Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufheben des Ruhens des Verfahrens; keine Aussetzung des Verfahrens bei Musterverfahren am BFH und aussichtslosen Billigkeitsverfahren
Leitsatz (NV)
- Das FG ist verpflichtet, einen Beschluss, mit dem es das Ruhen des Verfahrens nach § 251 ZPO angeordnet hatte, aufzuheben, wenn dies ein Beteiligter beantragt und der Grund für das Ruhen des Verfahrens weggefallen ist (BFH-Beschluss vom 5. Juli 1995 X B 228/92, BFH/NV 1996, 148).
- Das FG ist nicht verpflichtet, das Verfahren nach § 74 FGO auszusetzen, wenn ein Musterverfahren beim BFH anhängig ist (Anschluss an BFH-Urteil vom 6. Oktober 1995 III R 52/90, BFHE 178, 559, BStBl II 1996, 20).
- Eine Pflicht zur Aussetzung des Verfahrens besteht auch dann nicht, wenn der Kläger beim FA einen noch nicht verbeschiedenen Antrag auf Billigkeitsmaßnahme gestellt hat, dieser aber offensichtlich aussichtslos ist.
Normenkette
AO 1977 §§ 163, 227; FGO § 74; ZPO § 251
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) erzielte im Streitjahr 1991 ausschließlich Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) erließ am 5. Januar 1993 für 1991 einen Einkommensteuerbescheid, den er im Hinblick auf anhängige Verfassungsbeschwerden bzw. Revisionen hinsichtlich der Höhe des Grundfreibetrages, der Festsetzung des Solidaritätszuschlages, der beschränkt abzugsfähigen Vorsorgeaufwendungen, des Arbeitnehmerpauschbetrages, des Höchstbetrages der außergewöhnlichen Belastungen bei Haushaltshilfen bzw. Heimunterbringung, der Höhe der zumutbaren Belastung und der Nichtabziehbarkeit privater Schuldzinsen für vorläufig erklärte. Den hiergegen eingelegten Einspruch verwarf das FA mangels Rechtsschutzinteresses.
Mit der hiergegen erhobenen Klage begehrte der Kläger, u.a. die Vorsorgeaufwendungen ungekürzt zu berücksichtigen sowie die Festsetzung des Solidaritätszuschlags aufzuheben. Zugleich erklärte er sich im Hinblick auf einschlägige Musterverfahren mit dem Ruhen des Verfahrens einverstanden. Nachdem auch das FA dem Ruhen zugestimmt hatte, beschloss das Finanzgericht (FG) am 30. Juni 1993, das Verfahren ruhen zu lassen.
Mit Schriftsatz vom 6. Februar 2001 beantragte das FA, das Verfahren wieder aufzunehmen. Über die Verfassungsmäßigkeit des Grundfreibetrages, des Arbeitnehmerfreibetrages, des Höchstbetrages für Vorsorgeaufwendungen sowie des Solidaritätszuschlages sei mittlerweile entschieden. Dem widersprach der Kläger unter Hinweis auf die beim Bundesfinanzhof (BFH) anhängigen Verfahren XI R 61/00 (Vorsorgeaufwendungen 1993 und 1994), XI R 41/99 (Existenzminimum unter Einbeziehung der Vorsorgeaufwendungen 1987) und VI R 167/90 (Grundfreibetrag 1986). Das FA sei nach § 363 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zur "Zwangsruhe" verpflichtet. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe ferner den BFH verpflichtet zu prüfen, ob nicht die Billigkeitsregelungen der §§ 163, 227 AO 1977 es ermöglichten, auch bei einer befristeten Weitergeltung einer für verfassungswidrig erkannten Norm eine verfassungskonforme Besteuerung im Einzelfall durchzuführen. Diese an den BFH zurückverwiesenen Verfahren seien bis heute noch nicht abgeschlossen. Auch gelte eine befristete Weitergeltungsanordnung nur in den in § 31 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 13 Nr. 8 a des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) genannten Fällen. Die Weitergeltungsanordnung betreffe nur den entschiedenen Fall (BFH-Urteil vom 11. August 1999 XI R 77/97, BFHE 189, 413, BStBl II 1999, 771). Er begehre eine Billigkeitsmaßnahme nach §§ 163, 227 AO 1977 vor Abschluss des Einkommensteuerfestsetzungsverfahrens.
