Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld: Berücksichtigung von Beiträgen eines beihilfeberechtigten Kindes zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung, Änderung nach § 173 Abs. 1 AO
Leitsatz (NV)
1. Die Beiträge eines beihilfeberechtigten Kindes für eine private Kranken- und Pflegeversicherung sind nicht in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einzubeziehen, soweit sie auf Tarife entfallen, mit denen der von der Beihilfe nicht freigestellte Teil der beihilfefähigen Aufwendungen für ambulante, stationäre und zahnärztliche Heilbehandlungen abgedeckt wird.
2. Ein Kindergeldbescheid darf wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen oder Beweismittel zu Gunsten des Kindergeldberechtigten nicht nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO aufgehoben oder geändert werden, wenn die Familienkasse bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel nicht anders entschieden hätte.
Normenkette
AO § 173 Abs. 1 Nr. 2; EStG § 32 Abs. 4 S. 2
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) hat eine im Jahr 1978 geborene Tochter, eine in Teilzeit beschäftigte Beamtin, die Rechtswissenschaften studiert.
Am 8. März 2004 beantragte die Klägerin Kindergeld für ihre Tochter für das Jahr 2003. Der Bruttoarbeitslohn der Tochter betrug im Jahr 2003 12 736,62 €. Die Klägerin erklärte Werbungs- und Ausbildungskosten der Tochter in Höhe von 5 576 €.
Mit Bescheid vom 25. März 2004 lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Antrag mit Wirkung ab Januar 2003 ab, da die Einkünfte und Bezüge der Tochter den maßgeblichen Grenzbetrag von 7 188 € im Kalenderjahr 2003 (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der für das Jahr 2003 geltenden Fassung --EStG--) überschritten; die Werbungskosten erkannte die Familienkasse bei ihrer Berechung nur in Höhe von 3 564,09 €, die Ausbildungskosten in Höhe von 403,20 € an.
Mit Schreiben vom 29. April 2004, welches der Familienkasse am 3. Mai 2004 zuging, legte die Klägerin der Familienkasse "im Nachgang zu ihrem bereits gestellten Antrag" eine Kopie des Einkommensteuerbescheids der Tochter für das Jahr 2003 vor, in dem die Werbungskosten in Höhe von 5 576 € angesetzt worden waren, und bat, Kindergeld für das Jahr 2003 festzusetzen.
Mit Bescheid vom 26. Mai 2004 lehnte die Familienkasse den Antrag erneut ab. Es sei keine Änderung gegenüber den bereits im Bescheid vom 25. März 2004 berücksichtigten Werbungskosten festzustellen. Der Einkommensteuerbescheid der Tochter stelle für die Festsetzung des Kindergeldes keinen Grundlagenbescheid dar.
Hiergegen legte die Klägerin am 7. Juni 2004 Einspruch ein. In der Begründung ihres Einspruchs gab die Klägerin an, sie habe einen Bescheid vom 25. März 2004 nie erhalten. Die Familienkasse wies den Einspruch als unbegründet zurück. Die Einkünfte der Tochter im Jahr 2003 überschritten den Grenzbetrag in Höhe von 7 188 €, da von den Einnahmen aus nichtselbstständiger Arbeit in Höhe von 12 736,62 € nur Werbungskosten bzw. Ausbildungskosten in Höhe von 4 559,59 € abzusetzen seien.
Im Klageverfahren gab das Finanzgericht (FG) der Klägerin auf, die Aufwendungen der Tochter für die Sozialversicherung sowie für Beiträge zu einer Krankenversicherung nachzuweisen. Die Klägerin wies daraufhin für das Jahr 2003 Beiträge der Tochter in Höhe von insgesamt 2 182 € für eine private Kranken- und Pflegeversicherung nach. Unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids verpflichtete das FG die Familienkasse, der Klägerin für das Jahr 2003 Kindergeld zu gewähren. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2006, 273 veröffentlicht.
Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse die Verletzung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG.
Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Für die rechtliche Beurteilung, ob das FG die Familienkasse zu Recht verpflichtet hat, Kindergeld für das Jahr 2003 zu gewähren, kommt es darauf an, ob der Ablehnungsbescheid vom 25. März 2004 gegenüber der Klägerin wirksam und bestandskräftig geworden ist. Dies kann der Senat mangels tatsächlicher Feststellungen des FG nicht beurteilen. Das Fehlen ausreichender Feststellungen ist ein materieller Fehler, der auch ohne Rüge zur Aufhebung des FG-Urteils führt (Senatsurteil vom 4. November 2004 III R 73/03, BFHE 207, 327, BStBl II 2005, 290, m.w.N.).
