftragt habe. Problematisch sei der Hinweis des Gerichts, dass der Prozessbevollmächtigte in anderen Verfahren Termine zur Akteneinsicht beim AG angeblich nicht wahrgenommen habe. Eine Akteneinsicht beim FG sei dem Prozessbevollmächtigten nicht möglich, weil er zwischen drei Praxisstandorten pendele. Tatsächlich habe sich der Prozessbevollmächtigte zur Akteneinsicht in das AG begeben, dort aber das Fehlen der Steuerakten festgestellt. Auf eine Einsicht in die Gerichtsakten habe er verzichtet. Werde ein Antrag auf Akteneinsicht zu Unrecht abgelehnt, beruhe das Urteil aber dennoch auf dem Inhalt der vorliegenden Akten, sei ein absoluter Revisionsgrund gegeben.
Eine Erschwernis der Akteneinsicht bei einem örtlich weit entfernten FG sei als unzulässig zurückzuweisen. Die anhängigen Klageverfahren würden an dem Standort der überörtlichen Sozietät in Z bearbeitet. Es biete sich deshalb an, die Akten an das in der Nähe der Praxis in Z gelegene Amtsgericht Z zu überstellen. Dieses habe auch keine Bedenken, die Amtshilfe zu leisten - anders als die Amtsgerichte D und X, die sich stets durch die Amtshilfe belästigt und überfordert fühlten. Diese Einwände seien aber bedeutungslos, denn § 78 FGO habe als Bestandteil des rechtlichen Gehörs Verfassungsrang. Eine Akteneinsicht bei der Finanzbehörde scheide grundsätzlich aus, weil der Umfang der vorzulegenden Akten vom FG zu überwachen sei.
Der Senat des FG hat den Beschwerden nicht abgeholfen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, ihrem Prozessbevollmächtigten Einsicht in die Akten des Besteuerungsverfahrens durch Übersendung an das Amtsgericht Z zu gewähren.
Das FA hat keine Anträge gestellt und von Stellungnahmen jeweils abgesehen.
Entscheidungsgründe
II. Der Senat verbindet die Verfahren IV B 100/07 und 101/07 gemäß §§ 121, 73 Abs. 1 Satz 1 FGO zur gemeinsamen Entscheidung.
Die Beschwerden sind begründet. Sie führen zur Aufhebung der angefochtenen Verfügungen vom 24. Mai 2007 und zur Zurückverweisung der Verfahren an das FG zur erneuten Bescheidung der Anträge auf Akteneinsicht.
1. Die Beschwerden sind statthaft. Die Entscheidung über die Art und Weise von Akteneinsicht stellt keine prozessleitende Verfügung im Sinne des eine Beschwerde ausschließenden § 128 Abs. 2 FGO dar (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 5. Februar 2003 V B 239/02, BFH/NV 2003, 800, m.w.N.).
2. Die Beschwerden sind auch begründet.
a) Nach § 78 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 FGO können die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen und sich durch die Geschäftsstelle auf ihre Kosten Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften erteilen lassen. Die Akteneinsicht erfolgt demnach regelmäßig bei der Geschäftsstelle des FG, kann aber auch an einem anderen Ort erfolgen.
Die Entscheidung darüber, ob die Akteneinsicht an einem anderen Ort erfolgen soll, ist eine Ermessensentscheidung. Diese obliegt im Beschwerdeverfahren dem Beschwerdegericht, das als Tatsachengericht eigenes Ermessen auszuüben hat (BFH-Beschlüsse in BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475, und vom 22. April 1997 X B 62/97, BFH/NV 1997, 787, m.w.N.). Denn im Beschwerdeverfahren beschränkt sich die Aufgabe des BFH nicht darauf, die Entscheidung der Vorinstanz auf ihre Richtigkeit zu kontrollieren. Vielmehr ist das Begehren erneut in jeder Hinsicht zu prüfen und dabei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung zugrunde zu legen (BFH-Beschluss vom 18. August 1987 VII B 97/87, BFH/NV 1988, 374). Das Beschwerdegericht hat ggf. auch eigene Tatsachenfeststellungen zu treffen (BFH-Beschluss vom 2. März 1988 I B 58/87, BFH/NV 1989, 460; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 132 FGO Rz 14).
