Entscheidungsstichwort (Thema)
Einheitlicher Erwerbsgegenstand: Bauvertrag als nachträglich bekannt gewordene Tatsache
Leitsatz (NV)
1. Tatsache i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind auch die Umstände, die einen grunderwerbsteuerrechtlich einheitlichen Erwerbsgegenstand begründen.
2. Eine Tatsache ist der Finanzbehörde dann i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bekannt, wenn sie positive Kenntnis erlangt hat.
3. Hat der Steuerpflichtige selbst das Finanzamt nicht über die änderungsrelevanten Tatsachen in Kenntnis gesetzt und gibt es auch für eine anderweitige Kenntniserlangung des Finanzamts keine Anhaltspunkte, ist regelmäßig von der Nichtkenntnis der Finanzbehörde zum Zeitpunkt des Erlasses des Ursprungsbescheides auszugehen; für eine Entscheidung nach den Grundsätzen der Feststellungslast ist in solchen Fällen kein Raum.
4. Die Verletzung der Anzeigepflicht nach § 19 Abs. 2 Nr. 1 GrEStG schließt es aus, gegenüber einer Änderung des Grunderwerbsteuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO Ermittlungsfehler des Finanzamts geltend zu machen.
Normenkette
AO § 173 Abs. 1 Nr. 1; GrEStG § 19 Abs. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) erwarb mit notariell beurkundetem Vertrag vom 15. Dezember 1998 von der Verkäuferin einen halben Miteigentumsanteil an einem mit einem Wohnblock bebauten Grundstück; der Kaufpreis betrug 140 500 DM. Das vormalig zuständige Finanzamt W setzte gegen den Kläger zunächst unter Zugrundelegung dieses Kaufpreises und, nachdem sich der Grundstückskaufpreis nach Vermessung auf 151 390 DM erhöht hatte, durch Änderungsbescheid vom 11. Dezember 2002 Grunderwerbsteuer in Höhe von 5 298 DM fest.
Der Kläger hatte mit der Verkäuferin am 16./17. Dezember 1998 einen privatschriftlichen Bauvertrag betreffend die Sanierung des Wohnblocks zu einem Pauschalpreis von 834 500 DM abgeschlossen. Dieser Bauvertrag war dem Finanzamt W nicht angezeigt worden. Im Zuge einer bei dem Kläger durchgeführten Außenprüfung hatte die Betriebsprüferin die Grunderwerbsteuerstelle des Finanzamts W hinsichtlich der Höhe der festgesetzten Grunderwerbsteuer befragt. Das für die Außenprüfung zuständige Finanzamt übermittelte dem Finanzamt W mit einer vom 28. November 2002 datierenden Kontrollmitteilung u.a. eine Kopie des Bauvertrags. Mit gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geändertem Bescheid vom 19. März 2003 setzte das Finanzamt W die Grunderwerbsteuer gegen den Kläger nach einer Bemessungsgrundlage von nunmehr 985 890 DM auf 34 506 DM (17 642,64 €) fest. Der Einspruch blieb erfolglos.
Die dagegen gerichtete Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) verneinte mangels nachträglicher Kenntnis des Finanzamts W von den die Erhöhung der grunderwerbsteuerrechtlichen Gegenleistung begründenden Tatsachen die Änderungsvoraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Das Finanzamt W habe bei Erlass des Grunderwerbsteuerbescheids vom 11. Dezember 2002 Kenntnis davon gehabt, dass die grunderwerbsteuerliche Gegenleistung nicht in vollem Umfang als Bemessungsgrundlage angesetzt worden sei. Die Anfrage der Betriebsprüferin habe für die Grunderwerbsteuerstelle nur sinnvoll sein können, wenn die Betriebsprüferin im Rahmen der Außenprüfung die Erkenntnis gewonnen habe, dass die Grunderwerbsteuer nicht auf die gesamte grunderwerbsteuerliche Gegenleistung erhoben worden sei.