Am 4. Juli 2001 beschloss das FG, den Beschluss über das Ruhen des Verfahrens vom 30. Juni 1993 aufzuheben und das Verfahren wieder aufzunehmen. Mit dem Antrag des FA, das Verfahren wieder aufzunehmen, seien die Voraussetzungen für das Ruhen des Verfahrens entfallen. Nachdem das BVerfG die Begrenzung des Sonderausgabenabzugs nach § 10 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG), die Aufhebung des Arbeitnehmer- und des Weihnachtsfreibetrages und die Erhebung des Solidaritätszuschlages für verfassungsgemäß erachtet habe (BVerfG-Beschlüsse vom 20. August 1997 1 BvR 1523/88, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ―HFR― 1998, 397; vom 10. April 1997 2 BvL 77/92, BStBl II 1997, 518; vom 12. Juni 1995 2 BvR 762/93, Steuer-Eildienst ―StEd― 1995, 438), bestehe kein Grund für ein weiteres Ruhen des Verfahrens. Die vom Kläger bezeichneten und beim BFH anhängigen Verfahren rechtfertigten ein weiteres Ruhen nicht, da diese nicht die Streitjahre beträfen.
Mit seiner Beschwerde begehrt der Kläger, das Verfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss der Musterverfahren vor dem BFH XI R 41/99, XI R 17/00 und IV R 90/99 weiter ruhen zu lassen. Diese Verfahren seien vorgreiflich, auch wenn sie andere Streitjahre beträfen.
Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Während des Beschwerdeverfahrens erließ das FA für das Streitjahr einen Einkommensteuerbescheid, indem es den Bescheid im Hinblick auf die beim BFH noch anhängigen Revisionsverfahren wegen der Verfassungsmäßigkeit der Abzugsbeschränkung für Vorsorgeaufwendungen "ebenfalls" nach § 165 AO 1977 für vorläufig und im Übrigen für endgültig erklärte.
Daraufhin beantragte der Kläger, seine Vorsorgeleistungen in der nachgewiesenen Höhe von der Bemessungsgrundlage abzusetzen und die Einkommensteuer entsprechend zu mindern, hilfsweise, die Kürzung des Vorwegabzugs rückgängig zu machen. Aus der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. Juni 2000 B 4 RA 57/98 R (BSGE 86, 262) ergebe sich, dass der sog. Arbeitgeberanteil zur gesetzlichen Sozialversicherung mangels eines individualisierbaren rechtlichen Anspruchs oder wirtschaftlichen Vorteils des Arbeitnehmers aufgrund einer originären Schuld des Arbeitgebers geleistet werde. Es bestehe daher kein Raum für eine Steuerbefreiung von Arbeitslohn gemäß § 3 Nr. 62 EStG und damit für eine Kürzung des Vorwegabzugs gemäß § 10 Abs. 3 Nr. 1 Satz 2 i.V.m. § 3 Nr. 62 EStG. Da der Gesamtbetrag zur Sozialversicherung allein vom Arbeitgeber geschuldet werde, müsse auch der Arbeitnehmeranteil in voller Höhe abgesetzt werden.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist als unbegründet zurückzuweisen. Das FG hat zu Recht das Verfahren wieder aufgenommen.
1. Der Beschluss, das Verfahren ruhen zu lassen, war nach § 155 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 251 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) a.F. wieder aufzuheben, nachdem das FA dies beantragt hatte (BFH-Beschluss vom 5. Juli 1995 X B 228/92, BFH/NV 1996, 148). Der Einwand des Klägers, ein weiteres Ruhen des Verfahrens würde nach § 236 i.V.m. § 238 AO 1977 zu höheren Prozesszinsen führen, ist für die Frage der Aufhebung des das Ruhen anordnenden Beschlusses unerheblich (vgl. auch BFH-Beschluss vom 9. August 1994 X B 26/94, BFHE 174, 498, BStBl II 1994, 803, m.w.N.).
2. Das FG war auch nicht von Amts wegen verpflichtet, das Verfahren nach § 74 FGO auszusetzen.
Da die Voraussetzungen für ein Ruhen des Verfahrens nach § 251 ZPO mit dem Antrag des FA auf Wiederaufnahme des Verfahrens eindeutig nicht mehr vorlagen, war der Antrag des Klägers, das Verfahren im Hinblick auf die beim BFH anhängigen Verfahren XI R 41/99, XI R 17/00 und IV R 90/99 "ruhen" zu lassen, als Begehren auf Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO zu verstehen. Diesem hat das FG zu Recht nicht entsprochen.
Das Gericht kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen ist (§ 74 FGO). Die Aussetzung des Verfahrens ist grundsätzlich eine Ermessensentscheidung, bei der insbesondere prozessökonomische Gesichtspunkte und die Interessen der Beteiligten abzuwägen sind (vgl. z.B. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, § 74 Rdnr. 7, 11; BFH-Beschluss vom 31. Juli 1997 IX B 13/97, BFH/NV 1998, 201).
