Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld bei Kindesentziehung
Leitsatz (amtlich)
Bei der im Prozeßkostenhilfeverfahren gebotenen summarischen Prüfung besteht für eine Klage, mit der der sorgeberechtigte Elternteil Kindergeld für ein Kind beansprucht, das ihm der andere Elternteil widerrechtlich entzogen hat, hinreichende Erfolgsaussicht.
Normenkette
EStG § 64 Abs. 2, § 62 Abs. 1, § 32 Abs. 3; FGO § 142; ZPO § 117
Verfahrensgang
FG Düsseldorf (Dok.-Nr. 0550579; EFG 1999, 392) |
Tatbestand
Die 1993 geborene Tochter des Antragstellers und Beschwerdeführers (Antragsteller) lebte vom Februar 1996 bis November 1996 in dessen Haushalt. Der Antragsteller bezog für sie seit März 1996 Kindergeld. Am 1. Dezember 1996 entzog ihm seine geschiedene Ehefrau (Kindesmutter) die Tochter. Sie hält sich seitdem mit dem Kind verborgen. Die Familienkasse hat die Kindergeldfestsetzung gegenüber der Kindesmutter aufgehoben. Das Amtsgericht hat dem Antragsteller das alleinige Sorgerecht für die Tochter zugesprochen und angeordnet, daß die Kindesmutter das Kind an den Antragsteller herauszugeben hat. Gegen die Kindesmutter ist ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Entziehung Minderjähriger eingeleitet worden.
Mit Bescheid vom 2. März 1998 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung gegenüber dem Antragsteller rückwirkend zum 1. Januar 1997 mit der Begründung auf, daß sich seine Tochter nicht mehr in seinem Haushalt befinde, ihr Aufenthalt nicht bekannt und sie deshalb als vermißt zu behandeln sei; zugleich forderte die Familienkasse das ab 1997 gezahlte Kindergeld zurück. Hiergegen hat der Antragsteller nach erfolglosem Einspruch Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist.
Den Antrag auf Prozeßkostenhilfe (PKH) für das Klageverfahren hat das Finanzgericht (FG) mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999,392 veröffentlichten Beschluß mangels Erfolgsaussicht abgelehnt. Nach § 64 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) werde für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten, insbesondere bei geschiedenen Eltern, erhalte nur derjenige Elternteil das Kindergeld, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen habe (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG). Maßgebend für die Haushaltszugehörigkeit sei, wo sich das Kind tatsächlich aufhalte. Es komme weder auf die melderechtlichen Bestimmungen noch darauf an, wem das Sorgerecht für das Kind übertragen sei. Die Tochter des Antragstellers befinde sich seit dem 1. Dezember 1996 nicht mehr im Haushalt des Antragstellers. Für die Frage der Haushaltszugehörigkeit als Anspruchsvoraussetzung spiele das Verhalten des anderen Elternteils keine Rolle. Es sei deshalb auch unerheblich, ob die Kindesmutter ihrerseits einen Kindergeldanspruch für den umstrittenen Zeitraum geltend mache. Die Versagung des Kindergeldanspruchs im Streitfall entspreche dem gesetzlichen Ziel. Nach § 31 EStG bezwecke die Kindergeldzahlung die steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes bei Unterhaltsverpflichteten. Die Regelung diene dem Ziel, kinderbedingte Entlastung typisierend nur insoweit zu gewähren, wie die tatsächliche Leistungsfähigkeit der Eltern oder des jeweiligen Elternteils gemindert sei. Der Antragsteller sei jedoch derzeit nicht mit dem Unterhalt für seine Tochter belastet.
Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde. Er habe auch nach der Beendigung der Haushaltszugehörigkeit für seine Tochter Unterhaltsbeträge in Form von Versicherungsbeiträgen gezahlt. Außerdem habe er ein Kinderzimmer für die Tochter bereitgehalten. Darüber hinaus seien ihm durch die Suche nach seinem Kind erhebliche Kosten entstanden. Nach allem sei seine finanzielle Belastung für seine Tochter höher als die Aufwendungen, die er gehabt hätte, wenn seine Tochter bei ihm geblieben wäre.
Der Antragsteller beantragt, ihm für die erste Instanz rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung PKH zu gewähren und ihm seinen Prozeßvertreter als Rechtsanwalt beizuordnen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist begründet. Das FG hat die hinreichende Aussicht der Klage auf Erfolg zu Unrecht verneint (§ 142 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung i.V.m. § 117 der Zivilprozeßordnung).
Hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht für die beabsichtigte Rechtsverfolgung, wenn das Vorbringen des Antragstellers bei summarischer Prüfung nicht von vornherein aussichtslos erscheint, vielmehr der begehrte Erfolg eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Antragstellers zumindest für vertretbar hält. Dabei ist zur Beurteilung des voraussichtlichen Erfolgs der zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegende Sach- und Streitstand zugrunde zu legen (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, vgl. Beschluß vom 24. Juni 1997 VII B 83/97, BFH/NV 1999, 78, m.N.).
