Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussetzung der Vollziehung durch das FG bei abgelehntem Antrag durch die Behörde für vorangegangenen Verfahrensabschnitt - Auslegung des § 69 Abs. 4 FGO i.d.F. des FGO-Änderungsgesetzes - Zurückverweisung an FG bei begründeter Beschwerde gegen die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung
Leitsatz (amtlich)
Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung an das FG ist auch dann zulässig, wenn die Behörde für einen vorangegangenen Verfahrensabschnitt einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abgelehnt hat.
Orientierungssatz
1. Da § 69 Abs. 4 FGO i.d.F. des FGO-Änderungsgesetzes vom 21.12.1992 im wesentlichen die Regelungen des Art. 3 § 7 Abs. 1 VGFGEntlG, das mit dem FGO-Änderungsgesetz aufgehoben worden ist, übernommen hat, kann zu seiner Auslegung auf die zu Art. 3 § 7 VGFGEntlG ergangene Rechtsprechung zurückgegriffen werden (vgl. Literatur).
2. Auch nach Aufhebung des VGFGEntlG und unter der Geltung des § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO i.d.F. des FGO-Änderungsgesetzes vom 21.12.1992 ist es nicht angängig, den Zugang zum Gericht in Aussetzungssachen durch eine einengende Auslegung der Vorschrift, die ohnehin schon eine Zugangsschranke enthält, über ihren Wortlaut hinaus ohne eindeutige Äußerung des Gesetzgebers noch weiter einzuschränken.
3. Hat das FG einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung wegen Unzulässigkeit abgelehnt und ist die hiergegen gerichtete Beschwerde begründet, kann die Sache zur sachlichen Entscheidung über den Antrag an das FG zurückgewiesen werden, wenn dieses keinerlei Feststellungen zu dem für die Aussetzung der Vollziehung maßgeblichen Sachverhalt getroffen hat (vgl. BFH-Beschluß vom 8.6.1982 VIII B 29/82). Der BFH kann davon absehen, die erforderlichen Feststellungen, wozu er im Beschwerdeverfahren berechtigt wäre, selbst vorzunehmen, damit den Beteiligten nicht eine Instanz genommen wird (vgl. BFH-Beschluß vom 16.12.1986 VIII B 115/86).
Normenkette
FGO § 69 Abs. 3, 4 S. 1 Fassung: 1992-12-21; VGFGEntlG Art. 3 § 7 Abs. 1; FGO § 126 Abs. 3 Nr. 2; FGOÄndG Art. 6
Tatbestand
Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) nahm den Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) als ehemaligen Geschäftsführer einer GmbH wegen rückständiger Lohn- und Kirchensteuer und Verspätungs- und Säumniszuschlägen in Anspruch (§§ 34, 69 der Abgabenordnung --AO 1977--). Der Antragsteller legte gegen den Haftungsbescheid Einspruch ein und beantragte gleichzeitig Aussetzung der Vollziehung. Das FA lehnte mit Verfügung vom 20. April 1993 die beantragte Aussetzung der Vollziehung ab. Den Einspruch wies es mit Einspruchsentscheidung als unbegründet zurück. Über die am 7. Dezember 1993 erhobene Klage hat das Finanzgericht (FG) noch nicht entschieden.
Nachdem auch die Oberfinanzdirektion (OFD) die Beschwerde gegen die Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids mit Entscheidung vom 2. Februar 1994 unter Hinweis auf die Einspruchsentscheidung des FA zurückgewiesen hatte, beantragte der Antragsteller am 22. Februar 1994 beim FG, die Vollziehung des Haftungsbescheids bis einen Monat nach Zustellung der Klageentscheidung auszusetzen. Das FG lehnte die beantragte Aussetzung der Vollziehung ab.
