Entscheidungsstichwort (Thema)
Offenbare Unrichtigkeit bei Auswertung eines Prüfungsberichts
Leitsatz (NV)
Hat der für die Veranlagung zuständige Finanzbeamte bei Erlass eines Steuerbescheides Teile eines Prüfungsberichts nicht ausgewertet und kann ausgeschlossen werden, dass dies aufgrund rechtlicher Überlegungen geschah, ist der Steuerbescheid offenbar unrichtig i.S. des § 129 AO 1977.
Normenkette
AO 1977 §§ 129, 176 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2; UStG 1991 § 24 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine aus Vater und Sohn bestehende Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR). Sie betreibt seit dem 1. Juli 1992 den ehemals vom Vater allein bewirtschafteten landwirtschaftlichen Betrieb, den dieser zum 1. Juli 1992 in die GbR eingebracht hatte. Der Vater unterlag der Durchschnittsatzbesteuerung nach § 24 des Umsatzsteuergesetzes 1991 (UStG).
Die Klägerin erklärte gegenüber dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ―FA)― gemäß § 24 Abs. 4 UStG, dass ihre Umsätze nach den allgemeinen Vorschriften des UStG besteuert werden sollten und machte in der Umsatzsteuererklärung für 1992 vom 11. Februar 1994 abziehbare Vorsteuerbeträge in Höhe von 45 438,70 DM geltend. Die Umsatzsteuer wurde der Erklärung entsprechend unter Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt.
Im Jahr 1995 führte das FA bei der Klägerin eine Außenprüfung durch, bei der der Prüfer u.a. feststellte, dass in der Umsatzsteuererklärung für 1992 Vorsteuerbeträge aus der Einbringung des Einzelunternehmens des Vaters in die GbR in Höhe von 30 520 DM geltend gemacht worden waren. Der Prüfer war hierzu der Auffassung, dass bei der Einbringung des Einzelunternehmens in die GbR gemäß § 24 Abs. 1 Sätze 2 und 3 UStG in der im Streitjahr 1992 geltenden Fassung ein Vorsteuerabzug entfalle (Tz. 15 des Prüfungsberichts vom 24. April 1995). Bei der Schlussbesprechung teilte die Klägerin diese Auffassung ausweislich des Prüfungsberichts (Tz. 30) nicht.
Mit Schreiben vom 4. Mai 1995 übersandte das FA den Prüfungsbericht an die Klägerin und gab ihr Gelegenheit, sich dazu vor Erlass des Änderungsbescheides zu äußern. Die Klägerin äußerte sich nicht.
Daraufhin änderte das FA mit Bescheid vom 4. Juli 1995 die Festsetzung der Umsatzsteuer für 1992 nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) und hob den Vorbehalt der Nachprüfung auf. Zur Begründung führte es aus, dass der Festsetzung die Ergebnisse der bei der Klägerin durchgeführten Prüfung zugrunde lägen; auf den Prüfungsbericht wurde verwiesen.
In dem Bescheid waren die abziehbaren Vorsteuerbeträge nach wie vor in der erklärten Höhe von 45 438,70 DM berücksichtigt und nur in Rechnungen unberechtigt ausgewiesene Steuerbeträge (Tz. 14 des Prüfungsberichts) abweichend von der Umsatzsteuererklärung festgesetzt. Tz. 15 des Prüfungsberichts (Kürzung der "Vorsteuer Leergut Großmarkt" in Höhe von 4 508,70 DM und "Vorsteuer aus Einbringung Einzelunternehmen" in Höhe von 30 520,00 DM) war in dem Bescheid ebenso wenig ausgewertet worden wie Tz. 17 ("Erhöhung Privatanteil Pkw").
Nachdem das FA bei einer zweiten Außenprüfung 1998 die nicht vollständige Auswertung des Prüfungsberichts festgestellt hatte, änderte es mit Bescheid vom 9. Dezember 1998 unter Berufung auf § 129 AO 1977 die Festsetzung der Umsatzsteuer für 1992 dahin, dass es nunmehr u.a. die Vorsteuerbeträge aus der Einbringung des Einzelunternehmens in die GbR nicht mehr berücksichtigte.