Bei summarischer Prüfung hat die Klage im Streitfall hinreichende Aussicht auf Erfolg. Nach § 70 Abs. 2 EStG ist die Festsetzung des Kindergeldes mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben oder zu ändern, soweit in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, Änderungen eintreten. Im Streitfall ist zumindest zweifelhaft, ob dadurch, daß die Kindesmutter dem Antragsteller das Kind entzogen hat und dieses sich deshalb nicht mehr in seinem Haushalt befindet, eine für den Kindergeldanspruch erhebliche Änderung der Verhältnisse eingetreten ist. Das FG geht zwar zutreffend davon aus, daß nach § 64 Abs. 1 EStG für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt wird und daß nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt wird, der das Kind in seinem Haushalt aufgenommen hat. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG setzt jedoch, wie sich unmittelbar aus seinem Wortlaut ergibt, mehrere Berechtigte voraus.
Daß der Antragsteller nach § 62 Abs. 1 EStG anspruchsberechtigt ist, bedarf keiner weiteren Darlegung. Im Hauptverfahren muß jedoch geprüft werden, ob die Kindesmutter, die dem Antragsteller das gemeinsame Kind widerrechtlich entzogen hat und sich verborgen hält, neben dem Antragsteller ebenfalls anspruchsberechtigt ist und diesem nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorgeht. Sie ist nur dann anspruchsberechtigt, wenn sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG) oder die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 2 EStG erfüllt. Nach dem Vortrag des Antragstellers besteht die Möglichkeit, daß sich die Kindesmutter mit dem Kind in Italien (Bologna) aufhält. Sie wäre dann nach § 62 Abs. 1 EStG nicht anspruchsberechtigt. Vor allem ist ungeklärt, ob bei rechtswidriger Kindesentziehung der Kindergeldanspruch auf denjenigen Elternteil übergeht, der das Kind dem sorgeberechtigten Elternteil entzieht und untertaucht. Dem verschwundenen Elternteil kann in diesen Fällen schon aus tatsächlichen Gründen kein Kindergeld gezahlt werden. Im Streitfall hat die Familienkasse überdies die Kindergeldfestsetzung gegenüber der Kindesmutter schon vor ihrem Verschwinden unanfechtbar aufgehoben. Es wäre ein wenig befriedigendes Ergebnis, wenn die rechtswidrige Entziehung des Kindes zur Folge hätte, daß weder der sorgeberechtigte Elternteil (mangels Haushaltszugehörigkeit) noch der Kindesentzieher (mangels Greifbarkeit) das Kindergeld erhielte. Der Hinweis des FG darauf, daß der Antragsteller nach der Kindesentziehung keine Unterhaltsaufwendungen für sein Kind mehr hat und deshalb nicht durch das Kindergeld entlastet zu werden braucht, geht insofern fehl, als das Kindergeld für unter 18 Jahre alte Kinder unabhängig davon zu zahlen ist, ob die Leistungsfähigkeit der Eltern durch Aufwendungen für das Kind gemindert ist (§ 63 Abs. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG). Eltern erhalten für ihre unter 18 Jahre alten Kinder auch dann Kindergeld, wenn sie nicht belastet sind, z.B. weil das Kind hohe eigene Einkünfte hat. Der Antragsteller hat zudem glaubhaft vorgetragen, daß er auch nach der Kindesentziehung Aufwendungen für seine Tochter zu tragen hatte.
Allerdings sollen nach Abschn. 63.1.1 Abs. 3 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des EStG vom 9. April 1998 (BStBl I 1998, 389) vermißte Kinder von dem Zeitpunkt an, von dem sie polizeilich als vermißt gemeldet werden, nicht zu berücksichtigen sein. Auch insoweit besteht Klärungsbedarf. Zunächst ist zweifelhaft, ob die Tochter des Antragstellers als vermißt im Sinne der Dienstanweisung anzusehen ist. Außerdem besteht nach § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG für deutsche Staatsangehörige ein Kindergeldanspruch für Kinder unter 18 Jahren nur dann nicht, wenn die Kinder weder ihren Wohnsitz noch den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland oder in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem sonstigen in § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG erwähnten Land haben. Im Streitfall bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß sich die Tochter des Antragstellers nicht mindestens in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union (Italien) aufhält. Daß für vermißte Kinder von vornherein kein Kindergeldanspruch besteht, ist jedenfalls nicht zweifelsfrei (vgl. zur Beweislast bei vermißten Kindern Urteil des Bundessozialgerichts vom 10. Dezember 1985 10 RKg 14/85, Sozialrecht 5870, § 2 des Bundeskindergeldgesetzes Nr. 44).
Der Kindergeldanspruch des Antragstellers bestünde allerdings dann nicht, wenn das Kind nicht mehr am Leben wäre. Dafür ergeben sich aus dem Akteninhalt keine Anhaltspunkte. Außerdem wäre im Zweifelsfall im Hauptsacheverfahren zu klären, wer die Feststellungslast dafür trägt, daß das Kind noch lebt.
Der angefochtene Beschluß des FG kann danach keinen Bestand haben. Die Sache wird an das FG zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen. Das FG hat bisher ―von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht― offengelassen, ob der Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozeßführung tragen kann. Diese Prüfung muß das FG nunmehr nachholen.
Fundstellen
Haufe-Index 302311 |
BFH/NV 1999, 1425 |
BFHE 188, 403 |
BFHE 1999, 403 |
BB 1999, 1542 |
BB 1999, 2014 |
DB 1999, 1740 |
DStRE 1999, 583 |
DStZ 1999, 658 |
HFR 1999, 805 |
StE 1999, 431 |
FR 1999, 915 |
LEXinform-Nr. 0551596 |
KFR 1999, 319 |
NWB 1999, 2622 |
NJWE-FER 1999, 284 |
InJur 2000, 6 |
stak 1999 |