Zur Begründung führte das FG aus, der Antrag sei gemäß § 69 Abs. 4 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) unzulässig. Nach Sinn und Zweck dieser Vorschrift führe nicht jede irgendwann im Laufe des Verfahrens erfolgte behördliche Ablehnung zur Zulässigkeit des bei Gericht gestellten Aussetzungsantrags. Die behördliche Ablehnung müsse vielmehr innerhalb des Verfahrensabschnitts geschehen sein, für dessen Dauer das Gericht um Aussetzung der Vollziehung ersucht werde. Wenn der Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO erst nach Klageerhebung gestellt werde, sei es erforderlich, daß auch die behördliche Ablehnung nach Klageerhebung erfolgt sei. Denn gerade in den Fällen, in denen in den Hauptsacheverfahren schon Klage erhoben worden sei, solle der Finanzbehörde vor einer Anrufung des Gerichts nach § 69 Abs. 3 FGO Gelegenheit gegeben werden, ihren (bisher ablehnenden) Standpunkt unter dem Eindruck der Klage erneut zu überdenken. Nur auf diese Weise könnten überflüssige Aussetzungsverfahren vor den Gerichten vermieden werden. Im Streitfall liege eine behördliche Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung nach Klageerhebung nicht vor, so daß der bei Gericht gestellte Antrag unzulässig sei.
Mit der Beschwerde macht der Antragsteller geltend, es sei ihm im Hinblick auf die Beschwerdeentscheidung der OFD nicht zuzumuten gewesen, einen erneuten Aussetzungsantrag beim FA zu stellen, zumal keine neuen Argumente hätten vorgetragen werden können. Das FA hätte auch ohne Antrag die Aussetzung der Vollziehung gewähren können, wenn es aufgrund der Klagebegründung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids gehabt hätte.
Im übrigen stehe § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO der Zulässigkeit des bei Gericht gestellten Antrags nicht entgegen. Der Vorschrift sei nicht zu entnehmen, daß für jeden Verfahrensabschnitt in der Hauptsache eine gesonderte Entscheidung des FA eingeholt werden müsse. Die einmalige Ablehnung des Aussetzungsantrags durch das FA genüge. Es sei nicht zulässig, den Zugang zum Gericht in Aussetzungssachen über den Wortlaut des § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO hinaus durch eine einengende Auslegung im Interesse der Entlastung der Gerichte weiter einzuschränken. Im Zweifel habe der Anspruch des Steuerbürgers auf effektiven Rechtsschutz Vorrang.
Der Antragsteller beantragt, die Vollziehung des Haftungsbescheids in der Gestalt der Einspruchsentscheidung bis einen Monat nach Zustellung der Klageentscheidung auszusetzen.
Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist begründet.
Der beim FG gestellte Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids war --entgegen der Auffassung der Vorinstanz-- nicht unzulässig. Das FG hätte über den Antrag in sachlich-rechtlicher Hinsicht entscheiden müssen.
Gemäß § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO i.d.F. des Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (FGO-Änderungsgesetz) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I, 2109) ist ein Antrag an das Gericht auf Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 FGO nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Dies gilt gemäß § 69 Abs. 4 Satz 2 FGO nicht, wenn die Finanzbehörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder eine Vollstreckung droht. Da § 69 Abs. 4 FGO im wesentlichen die Regelungen des Art. 3 § 7 Abs. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG), das mit dem FGO-Änderungsgesetz (Art. 6) aufgehoben worden ist, übernommen hat (BTDrucks 12/1061, S.15), kann zu seiner Auslegung auf die zu Art. 3 § 7 VGFGEntlG ergangene Rechtsprechung zurückgegriffen werden (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 69 Rz. 61).