Danach besteht eine Pflicht zur Aussetzung des Verfahrens, wenn vor dem BVerfG bereits ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, bei den FG zahlreiche Parallelverfahren anhängig sind (Massenverfahren) und keiner der Beteiligten des Klageverfahrens ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat (z.B. BFH-Beschluss vom 7. Februar 1992 III B 24, 25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408; Tipke/ Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 74 FGO Tz. 17, m.w.N.). Keine Pflicht zur Aussetzung des Verfahrens besteht, wenn ein Musterverfahren nicht beim BVerfG, sondern beim BFH anhängig ist (BFH-Urteil vom 6. Oktober 1995 III R 52/90, BFHE 178, 559, BStBl II 1996, 20, m.w.N.; a.A. Tipke/Kruse, a.a.O., § 74 FGO Tz. 21). Die vom Kläger zitierten Musterverfahren XI R 41/99, XI R 17/00 und IV R 90/99 (jetzt XI R 64/99) sind nicht beim BVerfG, sondern beim BFH anhängig. Im Übrigen betreffen sie die Verfassungsmäßigkeit der Höchstbeträge (§ 10 Abs. 3 EStG) bei selbständig tätigen Steuerpflichtigen. Der Kläger erzielte im Streitjahr aber Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit.
Das Klageverfahren war auch nicht im Hinblick auf den während des Verfahrens gestellten Antrag des Klägers auf Billigkeitsmaßnahmen nach §§ 163, 227 AO 1977 auszusetzen. Zwar ist im Allgemeinen eine Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO geboten, wenn das Verfahren einen Folgebescheid betrifft und der Grundlagenbescheid noch aussteht. Ob im Verhältnis Steuerfestsetzungs- und Billigkeitsverfahren eine Verpflichtung zur Aussetzung des Verfahrens besteht, ist noch nicht abschließend geklärt (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 8. September 1993 I R 30/93, BFHE 172, 304, BStBl II 1994, 81, und BFH-Beschluss in BFH/NV 1998, 201; vgl. auch z.B. BFH-Beschluss vom 3. August 2000 III B 179/96, BFHE 192, 255, BStBl II 2001, 33; Gräber/Koch, a.a.O., § 74 Rdnr. 12, m.w.N.). Eine Pflicht zur Aussetzung des Verfahrens besteht aber jedenfalls dann nicht, wenn das Begehren einer abweichenden Festsetzung der Steuer nach § 163 AO 1977 wie im Streitfall offenkundig aussichtslos ist.
Der Kläger stützt seinen Antrag auf Billigkeitsmaßnahmen auf den Beschluss des 2. Senats des BVerfG vom 10. November 1998 2 BvL 42/93 (BStBl II 1999, 174), wonach bei einer für verfassungswidrig erkannten und als solche befristet weitergeltenden Norm der BFH zu prüfen hat, ob auch ohne gesetzliche Änderung entsprechend dem Grundgedanken der §§ 163, 227 AO 1977 die Steuer (teilweise) zu erlassen ist (vgl. BVerfG in BStBl II 1999, 174, unter C. III.; Beschlüsse des 2. Senats des BVerfG vom 10. November 1998 2 BvR 1057/91, 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91 (BStBl II 1999, 182, unter D. III., und 2 BvR 1220/93, BStBl II 1999, 193, unter B. II.). Diese Entscheidung betrifft die steuerliche Berücksichtigung von Aufwendungen für Kinder. Nach Aktenlage sind bei der Veranlagung des Klägers jedoch keine Kinder zu berücksichtigen (vgl. im Übrigen auch BFH-Beschluss vom 21. September 2000 VI B 163/00, BFH/NV 2001, 311). Für das steuerlich freizustellende Existenzminimum hatte das BVerfG die Fortgeltung bis einschließlich Veranlagungszeitraum 1995 ohne Prüfung von Billigkeitsmaßnahmen angeordnet (Beschluss des 2. Senats des BVerfG vom 25. September 1992 2 BvL 5/91 u.a., BStBl II 1993, 413).
3. Da im Beschwerdeverfahren nur über die Wiederaufnahme des Verfahrens zu entscheiden ist, gehen der Hinweis des Klägers auf die Entscheidung des BSG in BSGE 86, 262 wie auch die Sachanträge in diesem Verfahren ins Leere.
4. Eine Kostenentscheidung ist in diesem unselbständigen Zwischenverfahren nicht zu treffen (BFH-Beschluss in BFH/NV 1998, 201).
Fundstellen
Haufe-Index 872335 |
BFH/NV 2003, 189 |