Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzungsantrag. Sicherheitskarenz bei Telefaxübermittlung. Sendeberichte. Technischer Defekt der Computeranlage
Leitsatz (amtlich)
a) Wird ein Wiedereinsetzungsantrag auf die unerwartet lange Dauer einer Telefaxübermittlung gestützt, hat das Gericht die zum Vergleich vorgelegten Sendeberichte zu würdigen (vgl. BGH, Beschl. v. 1.2.2001 - V ZB 33/00, BGHReport 2001, 436 = NJW-RR 2001, 916).
b) Ein auf einen vorübergehenden "Computer-Defekt" oder "Computer-Absturz" gestützter Wiedereinsetzungsantrag bedarf näherer Darlegungen zur Art des Defekts und seiner Behebung.
Normenkette
ZPO § 233
Verfahrensgang
OLG München (Beschluss vom 23.07.2003; Aktenzeichen 23 U 1525/03) |
LG München I |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 23. Zivilsenats des OLG München v. 23.7.2003 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das OLG zurückverwiesen.
Gründe
I. Die von dem Kläger einzuhaltende Berufungsbegründungsfrist lief am 3.3.2003 ab. Die Letzte, u.a. die Unterschrift des Prozessbevollmächtigten des Klägers enthaltende Seite der per Fax an das OLG übermittelten Berufungsbegründung wurde nach den automatischen Aufzeichnungen des Empfangsgerätes, das über eine funkgesteuerte Zeitmessung verfügt, am 4.3.2003 00.01 Uhr empfangen und elektronisch abgespeichert. Die Übertragungszeit für 34 S. betrug nach dem Sendebericht des Klägers 17,51 Min., nach den Aufzeichnungen des Empfangsgeräts 17,55 Min., bei einer Übertragungsgeschwindigkeit von 9.600 Baud. Kurz darauf wurden 2 von bisher fehlenden 5 S. der insgesamt 39 seitigen Berufungsbegründung nachübermittelt und von dem Empfangsgerät um 00.05 Uhr abgespeichert. Der Kläger meint, der Text der nur knapp halbseitig beschriebenen S. 39 mit der Unterschrift müsse von dem Empfangsgerät vor 00.00 Uhr empfangen worden sein. Hilfsweise hat der Kläger, der Rechtsanwalt ist, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und dazu vorgetragen, er habe die Berufungsbegründung am 3.3. vor 24.00 Uhr in der Kanzlei seines Prozessbevollmächtigten selbst "(fertig-)geschrieben". Dieser habe sie nach Prüfung unterzeichnet. Sie habe wegen eines "nicht nachvollziehbaren Computerdefektes (Abstürzen der Anlage)" erst um 23.40 Uhr mit ca. 1,5 Std. Verspätung ausgedruckt werden können. Der Defekt der seit mindestens 1,5 Jahren störungsfrei arbeitenden Computeranlage sei nicht vorhersehbar gewesen. Im Übrigen hätten der Kläger und sein Prozessbevollmächtigter auf Grund ihrer bisherigen, durch vorgelegte Sendeberichte belegten Erfahrungen darauf vertraut, dass nicht nur ca. 2, sondern knapp 4 S./Min. "durchgefaxt" werden könnten. Mit der ungewöhnlich langen Übertragungsdauer hätten sie nicht rechnen müssen. Die Richtigkeit dieses Vortrags haben beide anwaltlich versichert.
Das Berufungsgericht hat die Berufungsbegründung für verspätet erachtet und die Berufung des Klägers unter Zurückweisung seines Wiedereinsetzungsantrages als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Klägers.
II. Die Rechtsbeschwerde ist gem. §§ 238 Abs. 2, 522 Abs. 1 S. 4, 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthaft und auch im Übrigen gem. § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
1. Soweit das Berufungsgericht den Eingang der Berufungsbegründung für verspätet erachtet hat, wird dies von dem Beschwerdeführer nicht gem. § 575 Abs. 3 Nr. 2, 3 ZPO gerügt. Eine Prüfung von Amts wegen findet insoweit in vorliegenden Rechtsbeschwerdeverfahren nicht statt, weil dessen Gegenstand allein die gegen den Verwerfungsbeschluss des Berufungsgerichts erhobenen Rügen sind (vgl. BGH, Beschl. v. 18.9.2003 - IX ZB 40/03, BGHReport 2004, 54 = MDR 2004, 107, Umdr. S. 6, 7). Im Übrigen ist die angefochtene Entscheidung in diesem Punkt auch nicht zu beanstanden, weil der Kläger den von ihm zu führenden Nachweis des rechtzeitigen Eingangs seiner Berufungsbegründung mit der die Unterschrift seines Prozessbevollmächtigten enthaltenden letzten Satz nicht geführt hat und eine Störung des Empfangsgerätes oder eine im technischen Verantwortungsbereich der Empfangsstelle liegende Ungenauigkeit der Zeitmessung nicht ersichtlich ist (vgl. BGH, Beschl. v. 4.5.1994 - XII ZB 21/94, MDR 1994, 826 = CR 1994, 753 = WM 1994, 1349). Dass gemäß der vorliegenden Praxis des OLG München der Zeitpunkt des nächtlichen Eingangs von Faxsendungen wegen der Verwendung eines mit Faxkarte ausgestatteten PC nicht nach demjenigen ihres Ausdrucks, sondern ihrer elektronischen Speicherung bestimmt wird und der Ausdruck regelmäßig erst am nächsten Morgen erfolgt, gereicht dem Kläger jedenfalls nicht zum Nachteil.