Für die Ausübung des Ermessens lässt sich aus § 78 FGO die gesetzgeberische Grundentscheidung entnehmen, dass den Beteiligten und ihren Prozessbevollmächtigten grundsätzlich zugemutet wird, sich zur Ausübung ihres Rechts auf Akteneinsicht an den Ort des Gerichtssitzes zu begeben. Allerdings beurteilt der BFH im Regelfall eine Übersendung der Akten an das dem Wohnsitz bzw. Kanzleisitz nächstgelegene Finanzamt bzw. Gericht als sachgerecht, wenn der zur Akteneinsicht Berechtigte nicht am Sitz des Gerichts wohnt bzw. seine Kanzlei unterhält. Die Ablehnung des Versands ist aber z.B. dann nicht ermessensfehlerhaft, wenn die Akten bei Gericht benötigt werden oder bei bevorstehender mündlicher Verhandlung eine rechtzeitige Rücksendung der Akten nicht gewährleistet ist (BFH-Beschluss vom 30. November 1992 X B 18/92, BFH/NV 1993, 732).
b) Bezogen auf den Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung des FG betrachtet der beschließende Senat nach den Umständen des Streitfalls die vom FG angebotene Einsichtnahme in die Akten des Besteuerungsverfahrens bei dem FA als ermessensgerecht. Das FG konnte und musste bei seiner Entscheidung berücksichtigen, dass die Akten für den Fortgang der Betriebsprüfung bei dem FA benötigt wurden. Da das FA seinen Sitz am gleichen Ort wie das Gericht hat, erscheint es auch nicht sinnvoll, die Akten zunächst zum Gericht und später wieder zurück zum FA transportieren zu lassen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass es der Prozessbevollmächtigte im Verlauf des Verfahrens an terminlicher Zuverlässigkeit hat fehlen lassen.
c) Bezogen auf den nunmehr aber maßgeblichen Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung ist allerdings davon auszugehen, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse geändert haben. Eine Rückfrage der Geschäftsstelle des beschließenden Senats beim FA hat ergeben, dass die Akten (des Besteuerungsverfahrens) sich jetzt dort befinden und zur Übersendung zur Verfügung stehen. Das FG könnte diese Akten deshalb nun zu den Gerichtsakten anfordern und anschließend zur Akteneinsicht durch den Prozessbevollmächtigten der Klägerin innerhalb einer angemessenen Frist an das seiner Kanzlei am nächsten liegende Amtsgericht übersenden.
d) Der Senat hält es für sachdienlich, das Verfahren an das FG zurückzuverweisen, damit dieses die für die Gewährung der Akteneinsicht erforderlichen Maßnahmen im Einzelnen trifft. Auch im Beschwerdeverfahren ist eine Zurückverweisung an das FG möglich (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 15. Februar 1967 IV B 18/66, BFHE 87, 502, BStBl III 1967, 181, und vom 22. November 2001 V B 124/01, BFH/NV 2002, 549). Sie ist hier sachdienlich, weil einerseits die Bestimmung des Gerichts, bei dem die Akten eingesehen werden können, von dem ortsnäheren FG besser getroffen werden kann. Andererseits hängt die für die Akteneinsicht zu gewährende Frist auch davon ab, wie lange die Akten im Hinblick auf die Geschäftslage des zuständigen Senats im Gericht entbehrt werden können. Bei seiner Entscheidung über den Ort der Akteneinsicht wird das FG auch zu berücksichtigen haben, ob zu besorgen ist, dass Akteneinsicht auch tatsächlich innerhalb der gesetzten Frist genommen wird. Sollten die aus dem bisherigen Verfahrensablauf folgenden Bedenken fortbestehen, kann es ermessensgerecht sein, Akteneinsicht nur im FG zu gewähren.
3. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen. Das Verfahren über die Gewährung von Akteneinsicht ist ein unselbständiges Nebenverfahren. Wird erfolgreich Beschwerde eingelegt, gehen die Kosten in die Gesamtkosten des Hauptverfahrens ein, über die nach § 143 Abs. 1 FGO in der verfahrensabschließenden Entscheidung zu befinden ist (BFH-Beschluss vom 29. April 1988 IX B 152/86, BFH/NV 1989, 173, insoweit nicht veröffentlicht).
Fundstellen