Hiergegen richtet sich die Revision, mit der der Beklagte und Revisionskläger (das nunmehr zuständige Finanzamt --FA--) Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO rügt.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Der Rechtsauffassung des FG, dem Erlass des streitigen Änderungsbescheids stehe entgegen, dass dem Finanzamt W der Abschluss des Bauvertrags vom 16./17. Dezember 1998 bereits durch den Anruf der Betriebsprüferin in der Grunderwerbsteuerstelle und damit vor Erlass des Änderungsbescheids vom 11. Dezember 2002 i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bekannt geworden sei, kann der erkennende Senat nicht folgen.
Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.
a) Das FG ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass der Abschluss des Bauvertrags vom 16./17. Dezember 1998 eine "Tatsache" im Sinne dieser Vorschrift darstellt.
Tatsachen i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind alle Sachverhaltsbestandteile, die Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein können, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (ständige Rechtsprechung, z.B. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 27. Oktober 1992 VIII R 41/89, BFHE 170, 1, BStBl II 1993, 569; vom 30. Oktober 2003 III R 24/02, BFHE 204, 10, BStBl II 2004, 394; vom 13. Januar 2005 II R 48/02, BFHE 208, 392, BStBl II 2005, 451). Merkmal oder Teilstück des Grunderwerbsteuertatbestandes und damit Tatsachen i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind daher auch die Umstände, die einen grunderwerbsteuerrechtlich einheitlichen Erwerbsgegenstand begründen, insbesondere ein vom Erwerber geschlossener Bau-, Betreuungs- oder Geschäftsbesorgungsvertrag, der in objektiv engem sachlichem Zusammenhang mit dem Grundstückskaufvertrag steht (BFH-Urteile vom 13. Mai 1998 II R 67/96, BFH/NV 1999, 1; vom 14. Mai 2003 II R 25/01, BFH/NV 2003, 1395; vom 25. Januar 2006 II R 61/04, BFH/NV 2006, 1059).
b) Die festgestellten Tatsachen ergeben entgegen der Auffassung des FG nicht, dass dem Finanzamt W der Abschluss des Bauvertrags vom 16./17. Dezember 1998 durch das Telefonat mit der Betriebsprüferin und damit bereits vor Erlass des Änderungsbescheids vom 11. Dezember 2002 i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO "bekannt" geworden war.
Eine Tatsache ist dem FA dann im Sinne dieser Vorschrift bekannt, wenn es positive Kenntnis erlangt hat (v. Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 173 AO Rz 174, m.w.N.). Eine positive Kenntnis des Finanzamts W in diesem Sinne ergibt sich aus der Anfrage der Betriebsprüferin bei der Grunderwerbsteuerstelle nicht. Dass die Anfrage für das Finanzamt W --wie das FG meint-- nur aufgrund von der Betriebsprüferin gewonnener Erkenntnisse über eine zu niedrig festgesetzte Grunderwerbsteuer "sinnvoll" gewesen sei, bewirkt noch keine positive Kenntnis von einem im Zusammenhang mit dem Grundstückskaufvertrag abgeschlossenen Bauvertrag. Insoweit kann die Anfrage der Betriebsprüferin für das Finanzamt W allenfalls die Vermutung einer bislang zu niedrig festgesetzten Grunderwerbsteuer hervorgerufen haben. Anhaltspunkte dafür, dass die Betriebsprüferin dem Finanzamt W den konkreten Inhalt des Bauvertrags vom 16./17. Dezember 1998 mitgeteilt hat, sind nicht ersichtlich.
Ob --wie vom FG festgestellt-- die Betriebsprüferin bereits im Zeitpunkt ihrer Anfrage erkannt hatte, dass nicht die volle Grunderwerbsteuer erhoben worden war, ist unerheblich. Das Wissen eines Betriebsprüfers ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH der Veranlagungsstelle grundsätzlich nicht zuzurechnen (z.B. BFH-Urteile vom 29. September 1999 III R 50/98, BFH/NV 2000, 341; vom 15. Oktober 1998 IV R 18/98, BFHE 187, 250, BStBl II 1999, 286).
Die Vorentscheidung war danach aufzuheben.
