Entscheidungsstichwort (Thema)
Mangelnde Grundlage für die Würdigung des Gesamtbildes ist materiell-rechtlicher Fehler des FG-Urteils; Ort der Geschäftsleitung
Leitsatz (NV)
1. Der Ort der Geschäftsleitung bestimmt sich danach, wo die für die Geschäftsführung nötigen Maßnahmen von einiger Wichtigkeit getroffen werden. Befindet sich die Geschäftsführung nicht an einem einzigen Ort so ist maßgebend, wo sich die in organisatorischer und wirtschaftlicher Hinsicht bedeutungsvollste Stelle befindet. Der Ort des Sitzes eines Unternehmens ist nur dann - auch - Ort der Geschäftsleitung, wenn eine tatsächliche, örtliche Verknüpfung mit der Geschäftsführung des Unternehmens besteht.
2. Rechtfertigen die vom Finanzgericht fesgestellten Tatsachen die unter Abwägung des Gesamtbildes erforderliche Würdigung tatsächlicher Art nicht, daß sich die Geschäftsleitung eines Unternehmens an einem bestimmten Ort befinde, so ist das angefochtene Urteil wegen fehlerhafter Anwendung sachlichen Rechts - ohne daß eine Verfahrensrüge erhoben worden ist - aufzuheben.
3. Der Tatbestand des § 1 Abs. 1 BerlinFG ist dann nicht erfüllt, wenn die in Berlin (West) hergestellten Gegenstände aus Berlin (West) unmittelbar an den ausländischen Abnehmer versendet werden, ohne daß sie in das Bundesgebiet gelangt sind.
4. Zum Widerruf des Verzichts auf mündliche Verhandlung.
Normenkette
FGO § 90 Abs. 2, § 118 Abs. 2; AO 1977 §§ 10-11; BerlinFG § 1 Abs. 1, § 5 Abs. 2 Nr. 1
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betrieb in Berlin (West) ein Handelsgeschäft. Daneben war er Geschäftsführer einer GmbH, die ihren Sitz in der Stadt X im Bundesgebiet hatte. Die GmbH bezog u. a. auch Waren vom Kläger.
Im Anschluß an eine Betriebsprüfung vertrat der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) die Auffassung, daß es sich bei der GmbH nicht um einen westdeutschen Unternehmer i. S. von § 5 Abs. 2 des Berlinförderungsgesetzes (BerlinFG) handle, so daß Lieferungen an diese GmbH nicht begünstigt seien. Der Kläger übe seine Geschäftsführertätigkeit überwiegend in Berlin am Sitz seiner Einzelfirma aus, so daß davon auszugehen sei, daß auch alle für die GmbH bedeutsamen Entscheidungen in Berlin getroffen würden. Die GmbH sei auch nicht Betriebstätte des Berliner Unternehmens. Das FA versagte daher bei den Umsatzsteuerveranlagungen 19. . bis 19. . die vom Kläger für die Lieferungen an die GmbH gemäß § 1 Abs. 1 BerlinFG geltend gemachten Umsatzsteuerkürzungen. Der Einspruch blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hat der Klage stattgegeben.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 5 BerlinFG sowie fehlerhafte Tatsachenfeststellungen, weil das Urteil gegen den Akteninhalt verstoße.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise die Sache zur weiteren Sachaufklärung an das FG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -), weil die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz nicht ausreichen, um die Entscheidung zu rechtfertigen, die Geschäftsleitung der GmbH habe sich in X befunden (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 5. März 1968 II R 36/67, BFHE 92, 416, BStBl II 1968, 610); wegen des dem sachlichen Recht zugehörenden Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen kann offenbleiben, ob die Verfahrensrüge ordnungsgemäß erhoben worden ist.
