Leitsatz (amtlich)
Die Anordnung des Zwangsverfahrens gemäß § 330 Abs. 1 AO entspricht nicht mehr den Grundsätzen von Billigkeit und Zweckmäßigkeit, wenn es erst nach 11 Jahren eingeleitet wird, ohne daß ein ausreichender Grund für die späte Geltendmachung vorliegt.
Normenkette
AO § 330 Abs. 1; StAnpG § 2 Abs. 2
Tatbestand
Das FA setzte durch einen an die X-GmbH adressierten vorläufigen Bescheid vom März 1955 eine Vermögensabgabe von 33 360 DM und einen ursprünglichen Vierteljahrsbetrag von 567,10 DM fest. Gesellschafter der GmbH waren am Währungsstichtag die Eheleute A und Herr B. Die Gesellschaft hatte im Februar 1954 durch Umwandlung ihr Vermögen auf eine neu errichtete KG übertragen, die den früheren Firmennamen fortführte und deren Gesellschafter der Fabrikant A als persönlich haftender Gesellschafter und Herr B und Frau A als Kommanditisten waren. Der Vermögensabgabebescheid ging der KG zu.
Nach dem Ausscheiden des B aus der Gesellschaft (Juni 1957) und dem Tod des persönlich haftenden Gesellschafters A (November 1958) ging dessen Kapitalanteil auf seine Witwe als Miterbin über. Diese führte das Unternehmen bis Ende 1959 als Einzelfirma weiter. Sie vereinbarte mit dem Kaufmann C, mit dem sie vorher eine neue Ehe geschlossen hatte, unter Übernahme des seitherigen Firmennamens die Errichtung einer KG, in der sie Kommanditistin und ihr nunmehriger Ehemann persönlich haftender Gesellschafter wurden.
Den Antrag der Frau C (früher Frau A) auf Genehmigung der Schuldübernahme der gegenüber der GmbH festgesetzten Vermögensabgabe beantwortete das FA am 21. März 1962 in dem Sinn, daß es einer formellen Schuldübernahme nicht bedürfe, da ein Fall der Rechtsnachfolge vorliege. Das auf den Namen der GmbH geführte Vermögensabgabekonto schrieb das FA auf Frau C um. Durch einen an diese gerichteten Bescheid vom Juni 1962 erklärte das FA den Vermögensabgabebescheid von 1955 für endgültig und erließ ihr durch eine weitere Verfügung vom Juli 1962 die Vierteljahrsraten für den Zeitraum vom 1. Januar 1959 bis 31. Dezember 1962 wegen Vermögensverfalls.
Mit Verfügung vom 4. März 1965 lehnte das FA einen Erlaßantrag für den Zeitraum 1962 bis 1964 wegen Vermögensverfalls mit der Begründung ab, die Klägerin sei mit ihren Gesellschaftern C im Wege der Gesamtrechtsnachfolge gemäß § 8 Abs. 1 StAnpG Abgabeschuldnerin geworden und deren Betriebsvermögen rechtfertige keinen Erlaß. Gleichzeitig teilte das FA mit, daß es die früheren Vermögensabgabeakten auf den Namen der Klägerin umgeschrieben habe. Diese befindet sich seit Juli 1965 in Liquidation.
Die Klägerin legte u. a. gegen die Mitteilung des FA über die Umschreibung der Vermögensabgabeakten auf ihren Namen Beschwerde ein, die erfolglos blieb. Auf ihre Klage nahm das FA durch Verfügung vom 18. März 1971 die Umschreibung der Vermögensabgabe auf die Klägerin zurück. Gleichzeitig kündigte das FA der Klägerin und dem Beigeladenen C an, es beabsichtige, beide durch ein Leistungsgebot nach § 330 AO für die aufgelaufenen Vermögensabgaberückstände und für die künftig fällig werdenden Vierteljahrsbeträge als Schuldner in Anspruch zu nehmen, da sie bürgerlich-rechtlich verpflichtet seien (§§ 28, 128 HGB), diese Schuld zu erfüllen. Das FA stellte der Klägerin und dem Beigeladenen im April 1971 einen als Haftungsbescheid bezeichneten Bescheid zu und forderte sie zur Entrichtung der ab 1. Januar 1962 rückständigen Vierteljahrsbeträge in Höhe von 20 982,70 DM und zur Zahlung der künftigen Vierteljahrsbeträge von jeweils 567,10 DM bei Fälligkeit auf. Die Klägerin beantragte, das Leistungsgebot vom April 1971 zum Gegenstand des Verfahrens zu machen.
