Leitsatz (amtlich)
Hat ein Steuerpflichtiger wegen eines Irrtums seiner Buchhalterin in der Umsatzsteuererklärung die Bruttoumsätze als Bemessungsgrundlage erklärt, so liegt darin noch nicht ohne weiteres ein grobes Verschulden.
Orientierungssatz
Ausführungen zu den Begriffen "grobes Verschulden" und "grobe Fahrlässigkeit", insbesondere im Zusammenhang mit den Sorgfaltspflichten bei Erstellung und Abgabe einer Steuererklärung, sowie Ausführungen zum Zurechnen des groben Verschuldens eines Angestellten und zur revisionsgerichtlichen Überprüfung der tatsächlichen Feststellungen des FG zum Vorliegen einer groben Fahrlässigkeit (vgl. BFH-Rechtsprechung).
Normenkette
AO 1977 § 173 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; FGO § 118 Abs. 2
Tatbestand
Der im Jahre 1904 geborene Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist von Beruf Ingenieur. Er war seit dem Jahre 1945 selbständig tätig und betrieb in den Streitjahren ein Unternehmen für Feinmechanik (Entwurf und Ausführung wissenschaftlicher Geräte).
Die Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre erstellte der Kläger unter Mitwirkung seiner Kontoristin selbst. Für die Streitjahre veranlagte ihn der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) zur Umsatzsteuer im wesentlichen entsprechend seinen Angaben in den Steuererklärungen. Dies führte dazu, daß die Bruttoerlöse der Besteuerung unterworfen wurden. Nachdem die Buchhalterin des Klägers aufgrund von Fachgesprächen mit dem jetzigen Prozeßbevollmächtigten den Fehler in den Umsatzsteuererklärungen erkannt hatte, reichte der Kläger mit Schreiben vom 21.Juni 1977 berichtigte Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 1968 bis 1976 ein. Er beantragte eine Berichtigung der bestandskräftigen Umsatzsteuer-Veranlagungen und Erstattung der Umsatzsteuer in Höhe von insgesamt 17 502 DM.
Das FA lehnte die beantragte Berichtigung mit Bescheid vom 28.Juni 1977 ab. Zur Begründung führte es aus, der Kläger habe es grob verschuldet, daß die zu einer niedrigeren Steuerfestsetzung führenden Tatsachen erst nachträglich bekanntgeworden seien. Mit der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage wandte sich der Kläger gegen den Vorwurf des groben Verschuldens: Unkenntnis steuerrechtlicher Vorschriften allein begründe noch nicht den Vorwurf groben Verschuldens (Bezugnahme auf das Einführungsschreiben zur Abgabenordnung --AO 1977--, BStBl I 1976, 576, 611, zu § 173 Nr.4). Er selbst sei kaufmännisch nicht vorgebildet und sei auch nicht verpflichtet gewesen, rechtskundige Hilfe zur Erledigung seiner Steuerangelegenheiten in Anspruch zu nehmen. Mit sämtlichen kaufmännischen Arbeiten einschließlich der Buchführung und der Vorbereitung der Bilanzen und Steuererklärungen habe er seine Buchhalterin beauftragt, die nach seiner Überzeugung in der Lage gewesen sei, die Arbeiten ordnungsgemäß zu erledigen. Auch die Nichtbeachtung des in den Erklärungsvordrucken enthaltenen ausdrücklichen Hinweises auf die ab 1968 geltende Nettobesteuerung könne nicht als grobes Verschulden gewertet werden; denn er habe diesen Hinweis nicht verstehen können. Er habe stets in seiner Werkstatt mitgearbeitet und seinen Betrieb gewissenhaft geführt. Prüfungen durch Sozialversicherungsträger und FÄ hätten nie zu Beanstandungen geführt. Auch habe er der Einführung der Mehrwertsteuer ausreichende Beachtung geschenkt. In der Übergangsphase habe er Kurse der Handwerkskammer besucht und die dort erworbenen Kenntnisse an seine Buchhalterin weitergegeben. Er habe somit subjektiv alles Notwendige veranlaßt, um keinen Fehler zu machen. Damit treffe ihn kein Verschulden, auch wenn objektiv Fehler vorgekommen seien. Die Buchhalterin sei eine langjährige Mitarbeiterin gewesen, auf die er sich habe verlassen dürfen. Eine Überprüfung der aus der Buchführung stammenden Zahlen könne ihm als Unternehmer, insbesondere als Kleinunternehmer, nicht zugemutet werden.