1. Nach § 1 Abs. 1 BerlinFG ist ein Berliner Unternehmer zur Kürzung der von ihm geschuldeten Umsatzsteuer berechtigt, wenn er Gegenstände an einen westdeutschen Unternehmer liefert, die in Berlin (West) hergestellt worden sind und aus Berlin (West) in den übrigen Geltungsbereich des BerlinFG gelangt sind. Gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 1 BerlinFG ist westdeutscher Unternehmer ein Unternehmer, der seine Geschäftsleitung im übrigen Geltungsbereich des BerlinFG hat.
Geschäftsleitung ist der Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung (§ 15 Abs. 1 des Steueranpassungsgesetzes - StAnpG -, § 10 der Abgabenordnung - AO 1977 -); dieser bestimmt sich danach, wo die für die Geschäftsführung nötigen Maßnahmen von einiger Wichtigkeit angeordnet werden (vgl. BFH-Urteil vom 26. Mai 1970 II 29/65, BFHE 99, 553, BStBl II 1970, 759). Entscheidend ist das Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse des Einzelfalls (BFH-Urteil vom 3. August 1977 I R 128 /75, BFHE 123, 188, BStBl II 1977, 857). Befindet sich die Geschäftsleitung nicht an einem einzigen Ort, so ist der Mittelpunkt der geschäftlichen Oberleitung dort, wo sich die nach dem Gesamtbild der Verhältnisse in organisatorischer und wirtschaftlicher Hinsicht bedeutungsvollste Stelle befindet (vgl. Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 10 AO 1977 Tz. 2 a. E.).
2. Feststellungen, die unter Abwägung des Gesamtbildes der Verhältnisse eine Würdigung tatsächlicher Art dahin rechtfertigten, daß sich die Geschäftsleitung der GmbH in X befunden habe, hat das FG nicht getroffen. Die Vorentscheidung enthält insbesondere keine Feststellungen darüber, daß und welche für die Geschäftsführung nötigen Maßnahmen in den Geschäftsräumen der GmbH in X durch den Kläger als Geschäftsführer getroffen worden sind. Die Ausführungen des FG, daß bei den relativ wenigen Geschäften, welche die GmbH tätigte, der wöchentliche Aufenthalt von ein bis zwei Tagen ausgereicht habe, um die damit zusammenhängende Korrespondenz, Bankgeschäfte und Formalitäten abzuwickeln, besagt nicht, daß es sich dabei um geschäftsleitende Maßnahmen von einiger Wichtigkeit gehandelt habe, zumal das FG im nachfolgenden Satz seiner Entscheidung die genannten Maßnahmen als routinemäßige Geschäfte bezeichnet. Den Darlegungen des FG ist nicht einmal zu entnehmen, daß diese Maßnahmen tatsächlich vorgenommen worden sind. Nicht gefolgt werden könnte dem FG auch, wenn seine weiteren Ausführungen dahingehend zu verstehen wären, daß die für die Geschäftstätigkeit der GmbH wichtigen Verkaufsgespräche, die ausschließlich im Bundesgebiet bzw. auf Geschäftsreisen im Ausland stattgefunden haben sollen, dem Geschäftsort X zuzurechnen seien, weil Akte der Geschäftsleitung, die sich nicht unmittelbar am Sitz des Unternehmens, sondern an wechselnden Orten vollziehen, dem Sitz des Unternehmens zugerechnet würden, auf das sie sich beziehen. Eine rechtliche oder tatsächliche Grundlage für diese Aussage ist nicht erkennbar. Der - rechtliche - Sitz eines Unternehmens wird unabhängig von der Tätigkeit des Unternehmens durch Gesetz, Gesellschaftsvertrag oder ähnliches bestimmt (§ 15 Abs. 3 Satz 1 StAnpG, § 11 AO 1977). Der Ort des Sitzes eines Unternehmens ist nur dann - auch - Ort der Geschäftsleitung, wenn eine tatsächliche, örtliche Verknüpfung mit der Geschäftsführung des Unternehmens i. S. der § 15 Abs. 1 StAnpG, § 10 AO 1977 