Das wegen des Leistungsgebots zwischenzeitlich abgetrennte Verfahren führte zu einem klageabweisenden Urteil. Das FG begründete seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt: Die Klägerin, die durch Eintritt des Beigeladenen als persönlich haftender Gesellschafter in das Geschäft seiner Ehefrau gebildet worden sei, hafte gemäß § 28 HGB für alle im Betrieb entstandenen Verbindlichkeiten des früheren Geschäftsinhabers und zwar auch dann, wenn die frühere Firma nicht fortgeführt worden wäre. Zu diesen Verbindlichkeiten rechne die Vermögensabgabe der GmbH. Entstehungstatbestand dieser Abgabe sei das Bestehen des Betriebs, der zunächst in der Form einer GmbH, später in Gestalt der durch Umwandlung errichteten Personengesellschaft und nach dem Ausscheiden aller Gesellschafter bis auf einen als Einzelfirma fortgeführt worden sei. Daß die frühere Personengesellschaft nach dem Tode des Komplementärs nicht aufgelöst worden sei, habe an dem betrieblichen Charakter der Abgabeverpflichtung nichts geändert. Die Anordnung des Zwangsverfahrens nach § 330 AO stelle auch keinen Ermessensmißbrauch dar. Im Falle des § 28 HGB werde ein Betrieb mit einem neuen Rechtsträger fortgeführt. Die Rechtsprechung zur Vermögensübernahme, nach der es ermessensfehlerhaft sei, den Erwerber des restlichen Vermögens auch für den Teil der Vermögensabgabe in Anspruch zu nehmen, der auf das verloren gegangene Vermögen entfällt, sei mit dem Eintritt als Gesellschafter in das Unternehmen eines Einzelkaufmanns nicht vergleichbar. Daß sich die Klägerin in Liquidation befinde, könne ebenfalls keine andere Beurteilung rechtfertigen. Das FA habe der Klägerin zu keinem Zeitpunkt verbindlich zugesagt, daß es sie von der gesetzlichen Haftung freistellen wolle. Selbst wenn sich das FA bis zum Erlaß der Verfügung vom 4. März 1965 geirrt haben sollte, habe es später seinen Irrtum berichtigen können.
Die Klägerin legte fristgerecht Revision ein.
Mit der Revision rügt sie, daß die Voraussetzungen für eine Inanspruchnahme als Haftungsschuldner durch ein Leistungsgebot nicht gegeben seien. Die Schlußbilanz des von seiner Ehefrau als Einzelfirma geführten Unternehmens habe zum 31. Dezember 1959 mit einem Minuskapital von 51 000 DM abgeschlossen. Mit diesem Minuskapital sei das Kapitalkonto seiner als Kommanditistin in die neu gegründete KG eingetretenen Ehefrau belastet worden. Die Gewinne der Klägerin hätten bis zur Liquidation nicht ausgereicht, dieses Kapitalkonto auszugleichen. Das restliche Vermögen sei folglich geringer als das Ausgangsvermögen der früheren Abgabeschuldnerin am 21. Juni 1948 gewesen. Es sei ermessensfehlerhaft, wenn das FA bei dieser Sachlage die Klägerin für die Vermögensabgabe eines Dritten haftbar mache, dessen Vermögen verloren gegangen sei und der Zugriff Vermögen betreffe, das der Komplementär bei ihrer Gründung eingebracht habe. Im übrigen verstoße es gegen die Grundsätze von Treu und Glauben, wenn das FA ein Leistungsgebot erst Jahre nach Gründung der Klägerin erlasse, während es sich vorher so verhalten habe, als ob die Vermögensabgabe in keiner Beziehung zur Klägerin gestanden habe.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil und das Leistungsgebot vom 2. April 1971 aufzuheben.
Das FA und die beigetretene OFD beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Sie halten die Vorentscheidung für zutreffend. Gegen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand haben beide keine Einwendungen erhoben.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
Es bedeutet entgegen der Ansicht des FG einen Ermessensfehlgebrauch, wenn das FA den Eintritt des persönlich haftenden Gesellschafters C in das bestehende Einzelunternehmen nach über 11 Jahren zum Anlaß nimmt, die Klägerin durch Erlaß eines entsprechenden Leistungsgebots (§§ 120 Abs. 1, 330 Abs. 1 AO) für Verbindlichkeiten der heutigen Kommanditistin und früheren Alleininhaberin in Anspruch zu nehmen (§ 28 Abs. 1 HGB). Eine jahrelange Verzögerung reicht allein als Grund für den Ausschluß der Haftung aus, wenn diese - wie im Streitfall - mehr als die doppelte Regelverjährungsfrist (Regelverjährungsfrist: 5 Jahre) beträgt. Das FA hat erst im März 1971 die Anordnung des Zwangsverfahrens gemäß § 330 Abs. 1 AO eingeleitet, die nur nach vorherigem Gehör der in Anspruch genommenen Klägerin ergehen konnte. Anders als bei einer Steuerschuld hat der Gesetzgeber die Geltendmachung der Haftungsschuld in das pflichtgemäße Ermessen des FA gestellt. Diese Ermessensentscheidung muß nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit getroffen werden (§ 2 Abs. 2 StAnpG). Gerade mit Rücksicht darauf, daß es sich bei der gesetzlichen Haftung für Steuerschulden nach bürgerlich-rechtlichen Vorschriften um eine subsidiäre Haftungsmöglichkeit handelt und der Erlaß eines entsprechenden Leistungsgebots gemäß § 330 Abs. 1 AO nicht in Betracht kommt, wenn gleichzeitig eine Haftung nach den Steuergesetzen gegeben ist (§ 330 Abs. 3 AO), ist das FA verpflichtet, in angemessener Frist tätig zu werden. Für die Klägerin bestand auch aufgrund der weittragenden Folgen einer vom Parteiwillen unabhängig kraft Gesetzes begründeten Haftung, bei der es nicht darauf ankommt, ob die Verbindlichkeit dem als Gesellschafter Eintretenden bekannt war oder aus den Handelsbüchern und dem Schriftwechsel ersehen werden konnte, ein erkennbares Interesse, ihre Geltendmachung nicht grundlos jahrelang zu verzögern. Für die Frage des Ermessensfehlgebrauchs ist allein die objektive Rechtslage maßgeblich. Es ist daher unerheblich, daß das FA anscheinend erst durch ein Schreiben des Berichterstatters des FG vom Januar 1971 in die Lage versetzt worden ist, die rechtlich erheblichen Tatsachen anders als vorher zu würdigen.