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen.
Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung materiellen Rechts.
Er beantragt sinngemäß, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils das FA zu verpflichten, für die Jahre 1971 bis 1975 berichtigte Umsatzsteuerbescheide zu erlassen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
1. Nach § 173 Abs.1 Satz 1 Nr.2 (früher § 173 Abs.1 Nr.2) AO 1977 sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden.
Dem FA ist erst nachträglich bekanntgeworden, daß der Kläger die Umsatzsteuer rechtsfehlerhaft zu seinen Lasten nach den Bruttoentgelten berechnet hat. Die Wertung des FG, den Kläger treffe insoweit ein grobes Verschulden, hält der revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand.
2. a) Grobes Verschulden i.S. von § 173 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 ist Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zuzumutende Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 3.Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, 555, BStBl II 1983, 324; vom 26.August 1987 I R 144/86, BFHE 151, 299, BStBl II 1988, 109, jeweils mit Nachweisen). Als grobes Verschulden ist es in der Rechtsprechung angesehen worden, wenn ein Steuerpflichtiger seine Erklärungspflicht vorsätzlich verletzt (BFH-Urteil vom 28.März 1985 IV R 159/82, BFHE 144, 521, BStBl II 1986, 120). Grob schuldhaft ist ferner das Nichtbeachten einer ausdrücklich gestellten, auf einen ganz bestimmten Vorgang bezogenen Frage (BFH-Urteil vom 29.Juni 1984 VI R 181/80, BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693). Ein eigenes grobes Verschulden des Steuerpflichtigen kann darin liegen, daß er die von seinem steuerlichen Berater gefertigte Steuererklärung unterschreibt, obwohl ihm bei der Durchsicht der Steuererklärung ohne weiteres hätte auffallen müssen, daß steuermindernde Tatsachen oder Beweismittel nicht berücksichtigt sind (BFH-Urteil vom 28.Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2); ferner darin, daß der Steuerpflichtige seine Erklärungspflicht schlecht erfüllt, indem er unzutreffende oder unvollständige Erklärungen abgibt (BFH-Urteil vom 30.Oktober 1986 III R 163/82, BFHE 148, 208, BStBl II 1987, 161, m.w.N.).
Ob ein Beteiligter in diesem Sinne grob fahrlässig gehandelt hat, ist im wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG können mangels Verfahrensrügen in der Revisionsinstanz nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (BFHE 137, 547, 555 f., BStBl II 1983, 324; BFHE 151, 299, BStBl II 1988, 109).
b) Das FG hat zu hohe Anforderungen an die aus dem Begriff der groben Fahrlässigkeit abzuleitenden Sorgfaltspflichten gestellt. Darüber hinaus ist es dem Senat nicht möglich, die Rechtsfolgerungen des FG in vollem Umfang revisionsrechtlich zu überprüfen.
Es hat angenommen, dem Kläger könne angesichts seines Bildungsstandes nicht entgangen sein, daß gerade der Übergang von der Brutto- zur Nettobesteuerung das Kernstück der neuen Mehrwertsteuer gewesen sei. Daher könne im Streitfall unentschieden bleiben, inwieweit von einem Unternehmer steuerliche Kenntnisse verlangt werden könnten. Es sei indes unabdingbar zu fordern, daß der Kläger --um den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit zu vermeiden-- unter Beachtung des ausdrücklichen Hinweises im Erklärungsvordruck auf die Nettobesteuerung die Eintragung der tatsächlich feststehenden Zahlen überprüfe. Der Kläger könne sich nicht mit dem Einwand entlasten, er sei berechtigt gewesen, die Steuererklärungen im Vertrauen auf die stets zufriedenstellende Aufgabenerfüllung seiner Mitarbeiterin zu unterschreiben. Auch als Techniker habe er die Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten "nicht allein seiner Buchhalterin überlassen" dürfen. Es reiche nicht aus, daß der Kläger seinem eigenen Vortrag zufolge seine Kenntnisse über das neue Umsatzsteuerrecht an seine Mitarbeiterin weitergegeben habe. Gerade in der Übergangsphase vom alten zum neuen Recht hätte es sich dem Kläger aufdrängen müssen, daß er gehalten gewesen sei, seine Mitarbeiterin besonders sorgfältig dahin zu überwachen, ob sie die grundlegenden Systemänderungen beachtete. Darüber hinaus müsse von einem Unternehmer generell erwartet werden, "daß er die ihm zugänglichen Zahlenangaben in der Steuererklärung überprüft". Wenn er die Steuererklärungen "auch noch blindlings" unterschreibe, handle er damit in außerordentlich hohem Maße sorglos. - Diese Ausführungen sind nicht frei von Rechtsirrtum.