Der gegen diesen Bescheid eingelegte Einspruch blieb hinsichtlich der Vorsteuerbeträge aus der Einbringung des Einzelunternehmens erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) wies die daraufhin erhobene Klage der Klägerin ab. Es führte zur Begründung aus: Der Umsatzsteuer-Änderungsbescheid für 1992 vom 9. Dezember 1998 sei rechtmäßig. Dies ergebe sich aus dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 2. April 1998 V R 34/97 (BFHE 185, 536, BStBl II 1998, 695). Danach setze der Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG bei richtlinienkonformer Auslegung voraus, dass eine Steuer für den berechneten Umsatz geschuldet werde. Dies sei hier nicht der Fall.
Der ursprüngliche Umsatzsteuerbescheid für 1992 vom 4. Juli 1995 habe gemäß § 129 AO 1977 berichtigt werden dürfen. Die Nichtauswertung von Tz. 15 des Prüfungsberichts stelle eine "ähnliche offenbare Unrichtigkeit" im Sinne dieser Vorschrift dar. Das FA habe bei der Anwendung des § 129 AO 1977 auch ermessensfehlerfrei gehandelt.
Auf Vertrauensschutz könne sich die Klägerin nicht berufen. § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO 1977 sei im Bereich des § 129 AO 1977 nicht anwendbar; jedenfalls liege im Streitfall keine Änderung der Rechtsprechung i.S. des § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO 1977 durch das BFH-Urteil in BFHE 185, 536, BStBl II 1998, 695 vor. Auch habe dieses Urteil nicht eine allgemeine Verwaltungsvorschrift als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet (§ 176 Abs. 2 AO 1977).
Die Klägerin macht mit der Revision im Wesentlichen geltend, es liege keine offenbare Unrichtigkeit i.S. des § 129 AO 1977 vor, weil rechtliche Überlegungen des Sachbearbeiters des FA dazu geführt haben könnten, den Vorsteuerabzug entgegen dem Prüfungsbericht zu gewähren. Dazu habe der Sachbearbeiter § 15 Abs. 1 UStG und Abschn. 192 Abs. 6 der Umsatzsteuer-Richtlinien (UStR) in der für 1992 gültigen Fassung auslegen müssen.
Im Übrigen habe das FG gegen § 176 Abs. 1 Nr. 3 und § 176 Abs. 2 AO 1977 verstoßen. Seinen Entscheidungsgründen liege das BFH-Urteil in BFHE 185, 536, BStBl II 1998, 695 zugrunde, mit dem der BFH seine Rechtsprechung bezüglich des Abzuges der nach § 14 Abs. 2 UStG geschuldeten Steuer als Vorsteuer geändert habe, sowie der aufgrund dieses Urteils geänderte Abschn. 192 Abs. 6 UStR.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil, die Einspruchsentscheidung und den geänderten Umsatzsteuerbescheid für 1992 vom 9. Dezember 1998 aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet. Sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung FGO).
1. Der angefochtene Umsatzsteuer-Änderungsbescheid für 1992 vom 9. Dezember 1998 ist materiell rechtmäßig. Dies folgt aus der ―vom FG nicht berücksichtigten― Vorschrift des § 24 Abs. 1 Satz 8 UStG in der im Streitjahr 1992 geltenden Fassung.
a) Nach § 24 Abs. 1 Satz 1 UStG in der im Streitjahr 1992 geltenden Fassung wurde für die im Rahmen eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebes ausgeführten Umsätze die Steuer auf näher bestimmte Prozentsätze der Bemessungsgrundlage festgesetzt. Nach § 24 Abs. 1 Satz 2 UStG unterlagen die Umsätze im Rahmen einer Betriebsveräußerung nicht der Steuer. Eine Betriebsveräußerung im Sinne dieser Vorschrift lag vor, wenn ein land- und forstwirtschaftlicher Betrieb oder Teilbetrieb übereignet oder in eine Gesellschaft eingebracht wurde, auch wenn einzelne Wirtschaftsgüter davon ausgenommen wurden. Nach § 24 Abs. 1 Satz 8 UStG stand dem Leistungsempfänger abweichend von § 15 Abs. 1 UStG der Abzug des ihm gesondert in Rechnung gestellten Steuerbetrages nur bis zur Höhe der für den maßgeblichen Umsatz geltenden Steuer zu.
