Entscheidungsstichwort (Thema)
Erneute Frage des FG nach Verzicht auf mündliche Verhandlung
Leitsatz (NV)
Hat der Kläger sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt und fragt das FG nach einem Wechsel des Prozeßbevollmächtigten erneut bei diesem an, ob der Kläger auf mündliche Verhandlung verzichte, verliert die frühere Verzichtserklärung ihre Wirkung, wenn der Kläger die Anfrage des FG verneint.
Normenkette
FGO § 90 Abs. 1-2, § 116 Abs. 1 Nr. 3, § 119 Nr. 4
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erhob nach erfolglosem Einspruchsverfahren Klage gegen den Beklagten und Revisionsbeklagten (das Finanzamt ―FA―). Der ehemalige Prozeßbevollmächtigte des Klägers erklärte auf Anfrage des Finanzgerichts (FG) den Verzicht auf mündliche Verhandlung. Nachdem der ehemalige Prozeßbevollmächtigte sein Mandat niedergelegt und der jetzige Prozeßbevollmächtigte sich bestellt hatte, fragte das FG erneut an, ob der Kläger auf mündliche Verhandlung verzichte. Der Prozeßbevollmächtigte verneinte die Frage. Das FG wies die Klage, vermutlich weil es diese Erklärung übersehen hatte, ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab; die Revision ließ es nicht zu.
Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung von § 90 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Er beantragt, das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision zu verwerfen.
Entscheidungsgründe
II. 1. Der Kläger konnte ―ungeachtet der Beschränkungen des Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs― Revision ohne vorherige Zulassung einlegen. Er hat Tatsachen vorgetragen, die einen wesentlichen Mangel i.S. des § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO ergeben, was die Einlegung der Revision ohne Zulassung eröffnet. Ein Verfahrensmangel im Sinne der genannten Vorschrift ist u.a. dann gegeben, wenn das FG zu Unrecht einen Verzicht auf mündliche Verhandlung angenommen und unter Verstoß gegen § 90 Abs. 1 und 2 FGO ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (z.B. Urteile des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 25. August 1982 I R 120/82, BFHE 136, 518, BStBl II 1983, 46; vom 9. Januar 1997 VII R 17/96, BFH/NV 1997, 507).
2. Im Streitfall durfte das FG nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil keine wirksame Erklärung des Klägers mehr vorlag, daß er auf mündliche Verhandlung verzichte.
a) Gemäß § 90 Abs. 1 Satz 1 FGO entscheidet das Gericht, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 90 Abs. 2 FGO). Der Kläger hatte zwar durch seinen früheren Prozeßbevollmächtigten das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Da jedoch das FG nach dem Wechsel des Prozeßbevollmächtigten erneut angefragt hatte, ob der Kläger auf mündliche Verhandlung verzichte, und der Kläger nunmehr durch seinen neuen Prozeßbevollmächtigten die Anfrage verneint hatte, lag im Zeitpunkt der Entscheidung des FG keine wirksame Einverständniserklärung i.S. des § 90 Abs. 2 FGO vor.
b) In der bisherigen Rechtsprechung ist ein "Verbrauch" des Verzichts auf mündliche Verhandlung dann angenommen worden, wenn das Gericht eine die Endentscheidung wesentlich sachlich vorbereitende Entscheidung erläßt (BFH-Urteil vom 5. März 1986 I R 28/81, BFH/NV 1987, 651, m.w.N.; vgl. dazu BFH-Urteil vom 5. Juli 1995 X R 39/93, BFHE 178, 301, BStBl II 1995, 842; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 90 FGO Tz. 11; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 90 Anm. 16). Desweiteren wird zum Teil im Schrifttum und in der Rechtsprechung für zulässig gehalten, daß der Verzicht auf mündliche Verhandlung ausnahmsweise widerrufen werden kann, wenn sich die Prozeßlage nach Abgabe der Einverständniserklärung wesentlich geändert hat (Tipke/Kruse, a.a.O., § 90 FGO Tz. 13 f.; Gräber/Koch, a.a.O., § 90 Anm. 14; BFH-Urteile vom 21. September 1989 V R 55/84, BFH/NV 1990, 353, unter 4.; vom 6. April 1990 III R 62/89, BFHE 160, 405, BStBl II 1990, 744, unter 2. b, bb; dagegen BFH-Urteil vom 4. April 1974 V R 161/72, BFHE 112, 316, BStBl II 1974, 532). Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, daß die Wirkungen eines Verzichts auf mündliche Verhandlung durch Handlungen des Gerichts oder ―ausnahmsweise― durch Erklärungen der Beteiligten entfallen können. Hinzu kommt als für die Entscheidung im Streitfall wesentlicher Umstand, daß das Gericht an die Verzichtserklärungen positiv nicht gebunden ist (vgl. Beschluß vom 8. Juni 1994 IV R 9/94, BFH/NV 1995, 129); der Erlaß einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ist in das Ermessen des Gerichts gestellt. Mangels Bindung des Gerichts im vorbeschriebenen Sinne und mit Rücksicht darauf, daß bei Veränderungen der Prozeßlage die Wirkung des Verzichts entfallen kann, muß der erneuten Anfrage des Gerichts ―nach einem Wechsel des Prozeßbevollmächtigen―, ob der Kläger auf mündliche Verhandlung verzichte, die Bedeutung beigemessen werden, daß durch diese Änderung der Prozeßlage der zuvor erklärte Verzicht gegenstandslos wird. Durch die erneute Anfrage ―nach einem Bevollmächtigtenwechsel― kehrt das Gericht in das Verfahrensstadium zurück, in dem der Beteiligte nach seinem Belieben das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklären kann oder nicht.
c) Da das FG ohne Einverständnis des Klägers ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, war der Kläger i.S. von § 116 Abs. 1 Nr. 3 FGO nicht nach den Vorschriften des Gesetzes vertreten. Das angefochtene Urteil muß wegen dieses Verfahrensfehlers aufgehoben werden (§ 119 Nr. 4 FGO). Die Sache geht deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Fundstellen