Es kann vom Steuerpflichtigen nicht uneingeschränkt verlangt werden, daß er die ihm zugänglichen Zahlenangaben in der Steuererklärung überprüft. Der Steuerpflichtige, der eine ihm aufgrund jahrelanger Erfahrung als zuverlässig bekannte und von ihm unterwiesene Buchhalterin beschäftigt, kann davon ausgehen, daß diese über das grundlegende Rüstzeug eines Buchhalters verfügt und deswegen in der Lage ist, die Nettoumsätze in ein Erklärungsformular zu übertragen. Die vom FG geforderte Kontroll- und Überwachungspflicht würde letztlich dazu führen, daß der Einsatz von Mitarbeitern sinnlos wäre, da er --trotz erheblichen Aufwands-- keine Entlastung des Unternehmers mit sich brächte. Dies gilt vor allem dann, wenn --wie im Streitfall-- ein Unternehmer in seinem Kleinbetrieb persönlich mitarbeitet und mit der Erstellung des kaufmännischen Rechnungswerks einen Mitarbeiter beauftragt. Das Verhalten des Klägers mag zwar den Vorwurf der einfachen Fahrlässigkeit begründen: Der Kläger hätte dafür Sorge tragen können, daß bei der arbeitsteiligen Erstellung der Umsatzsteuererklärung Mißverständnisse vermieden werden. Für den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit bedürfte es der Feststellung, daß der Kläger trotz des von ihm behaupteten Bemühens um korrekte Erfüllung seiner steuerlichen Verpflichtungen in anderer Hinsicht in nicht mehr zu entschuldbarem Maße sorglos gehandelt hat.
In tatsächlicher Hinsicht ist im übrigen nicht ersichtlich, worauf sich die Feststellung des FG gründet, der Kläger habe sich um die steuerlichen Belange seines Unternehmens "überhaupt nicht gekümmert". Im Hinblick auf das substantiierte Vorbringen des Klägers, er habe sich über die Auswirkungen des Mehrwertsteuersystems auf die betriebliche Praxis informiert und dementsprechend seine Buchhalterin in ausreichendem Umfang unterwiesen, hätte das FG die Gründe darlegen müssen, die für seine richterliche Überzeugung leitend gewesen sind (§ 96 Abs.1 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Dieser Mangel ist ein von Amts wegen zu beachtender Fehler bei der Anwendung des materiellen Rechts.
Der Kläger hätte ein etwaiges grobes Verschulden seiner Buchhalterin als eigenes Verschulden zu vertreten (BFHE 148, 208, 211, BStBl II 1987, 161). Das angefochtene Urteil enthält keine diesbezüglichen Feststellungen und tatrichterliche Würdigung.
3. Da die Vorentscheidung von anderen Rechtsgrundsätzen ausgeht, ist sie aufzuheben. Die nicht spruchreife Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO). Das FG wird unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut prüfen, ob dem Kläger oder seiner Buchhalterin grobes Verschulden vorzuwerfen ist.
Fundstellen
Haufe-Index 62144 |
BStBl II 1988, 713 |
BFHE 153, 304 |
BFHE 1989, 304 |
BB 1988, 1658-1659 (LT1) |
DB 1988, 2084 (LT) |
HFR 1988, 533 (LT) |