b) § 24 Abs. 1 Sätze 2 und 3 UStG waren mit Wirkung vom 1. Januar 1992 durch das Steueränderungsgesetz (StÄndG) 1992 vom 25. Februar 1992 (BGBl I 1992, 297) in das Umsatzsteuergesetz aufgenommen worden (vgl. Art. 12 Nr. 6 Buchst. a StÄndG 1992), und zwar mit folgender Begründung (vgl. BTDrucks 12/1506, S. 178):
"Durch die Änderung werden die Umsätze im Rahmen der Veräußerung eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebs oder Teilbetriebs einschließlich des Einbringens in eine Gesellschaft von der Durchschnittsatzbesteuerung ausgenommen. Zugleich wird bestimmt, daß diese Umsätze nicht der Umsatzsteuer unterliegen.
Die Änderung entspricht einer Anregung des Bundesrechnungshofs Der Bundesrechnungshof hat in seinem Bericht gemäß § 99 BHO BT-Drucksache 12/1040 festgestellt, daß
- die Gründung von Familienpersonengesellschaften in der
Landwirtschaft zu erheblichen Vorsteuererstattungen bei der Gesellschaft geführt hat, ohne daß der einbringende Landwirt die entsprechende Umsatzsteuer abzuführen hatte, und
- die Finanzverwaltung dieser Gestaltung mit der bisherigen Fassung des § 24 UStG sowie mit den abgabenrechtlichen Möglichkeiten des § 42 AO nicht wirksam begegnen konnte.
Die Änderung soll die unerwünschten Steuervorteile verhindern. Sie stellt andererseits sicher, daß sich keine steuerlichen Nachteile ergeben, wenn der Erwerber des Betriebs die Durchschnittsatzbesteuerung fortführt. Die Vorschrift greift auch dann ein, wenn der bisherige Betriebsinhaber Teile des Betriebsvermögens zurückbehält, z.B. wenn er die Grundstücke lediglich vermietet oder verpachtet. Sie erstreckt sich nicht auf einzelne Hilfsgeschäfte (z.B. Verkauf eines gebrauchten Traktors)."
c) Im Streitfall hatte der ―grundsätzlich der Durchschnittsatzbesteuerung nach § 24 Abs. 1 UStG unterliegende― Vater seinen Betrieb in die GbR (Klägerin) eingebracht. Es lag eine Betriebsveräußerung i.S. des § 24 Abs. 1 Sätze 2 und 3 UStG vor, die gemäß § 24 Abs. 1 Satz 8 UStG den Vorsteuerabzug der Klägerin als Leistungsempfängerin ausschloss (vgl. BFH-Urteil vom 15. Oktober 1998 V R 69/97, BFHE 187, 93, BStBl II 1999, 41).
Diese Rechtsfolge der Versagung des Vorsteuerabzugs der Klägerin ergab sich unmittelbar aus dem Gesetz und nicht erst aus dem BFH-Urteil in BFHE 185, 536, BStBl II 1998, 695, wie das FG angenommen hat.
2. Das FA durfte durch den angefochtenen Umsatzsteuer-Änderungsbescheid für 1992 vom 9. Dezember 1998 den ursprünglichen Umsatzsteuerbescheid für 1992 vom 4. Juli 1995 gemäß § 129 AO 1977 berichtigen. Dies hat das FG mit Recht entschieden.
a) Nach § 129 AO 1977 kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. "Ähnliche offenbare Unrichtigkeiten" sind mechanische Fehler, die ebenso mechanisch, d.h. ohne weitere Prüfung, erkannt und berichtigt werden können. Bei der nicht nur theoretischen Möglichkeit eines Rechtsirrtums liegt kein mechanisches Versehen und daher keine offenbare Unrichtigkeit vor, ebenso nicht bei einer unzutreffenden Tatsachenwürdigung, der unzutreffenden Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts oder bei Fehlern, die auf mangelnder Sachverhaltsaufklärung bzw. Nichtbeachtung feststehender Tatsachen beruhen (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 23. Juli 2002 VIII R 6/02, BFH/NV 2003, 1, m.w.N.).