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu Art. 3 § 7 Abs. 1 Satz 1 VGFGEntlG genügt für die Zulässigkeit des bei Gericht gestellten Antrags auf Aussetzung der Vollziehung (§ 69 Abs. 3 FGO) die einmalige Ablehnung der Aussetzung durch die Finanzbehörde, auch wenn diese in einem früheren Verfahrensstadium erfolgt ist. Der Vorschrift ist danach nicht zu entnehmen, daß für jeden Verfahrensabschnitt in der Hauptsache (außergerichtliches Vorverfahren, Klageverfahren, Revisionsverfahren) eine gesonderte Stellungnahme des FA eingeholt werden müßte (BFH-Beschlüsse vom 8. Juni 1982 VIII B 29/82, BFHE 136, 67, BStBl II 1982, 608 m.w.N.; vom 10. Oktober 1985 V S 4/85, BFH/NV 1986, 183, 184). Der Senat hält diese Gesetzesauslegung auch für die Regelung des § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO, der seinem wesentlichen Wortlaut nach mit Art. 3 § 7 Abs. 1 Satz 1 VGFGEntlG übereinstimmt, für zutreffend (ebenso: Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 69 FGO Tz.17; List in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 69 FGO Rz. 50). Es ist demnach nicht Voraussetzung, daß die Aussetzung der Vollziehung durch die Behörde innerhalb des Verfahrensabschnitts abgelehnt worden ist, für dessen Dauer das Gericht um Aussetzung der Vollziehung ersucht worden ist. Der entgegenstehenden Rechtsauffassung des FG, das sich auf die Kommentierung in Gräber/Koch, a.a.O., § 69 FGO Rz. 64 stützt, vermag der Senat nicht zu folgen. Auch unter der Geltung des § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO ist es nicht angängig, den Zugang zum Gericht in Aussetzungssachen durch eine einengende Auslegung der Vorschrift, die ohnehin schon eine Zugangsschranke enthält, über ihren Wortlaut hinaus ohne eindeutige Äußerung des Gesetzgebers noch weiter einzuschränken. Das Interesse des Steuerpflichtigen nach einem effektiven vorläufigen Rechtsschutz genießt im Zweifel den Vorrang (vgl. List, a.a.O., § 69 FGO Rz. 50 a.E.).
Für den Streitfall ergibt sich daraus, daß der beim FG gestellte Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids gemäß § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO zulässig war, weil das FA die bei ihm beantragte Aussetzung der Vollziehung mit Verfügung vom 20. April 1993 abgelehnt hat. Daß diese Verfügung bereits vor Erhebung der Klage in der Hauptsache ergangen ist, steht nach den vorstehenden Ausführungen der Zulässigkeit des Antrags nach § 69 Abs. 3 FGO nicht entgegen. Der Antragsteller weist im übrigen mit Recht darauf hin, daß ihm gerade im Streitfall eine erneute Antragstellung beim FA nach Klageerhebung nicht zugemutet werden konnte. Denn es lag mit der Beschwerdeentscheidung der OFD vom 2. Februar 1994, die nach Klageerhebung ergangen ist, bereits eine zweite behördliche Ablehnung seines Antrags auf Aussetzung der Vollziehung vor. Ferner hat das FA im Aussetzungsverfahren vor dem FG mit Schriftsatz vom 22. April 1994 zum Ausdruck gebracht, daß es die Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids als nicht gerechtfertigt ansieht. Unter diesen Umständen hätte auch mit einem nochmaligen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim FA das gerichtliche Verfahren nicht vermieden und das FG nicht entlastet werden können.
Da die Vorentscheidung diesen Rechtsausführungen widerspricht, war sie aufzuheben. Da die Vorinstanz keinerlei Feststellungen zu dem für die Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids maßgeblichen Sachverhalt getroffen hat, geht die Sache an das FG zurück, das nunmehr sachlich über den Vollziehungsaussetzungsantrag zu befinden hat (vgl. ebenso: BFH in BFHE 136, 67, BStBl II 1982, 608, 609).
++/ Der Senat sieht davon ab, die erforderlichen Feststellungen, wozu er im Beschwerdeverfahren berechtigt wäre, selbst vorzunehmen, damit den Beteiligten nicht eine Instanz genommen wird (vgl. BFH-Beschluß vom 16. Dezember 1986 VIII B 115/86, BFHE 148, 215 BStBl II 1987, 217, 219). /++
Fundstellen
Haufe-Index 65320 |
BStBl II 1995, 131 |
BFHE 175, 525 |
BFHE 1995, 525 |
BB 1995, 190 (L) |
DB 1995, 357-358 (LT) |
DStR 1995, 569 (KT) |
DStZ 1995, 285-286 (KT) |
HFR 1995, 203-204 (LT) |
StE 1995, 69 (K) |
WPg 1995, 242 (L) |
StRK, R.311 (LT) |
Information StW 1995, 191-192 (KT) |