Das FG hat in seinem Urteil nicht berücksichtigt, dass die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für das Jahr 2003 sowohl mit Bescheid vom 25. März 2004 als auch mit Bescheid vom 26. Mai 2004 abgelehnt hat. Dementsprechend hat es nicht festgestellt, ob und ggf. wann der Bescheid vom 25. März 2004 der Klägerin zugegangen ist. Der Zugang ist Voraussetzung für die wirksame Bekanntgabe eines Bescheids (vgl. § 122 Abs. 2 der Abgabenordnung --AO--) und damit für dessen Wirksamkeit gegenüber dem Steuerpflichtigen (§ 124 Abs. 1 Satz 1 AO). Der Familienkasse obliegt dabei der volle Beweis über den Zugang des Bescheids, wenn der Kindergeldberechtigte bestreitet, dass ihm der Bescheid überhaupt zugegangen ist. Dieser Beweis kann auf Indizien gestützt und im Wege der freien Beweiswürdigung geführt werden. Auf den sog. Anscheinsbeweis, der auf einen typischen, nicht aber auf den tatsächlichen Geschehensablauf abstellt, kann der Zugangsnachweis nach § 122 Abs. 2 AO hingegen nicht gestützt werden (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 14. März 1989 VII R 75/85, BFHE 156, 66, BStBl II 1989, 534, und vom 12. März 2003 X R 17/99, BFH/NV 2003, 1031, jeweils m.w.N.). Der Zeitpunkt der Bekanntgabe ist seinerseits maßgeblich für den Ablauf der Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 AO und damit den Eintritt der Bestandskraft des Bescheids.
Wäre der Bescheid vom 25. März 2004 der Klägerin wirksam bekannt gegeben worden und hätte die Klägerin nicht innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 AO Einspruch eingelegt, stünde die Bestandskraft des Bescheids vom 25. März 2004 einer Kindergeldfestsetzung für das Jahr 2003 entgegen. Eine Änderung dieses Bescheids nach §§ 172 ff. AO oder § 70 Abs. 2 bis 4 EStG käme nicht in Betracht (vgl. Senatsurteil vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).
Insbesondere wäre eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO aufgrund der gezahlten Beiträge der Tochter zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung nicht zulässig, weil die Familienkasse auch bei ursprünglicher Kenntnis dieser Tatsachen nicht anders entschieden hätte (vgl. Senatsurteil vom 19. Oktober 2006 III R 31/06, BFH/NV 2007, 392, m.w.N.). Im Zeitpunkt des Bescheiderlasses am 25. März 2004 minderten die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge sowohl nach der Rechtsprechung des BFH (BFH-Urteil vom 4. November 2003 VIII R 59/03, BFHE 204, 126, BStBl II 2004, 584) als auch nach Abschnitt 63.4.2.1 Abs. 2 Satz 6 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes (DA-FamEStG), Stand August 2004 (BStBl I 2004, 743), nicht die Einkünfte des Kindes. Dies galt erst recht für Beiträge zu einer privaten Kranken- und Pflegeversicherung.
Zur Festsetzung von Kindergeld für das Jahr 2003 wäre die Familienkasse hingegen dann verpflichtet, wenn der Bescheid vom 25. März 2004 gegenüber der Klägerin nicht wirksam geworden wäre oder die Klägerin zumindest innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 AO Einspruch eingelegt hätte, wobei das Schreiben der Klägerin vom 29. April 2004 als Einspruch gewertet werden könnte, sofern die Einspruchsfrist nicht vor dem 3. Mai 2004 abgelaufen wäre.
Die Einkünfte und Bezüge der Tochter überschreiten im Streitfall unter Berücksichtigung ihrer Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung nicht den Grenzbetrag in Höhe von 7 188 €. Die Beiträge eines beihilfeberechtigten Kindes --wie der Tochter der Klägerin-- für eine private Kranken- und Pflegeversicherung sind nicht in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einzubeziehen, soweit sie auf Tarife entfallen, mit denen der von der Beihilfe nicht freigestellte Teil der beihilfefähigen Aufwendungen für ambulante, stationäre und zahnärztliche Heilbehandlungen abgedeckt wird (Senatsurteil vom 14. Dezember 2006 III R 24/06, BFH/NV 2007, 586).
Fundstellen
Haufe-Index 1766257 |
BFH/NV 2007, 1458 |