besteht (vgl. auch § 15 Abs. 3 Satz 2 StAnpG, wonach beim Fehlen einer Bestimmung über den Sitz der Ort als Sitz gilt, an dem sich die Geschäftsleitung befindet oder die Verwaltung geführt wird). Eine Beziehung der dargestellten Art hat das FG nicht festgestellt; sie läßt sich auch nicht aus den vom FG erwähnten Verkaufsgesprächen mit dem Verkaufsleiter der A-GmbH ableiten, die der Kläger in X geführt hat. Die Ausführungen des FG, diese Gespräche habe der Kläger zwar nicht unmittelbar für die GmbH geführt, sondern für sein Berliner Einzelunternehmen, sie seien jedoch auch mittelbar für die GmbH von Bedeutung, weil die GmbH vom Einzelunternehmen beliefert worden sei, enthalten keine konkreten Feststellungen darüber, ob und in welchem Umfang geschäftsleitende Entscheidungen für die GmbH getroffen worden sind. Feststellungen darüber, wo die sonstigen die Geschäftsführung der GmbH betreffenden Maßnahmen (z. B. Verhandlungen und Entscheidungen über Einkäufe, über Finanzierungen, Erstellung von Kalkulationen etc.) getroffen worden sind, enthält die Vorentscheidung nicht, so daß auch, soweit diese Geschäfte möglicherweise in Berlin (West) wahrgenommen worden sind, eine Würdigung der Umstände des Einzelfalls darüber fehlt, ob X oder Berlin als Ort der Geschäftsleitung zu beurteilen ist.
3. Bei seiner erneuten Entscheidung wird das FG im Rahmen der ihm obliegenden Verpflichtung, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO), nicht nur umfassende Ermittlungen im Hinblick auf den Ort der Geschäftsleitung zu treffen und die festgestellten Tatsachen zu würdigen haben. Das FG wird auch Ermittlungen darüber anzustellen haben, ob der Tatbestand des § 1 Abs. 1 BerlinFG auch insoweit erfüllt ist, als der Kürzungsanspruch des Berliner Unternehmers voraussetzt, daß die in Berlin (West) hergestellten Gegenstände aus Berlin (West) in den übrigen Geltungsbereich des BerlinFG gelangt sind. Anlaß hierzu hätte bereits im ersten Rechtszug deshalb bestanden, weil das FG ausgeführt hat, daß die GmbH an den Waren nicht weniger Verfügungsmacht erlangt habe als jeder andere Exporteuer in dem Fall, in dem der Hersteller die Ware unmittelbar an den ausländischen Abnehmer versendet. Ist die Ware aber nicht in das Bundesgebiet gelangt, so entsteht kein Kürzungsanspruch nach § 1 Abs. 1 BerlinFG. Zu prüfen wird auch sein, ob die GmbH Verfügungsmacht an den Waren erlangt hat, ggf. ob ein Reihengeschäft vorgelegen hat (vgl. BFH-Beschluß vom 17. Dezember 1981 V S 20 /80, BFHE 135, 92, BStBl II 1982, 279 zu 1. der Gründe).
4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
Der Senat konnte gemäß § 90 Abs. 2 FGO ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben. Dem Antrag des FA vom 12. August 1987, aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden, folgt der Senat nicht. Das FA hat sich bereits mit Schriftsatz vom 29. Mai 1984 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Diese Erklärung kann grundsätzlich nicht widerrufen werden. Eine wesentliche Änderung der Prozeßlage, die zu einer Aufhebung der Bindung an die abgegebene Erklärung führen würde, ist nicht deshalb eingetreten, weil für die den Streitjahren vorangegangenen Veranlagungszeiträume durch einen anderen Senat des BFH eine Entscheidung zuungunsten des FA getroffen worden ist; auch ohne diese Entscheidung bestand für das FA von vorneherein das Risiko, im vorliegenden Verfahren zu unterliegen.
Fundstellen