Auch bei der Auswertung von Betriebsprüfungsberichten können offenbare Unrichtigkeiten i.S. des § 129 AO 1977 vorkommen, wenn ein Punkt des Berichts übersehen worden ist, wenn die Prüfungsvorstellungen in widersprüchlicher Weise ausgewertet oder Textziffern des Betriebsprüfungsberichts verwechselt worden sind oder wenn der gesamte Prüfungsbericht nicht ausgewertet worden ist (vgl. BFH-Urteil vom 28. Oktober 1988 III R 49/85, BFH/NV 1989, 341).
b) Im vorliegenden Fall stellt die ―noch allein streitige― Nichtauswertung von Tz. 15 des Prüfungsberichts, soweit es um die Vorsteuern aus der Einbringung geht, eine offenbare Unrichtigkeit i.S. des § 129 AO 1977 dar.
Dem vom FG festgestellten Sachverhalt ist zu entnehmen, dass der Sachbearbeiter bei Erlass des ursprünglichen Umsatzsteuerbescheids für 1992 vom 4. Juli 1995 den Prüfungsbericht vollständig auswerten wollte. Das ergibt sich daraus, dass er der Klägerin vor Erlass des Bescheides den Prüfungsbericht sandte und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme gab und dass er zur Begründung des Bescheids auf den Prüfungsbericht hinwies.
Es kann ausgeschlossen werden, dass die Nichtberücksichtigung aufgrund rechtlicher Überlegungen geschehen ist. Es sind keine Gründe erkennbar, die den Bearbeiter erwogen haben könnten, in Kenntnis der Prüfungsfeststellungen die vom Prüfer vorgesehene und begründete Vorsteuerkürzung nicht vorzunehmen. Die Rechtslage ergab sich eindeutig aus dem Gesetz. Die Klägerin war zwar in der Schlussbesprechung anderer Ansicht zur Beurteilung der Einbringung des Einzelunternehmens, hatte dies aber nicht schriftlich begründet. Vor allem aber hat der Sachbearbeiter bei der Auswertung des Prüfungsberichts beide den Vorsteuerabzug betreffende Beanstandungen des Außenprüfers in Tz. 15 des Prüfungsberichts in dem Bescheid vom 4. Juli 1995 und ferner auch die Tz. 17 nicht umgesetzt. Dies spricht eindeutig für ein Versehen und nicht für die Ansicht der Klägerin, rechtliche Überlegungen des Bearbeiters hätten dazu geführt haben können, den Vorsteuerabzug zu gewähren.
3. Auf Vertrauensschutz nach § 176 Abs. 1 Nr. 3 oder nach § 176 Abs. 2 AO 1977 kann sich die Klägerin nicht berufen.
Nach § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO 1977 darf bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids nicht zu Ungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass sich die Rechtsprechung eines obersten Gerichtshofs des Bundes geändert hat, die bei der bisherigen Steuerfestsetzung von der Finanzbehörde angewandt worden ist. Nach § 176 Abs. 2 AO 1977 darf bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids nicht zu Ungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, dass eine allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung, einer obersten Bundes- oder Landesbehörde von einem obersten Gerichtshof des Bundes als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet worden ist.
Die Voraussetzungen dieser Vorschriften liegen im Streitfall nicht vor. Der angefochtene Umsatzsteuer-Änderungsbescheid für 1992 vom 9. Dezember 1998 beruhte weder auf einer Änderung der Rechtsprechung noch darauf, dass eine allgemeine Verwaltungsvorschrift vom BFH als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet worden ist. Rechtsgrundlage des Bescheids ist vielmehr § 129 AO 1977 i.V.m. §§ 24 Abs. 1 Sätze 1, 2, 3 und 8 UStG.
Fundstellen