Entscheidungsstichwort (Thema)
Familienangehörige keine Vertreter bei Entgegennahme von Post
Leitsatz (NV)
Familienangehörige, die nicht mit der Vornahme fristwahrender Handlungen, sondern nur mit der Entgegennahme eingehender Post beauftragt sind, sind keine Vertreter i.S. des § 110 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 oder des § 85 Abs. 2 ZPO, sondern nur "Hilfspersonen", deren Verschulden der Steuerpflichtige sich nicht zurechnen lassen muss.
Normenkette
AO 1977 § 110 Abs. 1 S. 2; ZPO § 85 Abs. 2
Tatbestand
Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) legte mit Schreiben vom 19. Oktober 1995 vorsorglich gegen den Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung der Besteuerungsgrundlagen 1992 Einspruch ein und beantragte gleichzeitig vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Der Bescheid wurde dem Kläger ausweislich der Postzustellungsurkunde durch Niederlegung am 9. August 1995 zugestellt. Der Kläger machte u.a. geltend, dass ihn keine Benachrichtigung über die Niederlegung erreicht habe. Eine solche Benachrichtigung hätten seine beiden Kinder, die die Wohnung im fraglichen Zeitraum bewohnt hätten, nicht im Briefkasten vorgefunden. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) verwarf den Einspruch als unzulässig. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es führte aus, dass die gemäß § 3 Abs. 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) i.V.m. § 182 der Zivilprozessordnung (ZPO) vorgenommene Ersatzzustellung im Wege der Niederlegung bei der Post wirksam sei. Die Wohnung, in der der Zustellversuch unternommen worden sei, sei entgegen der Darstellung des Klägers eine Wohnung i.S. des § 181 Abs. 1 ZPO gewesen. Der Kläger müsse sich an dem von ihm aufgrund seiner eigenen Angaben erzeugten Rechtsschein festhalten lassen (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 21. Mai 1991 IV R 120/90, BFH/NV 1992, 474, m.w.N.). Er habe nicht den nach § 418 Abs. 2 ZPO möglichen Gegenbeweis erbracht, dass die Bescheinigung des Postzustellers über die Einlegung des Benachrichtigungszettels in den Hausbriefkasten unrichtig sei. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 110 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) könne dem Kläger nicht gewährt werden, da es zu der einem Steuerpflichtigen zumutbaren Sorgfalt gehöre, eingehende Post genau daraufhin durchzusehen, ob sich bei dieser eine Mitteilung über eine förmliche Zustellung befinde. Im Streitfall habe der Kläger jedenfalls nicht bewiesen, dass ein anderer Geschehensablauf als die von ihm behauptete, tatsächlich aber nicht vorliegende falsche Postzustellung oder ein fehlender Benachrichtigungsschein für die Fristversäumnis ursächlich gewesen sei.
Der Kläger hat seine gegen dieses Urteil wegen Nichtzulassung der Revision eingelegte Beschwerde auf grundsätzliche Bedeutung, Divergenz und Verfahrensfehler gestützt.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist begründet und führt gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Zurückverweisung an das FG.
1. Die Beschwerde des Klägers ist allerdings unzulässig, soweit der Kläger sie auf grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO in der Fassung vor In-Kraft-Treten des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze ―2.FGOÄndG― vom 19. Dezember 2000, BGBl I 2000, 1757 ―FGO a.F―) und Abweichungen von Entscheidungen des BFH und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO a.F. gestützt hat.
a) Soweit der Kläger vorträgt, die Rechtssache sei von grundsätzlicher Bedeutung, weil das FG im Streitfall seinen, des Klägers, Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe, rügt er in Wirklichkeit einen Verfahrensfehler. Soweit er der Frage grundsätzliche Bedeutung beimisst, ob eine Ersatzzustellung auch an eine lediglich als Wohnung fingierte Adresse möglich sei, hat er eine grundsätzliche Bedeutung dieser Rechtsfrage nicht schlüssig dargelegt, weil er eine Klärungsbedürftigkeit dieser Frage nicht dargetan hat; er hat sich lediglich mit den Besonderheiten des Sachverhalts des Streitfalles und den Einzelheiten der finanzgerichtlichen Begründung auseinander gesetzt, ohne dass seinem Vorbringen zu entnehmen ist, dass diese Frage in Rechtsprechung oder Literatur umstritten und deshalb klärungsbedürftig sei. Das Gleiche gilt, soweit der Kläger der Frage grundsätzliche Bedeutung beimisst, wie der Gegenbeweis gegen die für die Ersatzzustellung nach § 182 ZPO unentbehrliche Benachrichtigung geführt werden könne. Angesichts der vorliegenden Rechtsprechung zu dieser Frage (vgl. Nachweise z.B. bei Zöller/Geimer, Zivilprozeßordnung, Kommentar, 22. Aufl., § 418 Rn. 4 und 5) hätte es für die Darlegung einer grundsätzlichen, d.h. über den konkreten Einzelfall hinausgehenden Bedeutung zumindest einer Auseinandersetzung mit dieser Rechtsprechung bedurft. Eine solche Auseinandersetzung lässt die Beschwerdeschrift vermissen.
