Entscheidungsstichwort (Thema)
Überraschungsentscheidung; Prüfung der Prozessvollmacht im Beschwerdeverfahren
Leitsatz (NV)
1. Eine Überraschungsentscheidung und damit Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt vor, wenn das FG ohne vorherigen Hinweis seine Entscheidung auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt, der weder im Besteuerungsverfahren noch im gerichtlichen Verfahren zur Sprache gekommen war und mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbevollmächtigter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (ständige Rechtsprechung).
2. Ergibt sich aus dem Verhandlungsprotokoll im Anschluss an einen rechtlichen Hinweis, dass “das Wort zu weiteren Ausführungen nicht mehr gewünscht” wurde, so folgt daraus konkludent der Verzicht auf die Rüge der Gehörsverletzung. Bei verzichtbaren Verfahrensmängeln geht das Rügerecht bereits durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge verloren.
3. Nach § 62 Abs. 6 FGO in der seit 1. Juli 2008 gültigen Fassung erübrigt sich eine Prüfung der Prozessvollmacht im Beschwerdeverfahren, auch wenn die Klage mangels einer wirksamen Prozessvollmacht abgewiesen worden war, wenn der Mangel der Vollmacht vom FA nicht geltend gemacht ist.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 62 Abs. 6, § 96 Abs. 2, §§ 155, 116 Abs. 3 S. 3, § 96
Verfahrensgang
FG München (Urteil vom 08.02.2007; Aktenzeichen 3 K 2167/05) |
Tatbestand
I. Der Bevollmächtigte der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist Rechtsanwalt. Er erhob "namens und in Vollmacht" der Klägerin mit Schriftsatz vom 3. Juni 2005 beim Finanzgericht (FG) Klage gegen "den Bescheid der Beklagten und Beschwerdegegnerin (das Finanzamt --FA--) vom 10. Januar 2005 über die Ablehnung eines Antrags auf Teilerlass der Umsatzsteuerschuld in Gestalt der Einspruchsentscheidung". Die vorgelegte Prozessvollmacht vom 18. Mai 2005 ermächtigte ihrem Wortlaut nach den Anwalt zur Vertretung im Rechtsstreit der Klägerin gegen das FA "wegen Einspruchsentscheidung vom 06.05.2005". Sie war von zwei der früheren Geschäftsführer der Klägerin unterzeichnet. Mit der Auflösung der Klägerin wegen rechtskräftiger Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens wurde am 17. Februar 2005 der frühere Mitgeschäftsführer X als Liquidator im Handelsregister eingetragen. Die GmbH wurde am 14. Juli 2005 im Handelsregister gelöscht.
In der mündlichen Verhandlung vom 8. Februar 2007 legte der Anwalt eine vom früheren Geschäftsführer der Klägerin am 9. August 2004 unterzeichnete Vollmacht vor, die diesen in außergerichtlichen Angelegenheiten zur Vertretung berechtigt. Das FG erteilte daraufhin den rechtlichen Hinweis, dass die Klage als unzulässig abgewiesen werden könne, falls das Gericht den Vertreter der Klägerin als nicht wirksam bevollmächtigt erachte, und die Kosten dann der vollmachtlose Vertreter zu tragen habe.
Das FG wies die Klage als unzulässig ab, weil der namens der Klägerin als Prozessbevollmächtigter aufgetretene Rechtsanwalt seine Bevollmächtigung nicht durch Vorlage einer schriftlichen Vollmacht des gesetzlichen Vertreters der Klägerin nachgewiesen habe. Zum Zeitpunkt der Vollmachtserteilung vom 18. Mai 2005 sei bereits der Liquidator für die Klägerin vertretungsberechtigt gewesen. Dieser habe aber den Rechtsanwalt nicht bevollmächtigt, sondern die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vertretungsberechtigten ehemaligen Geschäftsführer der Klägerin.
Durch die Vorlage der am 9. August 2004 vom ehemaligen Geschäftsführer der Klägerin unterzeichneten Vollmacht in der mündlichen Verhandlung habe der Anwalt ebenfalls nicht den Nachweis einer wirksamen Bevollmächtigung für die vorliegende Streitsache erbracht. Zwar bleibe eine vor dem Erlöschen der Kapitalgesellschaft erteilte Prozessvollmacht wirksam; es habe sich hier aber nicht um eine Prozessvollmacht gehandelt, da sie den Bevollmächtigten nur zur Vertretung in "außergerichtlichen Angelegenheiten" ermächtigt habe. Das Gleiche gelte für die am 12. Januar 2005 ausgestellte Vollmacht, die den Prozessvertreter lediglich zum "Auftreten in dem Rechtsstreit wegen Insolvenzantrags" ermächtigt habe.
Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde, die sie auf einen Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) stützt. Sie rügt, das FG habe sie mit der Klageabweisung wegen nicht wirksamer Prozessvollmacht "überrumpelt", indem es erstmals in der mündlichen Verhandlung dieses Thema aufgebracht und ihr nicht ausreichend Zeit eingeräumt habe, den vermeintlichen Mangel durch Vorlage einer Prozessvollmacht des Liquidators X zu heilen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Der von der Klägerin gerügte Verfahrensmangel liegt --bei Zweifeln an der gebotenen Darlegung i.S. des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO-- jedenfalls nicht vor.
a) Eine Überraschungsentscheidung ist nicht ergangen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) liegt eine Überraschungsentscheidung und damit eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl. Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) nur dann vor, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis seine Entscheidung auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt, der weder im Besteuerungsverfahren noch im gerichtlichen Verfahren zur Sprache gekommen war und mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbevollmächtigter selbst unter der Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (z.B. BFH-Beschluss vom 2. Oktober 2007 IX B 24/07, BFH/NV 2008, 92, m.w.N.).
b) Wie die Klägerin selbst vorträgt, hat das FG seine Zweifel an der wirksamen Prozessvertretung und die mögliche Kostenfolge in der mündlichen Verhandlung erörtert. Ausweislich des Sitzungsprotokolls ist ein entsprechender richterlicher Hinweis ergangen. Des Weiteren hat der im Termin für die Klägerin erschienene Rechtsanwalt auf diesen Hinweis nicht reagiert, insbesondere weder Vertagung noch Schriftsatznachlass beantragt. Aus dem nicht beanstandeten Protokoll ergibt sich, dass im Anschluss an den rechtlichen Hinweis "das Wort zu weiteren Ausführungen nicht mehr gewünscht" wurde. Damit hat die Klägerin zumindest konkludent auf die Rüge des nunmehr behaupteten Verfahrensmangels verzichtet. Mit der erst jetzt erhobenen Rüge kann die Klägerin nicht mehr gehört werden. Denn bei derartigen verzichtbaren Verfahrensmängeln geht das Rügerecht bereits durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge verloren (§ 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung; vgl. BFH-Beschluss vom 28. Februar 2007 IX B 174/06, BFH/NV 2007, 1171, m.w.N).
2. Im vorliegenden Beschwerdeverfahren erübrigt sich eine Prüfung der Prozessvollmacht, da der Mangel der Vollmacht vom FA nicht geltend gemacht und von Amts wegen nur zu berücksichtigen ist, wenn keine in Absatz 2 Satz 1 bezeichnete Person oder Gesellschaft auftritt (§ 62 Abs. 6 FGO in der seit 1. Juli 2008 gültigen Fassung des Art. 14 Nr. 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts vom 12. Dezember 2007, BGBl I 2007, 2840).
Fundstellen