Leitsatz (amtlich)
1. Zur Behandlung von Beweisanträgen der Beteiligten im Steuerprozeß.
2. Hat ein Steuerpflichtiger seinen Steuerbescheid einer zuverlässigen Botin unter ausdrücklichem Hinweis auf die Bedeutung des Falls zur Weiterleitung an seinen Steuerberater übergeben und konnte er damit rechnen, daß die Botin den Bescheid wie üblich alsbald weiterleiten werde, so kann ein Verschulden des Steuerpflichtigen nicht ohne weiteres darin erblickt werden, daß er sich um den weiteren Verbleib des Bescheids nicht kümmerte. Zur Feststellung des Verschuldens bedürfte es in diesem Fall besonderer Umstände.
Normenkette
AO § 86; FGO § 94
Tatbestand
Die steuerpflichtigen Ehegatten (Steuerpflichtigen) wurden für das Jahr 1963 zur Einkommensteuer veranlagt, ohne daß ihrem Antrag, ihnen für ihre Tochter einen Kinderfreibetrag zu gewähren und den für diese vorgesehenen Pauschbetrag für Körperbehinderte auf sie zu übertragen, stattgegeben wurde. Den Einspruch, den die Steuerpflichtigen am 2. Juni 1965 gegen den am 8. April 1965 zur Post aufgegebenen Bescheid einlegten, verwarf das FA als unzulässig. Nachsicht war, so führte das FA aus, den Steuerpflichtigen nicht zu gewähren, weil sie die Fristversäumnis verschuldet hätten.
Die Klage blieb ohne Erfolg. Wie das FA, so kam auch das FG, dessen Urteil in EFG 1967, 310 veröffentlicht ist, zu dem Ergebnis, daß die Fristversäumnis verschuldet sei.
Mit ihrer Revision rügen die Steuerpflichtigen Verletzung von Verfahrensvorschriften und unrichtige Anwendung des bestehenden Rechts. Der Sachverhalt, so machen sie geltend, sei unzutreffend dargestellt, weil die Aussagen zweier Zeugen fehlten, deren Vernehmung beantragt, aber vom FG nicht angeordnet worden sei. Obwohl der Antrag in der mündlichen Verhandlung vor dem FG wiederholt worden sei, sei er nicht in das Protokoll aufgenommen oder gewürdigt worden. Ihre Begründung sei in das Protokoll ebenfalls nicht aufgenommen worden. Ihnen sei das Protokoll auch nicht vorgelesen worden, so daß sie keine Möglichkeit gehabt hätten, auf Ergänzungen hinzuwirken. In der mündlichen Verhandlung sei zudem ihrem Bevollmächtigten keine ausreichende Gelegenheit gegeben worden, das ihm erforderlich Erscheinende vorzutragen. Von einer Erörterung des Sach- und Streitstandes könne keine Rede gewesen sein. Wie die Richter eingestellt gewesen seien, sei aus einigen Bemerkungen während der Verhandlung deutlich geworden. Aus den Akten sei auch nicht ersichtlich, ob das FG ordnungsmäßig besetzt gewesen sei. Zur Sache selbst müsse einer strengen Handhabung des § 86 AO widersprochen werden. Der Steuerpflichtige sei 68 Jahre alt; zwei seiner drei Kinder seien unheilbar krank; er sei von familiären Sorgen belastet, erfreue sich selbst keiner guten Gesundheit und führe trotzdem seinen Verlag und Druckereibetrieb. Das FG habe zu Unrecht angenommen, daß die Botin nicht unterwiesen worden sei. Es sei Beweis dafür angeboten worden, daß der Steuerpflichtige ihr den Bescheid übergeben habe mit der ausdrücklichen Weisung, den Bescheid unverzüglich dem Bevollmächtigten zuzuleiten, und daß sich die Botin über den Auftrag auch im klaren gewesen sei. Hier noch von einer besonderen Überwachungspflicht zu sprechen, sei eine Überspannung. Entscheidend sei, daß er als Botin eine Buchhalterin ausgewählt habe, die ihm aus jahrelanger Mitarbeit als zuverlässig bekannt gewesen sei.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision muß zur Aufhebung der Vorentscheidung führen.