b) Der Kläger hat auch eine die Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO a.F. eröffnende Divergenz nicht hinreichend bezeichnet. Eine Divergenz liegt nur vor, wenn das FG in den Gründen des angefochtenen Urteils einen allgemeinen Rechtssatz aufgestellt hat, der die Entscheidung trägt und der von einem ―ebenfalls tragenden― allgemeinen Rechtssatz in einer Entscheidung des BFH oder BVerfG abweicht (vgl. BFH-Beschlüsse vom 30. März 1983 I B 9/83, BFHE 138, 152, BStBl II 1983, 479; vom 23. April 1992 VIII B 49/90, BFHE 167, 488, BStBl II 1992, 671). Die Darlegung einer seiner Meinung nach fehlerhaften Anwendung der abstrakten Rechtsgrundsätze durch das FG auf den Sachverhalt des konkreten Falles, auf die sich der Kläger in der vorliegenden Beschwerdeschrift beschränkt hat, reicht für die schlüssige Rüge einer Divergenz nicht aus (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 6. April 1995 VIII B 61/94, BFH/NV 1996, 137, m.w.N.)
2. Die Beschwerde ist jedoch begründet, soweit der Kläger mit der Rüge, sein Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt worden und das FG habe seinen Beweisantritt, seine Kinder als Zeugen zu vernehmen, übergangen, sinngemäß als Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) geltend macht, dass das FG seiner Entscheidung über seinen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) zugrunde gelegt habe.
Das FG hat im Zusammenhang mit seiner Entscheidung, der Kläger sei nicht ohne sein Verschulden verhindert gewesen, die Einspruchsfrist einzuhalten, zutreffend ausgeführt, dass es zu der einem Steuerpflichtigen zumutbaren Sorgfalt gehöre, eingehende Post genau daraufhin durchzusehen, ob sich in dieser eine Mitteilung über eine förmliche Zustellung befinde (vgl. BFH-Urteil vom 13. Juli 1995 V R 51/94, BFH/NV 1996, 193). Es hat seine Entscheidung weiter und abschließend damit begründet, dass der Kläger nicht bewiesen habe, dass ein anderer Geschehensablauf als die von ihm geltend gemachte, tatsächlich nicht vorliegende falsche Postzustellung oder ein fehlender Benachrichtigungsschein für die Fristversäumnis ursächlich gewesen sei. Diese Begründung des FG lässt nicht erkennen, dass es bei seiner Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag überhaupt den Sachvortrag des Klägers berücksichtigt hat, dass er den Briefkasten aufgrund seiner eigenen Ortsabwesenheit durch seine beiden Kinder habe leeren lassen und dass diese eine Benachrichtigung nicht vorgefunden und dementsprechend auch nicht an ihn weitergeleitet hätten. Die fehlende Würdigung dieses tatsächlichen Vorbringens durch das FG wäre nur dann nicht fehlerhaft, wenn dieses Vorbringen nicht entscheidungserheblich sein könnte. Das trifft aber nicht zu.
Denn nach der Rechtsprechung sind Familienangehörige, die nicht mit der Vornahme fristwahrender Handlungen, sondern nur mit der Entgegennahme eingehender Post beauftragt sind, keine Vertreter i.S. des § 110 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 oder des § 85 Abs. 2 ZPO, sondern nur "Hilfspersonen", deren Verschulden der Steuerpflichtige sich nicht zurechnen lassen muss (vgl. BFH-Urteile vom 11. Januar 1983 VII R 92/80, BFHE 137, 399, BStBl II 1983, 334; vom 12. August 1986 VII R 202/83, BFH/NV 1988, 89; Landesarbeitsgericht ―LAG― München, Beschluss vom 18. Mai 1987 6 Ta 72/87, Neue Juristische Wochenschrift ―NJW― 1987, 2542; Oberverwaltungsgericht ―OVG― Münster, Urteil vom 29. März 1995 13 A 3442/93, NJW 1995, 2508). Insoweit könnte ein eigenes Verschulden des Steuerpflichtigen lediglich dann angenommen werden, wenn er eine für die konkrete Aufgabe erkennbar ungeeignete Hilfsperson hinzugezogen (vgl. BFH-Urteile in BFH/NV 1988, 89; vom 27. November 1992 VI R 95/90, BFH/NV 1993, 365; LAG München in NJW 1987, 2542; OVG Münster in NJW 1995, 2508) oder wenn er die Hilfsperson unzureichend unterwiesen hätte (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ―BVerwG― vom 9. Oktober 1973 V C 110.72, BVerwGE 44, 104; BVerwG-Beschluss vom 16. Juli 1980 6 B 63.79, Die öffentliche Verwaltung 1981, 180).
Das FG wird im zweiten Rechtsgang den bei seiner Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bisher nicht berücksichtigten Sachvortrag des Klägers ―ggf. nach einer weiteren Aufklärung des Sachverhaltes und Beweiserhebung― zu würdigen haben.
Fundstellen
Haufe-Index 665081 |
BFH/NV 2002, 162 |
AO-StB 2002, 42 |