2. Das Berufungsgericht meint, die für die Faxübermittlung benötigte Zeit von 17,55 Min. sei für den Kläger oder dessen Prozessbevollmächtigten vorhersehbar gewesen und ergebe daher keinen Wiedereinsetzungsgrund i.S.v. § 233 ZPO. Die Sendezeit hänge von der Zahl der übermittelten Signale, d.h. der Schriftzeichen, ab. Die vorgetragene Differenz von 2 ggü. 3 S./Min. (= Minimaldifferenz) halte sich im erwartbaren Variationsbereich und sei als Sicherheitskarenz zu berücksichtigen gewesen.
Diese Begründung steht mit den im Beschluss des BGH v. 1.2.2001 (BGH, Beschl. v. 1.2.2001 - V ZB 33/00, BGHReport 2001, 436 = NJW-RR 2001, 916) aufgestellten Grundsätzen nicht in Einklang und verkürzt den Anspruch des Klägers auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG), was die Rechtsbeschwerde nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO eröffnet (vgl. BGH v. 4.7.2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221 = BGHReport 2002, 948 = MDR 2002, 1207; Beschl. v. 30.4.2003 - V ZB 71/02, MDR 2003, 947 = BGHReport 2003, 900 = NJW 2003, 2388). Abgesehen davon, dass der Kläger eine Differenz von mehr als 1 S./Min. geltend gemacht hat, hätte das Berufungsgericht nach dem Beschluss v. 1.2.2001 (BGH, Beschl. v. 1.2.2001 - V ZB 33/00, BGHReport 2001, 436 = NJW-RR 2001, 916) prüfen müssen, ob die mit dem Wiedereinsetzungsantrag und später zur Glaubhaftmachung (§ 236 Abs. 2 S. 1 Halbs. 2 ZPO) vorgelegten Sendeberichte nach Art und Empfänger der Sendungen mit der hier maßgeblichen Sendung vergleichbar sind. Den Ausführungen des Berufungsgerichts ist nicht zu entnehmen, worauf sich seine Annahme stützt, die vorgetragene Differenz von 2 zu ca. 3,5 S./Min. (75 %) halte sich im vorhersehbaren Variationsbereich (vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 25.9.2000 - 1 BvR 2104/99, NJW 2001, 1566 f.). Dies hängt, wie bei dem erkennenden Senat gerichtsbekannt ist, nicht nur von der Anzahl der übermittelten (mit den Schriftzeichen nicht identischen) Signale, sondern auch von der zu erwartenden Übertragungsgeschwindigkeit ab. Andererseits schließt das nicht aus, dass bei der Faxübermittlung eine gewisse Zeitreserve einzukalkulieren ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.11.1999 - 2 BvR 565/98, MDR 2000, 168 = NJW 2000, 574).
Eine eigene Sachentscheidung hierüber ist dem Senat verwehrt, weil es dazu noch tatrichterlicher Feststellungen bedarf (§ 577 Abs. 4 ZPO).
3. Zu Gunsten des Klägers zu entscheiden (§ 577 Abs. 5 ZPO) ist die Sache nicht schon im Hinblick auf den von ihm zusätzlich geltend gemachten Wiedereinsetzungsgrund des "plötzlichen Abstürzens der Computeranlage". Das Berufungsgericht hat das Vorbringen des Klägers hierzu im Ergebnis zu Recht für nicht hinreichend erachtet, um eine Wiedereinsetzung gem. § 233 ZPO zu rechtfertigen. Darin liegt - entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde - keine Divergenz ggü. dem Beschluss des BGH v. 4.5.1994 (BGH, Beschl. v. 4.5.1994 - XII ZB 21/94, MDR 1994, 826 = CR 1994, 753 = NJW 1994, 2097 f. zu 4). Denn dort konnte offen bleiben, ob ein entsprechender Sachvortrag ausreicht, weil er zum einen verspätet vorgebracht (§§ 234 Abs. 1, 236 Abs. 2 ZPO) und zum anderen nicht glaubhaft gemacht (§ 236 Abs. 2 ZPO) war. Das Berufungsgericht vermisst zu Recht den Vortrag der näheren Umstände des angeblichen Computerdefekts. Insbesondere fehlt jeglicher Vortrag dazu, wann, wie oder bei welcher Verrichtung sich der "nicht nachvollziehbare" Computerdefekt bemerkbar machte und wie es dennoch gelang, ihn nach 1,5 Std. bis 23.40 Uhr wieder zu beheben. Unklar ist weiter, ob mit dem "Abstürzen" ein (teilweiser) Verlust des bisher geschriebenen Textes verbunden war oder z.B. schlicht die Druckerfunktion nicht in Gang gesetzt werden konnte. In diesem Zusammenhang wäre gerade auch Vortrag dazu erforderlich gewesen, ob der Kläger und/oder sein Prozessbevollmächtigter in die Bedienung des Computers und des Druckers so eingeübt waren, dass sie diese bei ihrer nächtlichen Arbeit ohne Schreibkraft sicher bedienen konnten.
4. Nach allem hängt die Entscheidung der Sache davon ob, ob der Kläger unter den gegebenen Umständen noch mit einer fristgerechten Faxübermittlung rechnen durfte (vgl. oben 2). Zu weiterer Aufklärung dieser Frage ist die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 S. 1 ZPO).
Fundstellen
Haufe-Index 1170141 |
BB 2004, 1594 |
HFR 2005, 68 |
NJW 2004, 2525 |
Inf 2004, 611 |
BGHR 2004, 1256 |
FamRZ 2004, 1276 |
CR 2004, 709 |
FA 2004, 243 |
ZAP 2004, 975 |
MDR 2004, 1133 |
VersR 2005, 525 |
GuT 2004, 189 |
ITRB 2004, 249 |
MMR 2004, 667 |
RENOpraxis 2004, 149 |
BRAK-Mitt. 2004, 221 |
KammerForum 2004, 318 |
ProzRB 2004, 328 |