In das Protokoll über die mündliche Verhandlung brauchten nicht alle Anträge und Ausführungen der Beteiligten aufgenommen zu werden. Was ins Protokoll aufzunehmen ist, ergibt sich aus § 94 Abs. 2 FGO. Insbesondere ist dort den Beteiligten die Möglichkeit gegeben, auf die Aufnahme bestimmter Vorgänge und Äußerungen hinzuwirken. Daß der Bevollmächtigte solche Anträge gestellt habe, geht aus dem Protokoll und aus dem Vortrag der Steuerpflichtigen nicht hervor. Was die Rüge, das Protokoll sei nicht vorgelesen worden, angeht, so übersehen die Steuerpflichtigen, daß das Protokoll nur unter bestimmten Voraussetzungen, die hier nicht gegeben sind, vorzulesen ist (§ 94 Abs. 3 FGO).
Mit Recht rügen die Steuerpflichtigen aber, daß das FG ihren Beweisantrag nicht richtig behandelt habe. Wenngleich im Protokoll über die mündliche Verhandlung nur die Sachanträge enthalten sind, so waren die Beweisanträge doch schon in dem Schriftsatz vom 4. April 1966, auf den sich das FG in seinem Urteil mitbezogen hat, gestellt.
Für den Geschäftsverkehr zwischen dem Steuerpflichtigen und dem Bevollmächtigten, für dessen Abwicklung die eine Zeugin benannt war, hat das FG offenbar als wahr unterstellt, daß der Steuerpflichtige seine steuerlichen Angelegenheiten ständig durch den Bevollmächtigten erledigen ließ. Dies entsprach dem Beweisthema. Insoweit hätte die Anhörung der Zeugin die Sache nicht weiter aufklären können.
Was die andere Zeugin angeht, so hat das FG, wie die Steuerpflichtigen behaupteten, angenommen, daß sie lediglich Botin gewesen sei. Es hat als wahr unterstellt, daß der Steuerpflichtige den jetzt angefochtenen Bescheid der Botin übergeben habe mit dem Hinweis, ihn wie üblich an den Bevollmächtigten weiterzuleiten. Das FG hat aber nicht auch unterstellt, daß der Steuerpflichtige die Botin auf die Dringlichkeit des Falles ausdrücklich hingewiesen habe, obwohl es rechtlich der Meinung ist, ein solcher Hinweis sei angebracht gewesen.
Wenn aber das FG in dieser Weise es für rechtlich bedeutsam hielt, ob der Steuerpflichtige der Botin einen solchen Hinweis gegeben habe, so durfte es von der Vernehmung der Zeugin nicht absehen. In dem Schriftsatz vom 4. April 1966 wird zwar als Beweisthema nur die Auftragserteilung an die Botin (Zeugin) genannt. In der Berufungsschrift vom 12. November 1965 ist aber gesagt, daß die benannte Zeugin "sich über die Tragweite und den Inhalt der ihr übertragenen Aufgabe zu jeder Zeit voll im klaren war und das auch bestätigt".
Unter diesen Umständen konnte das FG von der Vernehmung der Zeugin nicht absehen. Das FG hat zwar die Annahme, daß der Steuerpflichtige schuldhaft gehandelt habe, auch darauf gestützt, daß er sich um den weiteren Verbleib des Bescheids nicht gekümmert habe. Diese Feststellung steht aber neben der Feststellung, daß der Steuerpflichtige die Botin nicht auf die Bedeutung des Bescheids hingewiesen habe. Beide Feststellungen stehen danach im Zusammenhang. Es kann sein, daß, wenn die Aussage der Zeugin die Unrichtigkeit der einen Feststellung ergibt, auch die andere Feststellung in anderem Licht erscheint. Wenn der Steuerpflichtige bei der Übergabe des Bescheids die Botin ausdrücklich auf die Bedeutung des Bescheids hingewiesen hat und wenn er damit rechnen konnte, daß die Botin den Bescheid wie üblich alsbald weiterleiten würde, so kann man im übrigen nicht ohne weiteres ein Verschulden darin sehen, daß der Steuerpflichtige den weiteren Verbleib des Bescheids nicht mehr überwachte. Es bedurfte, um insoweit ein Verschulden des Steuerpflichtigen anzunehmen, der Feststellung besonderer Umstände.
Das angefochtene Urteil war danach wegen mangelnder Aufklärung aufzuheben. Die nicht spruchreife Sache war an das FG zu nochmaliger Entscheidung zurückzuverweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 412830 |
BStBl II 1968, 238 |
BFHE 1968, 572 |