Die Mitteilung des FA vom März 1965 an die Klägerin, es habe die Vermögensabgabe auf deren Namen umgebucht, war nicht geeignet, Rechtswirkungen im Sinne einer Ankündigung eines Leistungsgebots nach § 330 Abs. 1 AO auszulösen. Ob dieser Mitteilung überhaupt ein Verfügungscharakter im Sinne der §§ 91 f. AO (§ 203 Abs. 1 LAG) zuerkannt werden kann, ist zweifelhaft. Soweit in der Abgabenordnung oder in den einzelnen Steuergesetzen ein bestimmter Inhalt des Bescheids oder eine bestimmte Form für die Inanspruchnahme des Steuerschuldners oder eines Dritten zwingend vorgeschrieben ist, sind Verfügungen nichtig, die diesen Erfordernissen nicht gerecht werden. Nachdem das FA die Kommanditistin C im Juni 1962 durch einen für endgültig erklärten Bescheid als Abgabeschuldnerin zur Vermögensabgabe herangezogen hatte, konnte es an deren Stelle nicht die Klägerin durch schlichte Umbuchung zur Entrichtung fällig gewordener und künftig fällig werdender Vierteljahrsraten verpflichten. Selbst die Lastenausgleichsbuchungsbestimmungen, die nur innerdienstliche Bedeutung haben und keine Rechtsnormen darstellen, rechtfertigen nicht eine derartige kassenmäßige Behandlung des Abgabefalls, weil es im Streitfall bis 1971 an einem entsprechenden Leistungsgebot gefehlt hat.
Bei dieser Auffassung konnte der Senat die Frage dahingestellt sein lassen, ob die Heranziehung der Klägerin auch deshalb ermessensfehlerhaft ist, weil eine durch den Eintritt des Komplementärs C in das bestehende Einzelunternehmen nach § 28 Abs. 1 HGB ausgelöste Haftung eine Inanspruchnahme für den Teil der Vermögensabgabe bedeuten könnte, der auf das verlorengegangene Vermögen entfällt (vgl. Urteil des Senats III R 40/66 vom 14. November 1969, BFH 98, 298, BStBl II 1970, 478). Die vom Senat in diesem Urteil entwickelten Grundsätze gelten für alle Fälle, in denen jemand kraft Gesetes zur Erfüllung fremder Verbindlichkeiten verpflichtet wird. Aus diesem Grund macht es entgegen der Meinung des FG keinen Unterschied, daß dem Urteil vom 14. November 1969 (a. a. O.) ein Fall der vertraglichen Vermögensübernahme im Sinne des § 419 BGB zugrunde gelegen hat. Daß der Umfang der Haftung bei der Übernahme eines Vermögens nach § 419 BGB vertraglich nicht ausgeschlossen werden kann, aber auf das übernommene Vermögen beschränkt ist, während die Haftung nach § 28 Abs. 1 HGB der Höhe nach unbeschränkt sämtliche Geschäftsschulden umfaßt, aber ausgeschlossen werden kann und eine solche abweichende Vereinbarung einem Dritten gegenüber wirksam ist; wenn sie in das Handelsregister eingetragen und bekanntgemacht oder von einem Gesellschafter dem Dritten mitgeteilt worden ist (§ 28 Abs. 2 HGB), ist für die hier im Rahmen des Ermessens vorzunehmende Prüfung, ob die Inanspruchnahme der Klägerin für die Vermögensabgabe der Billigkeit entspricht, ohne Bedeutung.
Bei dieser Entscheidung konnte der Senat außerdem die Frage offenlassen, ob die Vermögensabgabe am 1. Januar 1960 beim Einbringen des Einzelunternehmens in die neu gegründete KG überhaupt noch eine Betriebsschuld war.
Da das FG von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen ist, war die Vorentscheidung aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Das Leistungsgebot vom 2. April 1971 war ersatzlos aufzuheben.
Fundstellen
Haufe-Index 70279 |
BStBl II 1973, 151 |
BFHE 1973, 248 |