2. Die Sache ist nicht spruchreif.
a) Das FG hat nicht geprüft, ob das Finanzamt W vor Erlass des Änderungsbescheids vom 11. Dezember 2002 auf andere Weise als durch den Anruf der Betriebsprüferin Kenntnis vom Abschluss des Bauvertrags vom 16./17. Dezember 1998 erlangt hatte, etwa aufgrund der Kontrollmitteilung vom 28. November 2002. Dabei trägt zwar grundsätzlich das FA die objektive Beweislast (Feststellungslast) dafür, dass die für die Änderung des Bescheids erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen vorliegen, insbesondere dafür, dass ihm Tatsachen nachträglich bekannt geworden sind (BFH-Urteile vom 13. Dezember 1985 III R 183/81, BFHE 146, 320, BStBl II 1986, 441; vom 23. Januar 2002 XI R 55/00, BFH/NV 2002, 1009, m.w.N.). Für eine Entscheidung nach den Grundsätzen der Feststellungslast ist aber kein Raum, wenn das FA vom Steuerpflichtigen selbst über die änderungsrelevanten Tatsachen nicht in Kenntnis gesetzt worden ist und es auch für eine anderweitige Kenntniserlangung keine Anhaltspunkte gibt. In einem solchen Fall ist regelmäßig von der Nichtkenntnis der Finanzbehörde zum Zeitpunkt des Erlasses des Ursprungsbescheids auszugehen (BFH-Urteil in BFH/NV 1999, 1; Frotscher in Schwarz, AO, § 173 Rz 66).
b) Ergibt die weitere Aufklärung des Sachverhalts, dass das Finanzamt W erst nach Erlass des Änderungsbescheids vom 11. Dezember 2002 von dem Bauvertrag Kenntnis erlangt hat, stand der Änderung der Steuerfestsetzung der Grundsatz von Treu und Glauben nicht entgegen.
aa) Nach diesem Grundsatz kann das FA zwar trotz einer nachträglich bekannt gewordenen rechtserheblichen Tatsache an der Änderung eines Steuerbescheids zuungunsten des Steuerpflichtigen gehindert sein, wenn ihm die Tatsache infolge Verletzung seiner Ermittlungspflichten zunächst unbekannt geblieben war. Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Steuerpflichtige seinerseits die ihm obliegenden Mitwirkungspflichten erfüllt hat (BFH-Urteile vom 10. April 1997 IV R 47/96, BFH/NV 1997, 757; vom 4. März 1999 II R 79/97, BFH/NV 1999, 1301). Da der Steuerpflichtige derjenige ist, dem der Sachverhalt bekannt ist, weil er ihn verwirklicht hat, und der als Erster durch Abgabe einer vollständigen Steuererklärung oder Anzeige tätig zu werden hat, schließt eine lückenhafte Unterrichtung der Steuerbehörden es für gewöhnlich aus, gegenüber einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO Ermittlungsfehler der Behörde geltend zu machen (BFH-Urteil in BFH/NV 2006, 1059).
bb) Eine solche Verletzung der Mitwirkungspflicht des Klägers liegt hier vor. Gemäß § 19 Abs. 2 Nr. 1 des Grunderwerbsteuergesetzes war der Bauvertrag, da sich aus diesem unter Zugrundelegung der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zum einheitlichen Erwerbsgegenstand eine Erhöhung der der Besteuerung zugrunde zu legenden Gegenleistung durch Gewährung von zusätzlichen Leistungen neben dem vereinbarten Grundstückspreis ergab, dem zuständigen FA anzuzeigen (BFH-Urteile vom 30. Oktober 1996 II R 69/94, BFHE 181, 341, BStBl II 1997, 85, und in BFH/NV 2006, 1059). Dieser Anzeigepflicht hat der Kläger nicht entsprochen. Es genügt nicht, wenn er den Bauvertrag einem anderen FA übermittelt haben sollte. Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH (Urteile vom 21. Juni 1995 II R 11/92, BFHE 178, 228, BStBl II 1995, 802; vom 1. Dezember 2004 II R 10/02, BFH/NV 2005, 1365; vom 11. Juni 2008 II R 55/06, BFH/NV 2008, 1876) wird die Anzeigepflicht nur durch Übermittlung der Anzeige an die Grunderwerbsteuerstelle des zuständigen FA erfüllt.
Fundstellen
Haufe-Index 2204532 |
BFH/NV 2009, 1599 |
HFR 2010, 3 |