Entscheidungsstichwort (Thema)
Durchgriffshaftung bei Mitgliedern eines e.V.
Leitsatz (amtlich)
Ausnahmsweise können bei Vorliegen ganz besonderer Umstände die Mitglieder eines eingetragenen Vereins für dessen Schulden in Anspruch genommen werden (sogenannte Durchgriffshaftung).
Normenkette
BGB § § 21 ff., § 242
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des 4. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts zu Hamburg vom 4. Dezember 1968 aufgehoben und das Urteil des Landgerichts Hamburg, Zivilkammer 2, vom 29. Februar 1968 abgeändert:
Die Ansprüche der Klägerin gegen sämtliche Beklagte werden dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt.
Zur Entscheidung über die Höhe der Ansprüche und die Kosten des Rechtsstreits einschließlich der Kosten der Revision, wird die Sache an das Landgericht Hamburg zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der inzwischen verstorbene J … M … verpachtete durch Vertrag vom 15. Juni 1953 ein ihm gehörendes fast 23.000 qm großes Grundstück in H … an die Siedlungsgesellschaft „M …koppel e.V. „, die am 14. Februar 1953 in das Vereinsregister des Amtsgerichts Hamburg eingetragen worden war (Akten 69 VR 5072-AG Hamburg), für die Zeit vom 1. Januar 1952 bis 31. Dezember 1967. Als Pachtzins waren vereinbart für Grundstücke mit einfachen Behelfsheimen 0,22 DM jährlich je qm, für Grundstücke mit ummauerten Behelfsheimen 0,33 DM jährlich je qm und für Grundstücke mit festen Bauten 0,44 DM jährlich je qm. § 3 des Vertrages verpflichtete den Verein, den Pachtzins von den Anwohnern einzuziehen und die eingehenden Pachtbeträge an den Verpächter weiterzuleiten. Außerdem sollte der Verein verpflichtet sein, eine diesbezügliche Bestimmung in seine Geschäftsordnung aufzunehmen. Während der Verein die von den Siedlern eingehenden Pachtzinsen laufend an den Verpächter weiterleitete, kam er der Verpflichtung zur Aufnahme einer entsprechenden Bestimmung in die Geschäftsordnung (gemeint ist offenbar die Satzung) nicht nach.
Im Jahre 1960 erwarb die Klägerin einen Teil von rd. 3.000 qm des erwähnten Grundstücks zum damaligen Stoppreis von 40.000 DM. Der nicht an die Klägerin veräußerte Grundstücksteil wurde in der Folgezeit von den Siedlern geräumt und inzwischen bebaut. Auf dem von der Klägerin erworbenen Grundstücksteil hatten die Beklagten und zwei weitere Unterpächter des Vereins Parzellen inne. Weitere Mitglieder hatte der Verein nicht mehr, nachdem die Siedler den Hauptteil des ursprünglich verpachteten Geländes verlassen hatten. Sämtliche Parzelleninhaber zahlten den zwischen dem Verein und ihnen vereinbarten Pachtzins, der dem im Pachtvertrag vom 15. Juni 1953 festgelegten Pachtzins entsprach, sowie anteilig die sonstigen Lasten und zuzüglich eine geringe Verwaltungsgebühr laufend an den Verein, der aus diesen Eingängen die an die Klägerin abzuführende Pacht und die weiteren Lasten beglich.
Ab 1964 bemühte sich die Klägerin, eine höhere Pacht zu erhalten, was der Verein und die Siedler ablehnten. Auf ihre im Januar 1966 erhobene Klage (Akten 7 O 1/66 LG Hamburg = 4 U 71/66 OLG Hamburg) wurde der Verein durch rechtskräftiges Urteil des Oberlandesgerichts vom 9. August 1967 verurteilt, an die Klägerin 2.538, 70 DM (erhöhte Pacht vom 1. März bis 31. Dezember 1965) und ab 1. Januar 1966 über die bisher gezahlte monatliche Pacht von 76,13 DM hinaus weitere 253,87 DM monatlich an die Klägerin zu zahlen. Der Verein kam diesem Urteil jedoch nicht nach, sondern beantragte am 1. September 1967 die Eröffnung des Konkursverfahrens (Akten 65 N 354/67 – AG Hamburg). Die dem Antrag beigefügte Übersicht über den Vermögensstand ergab, daß Aktiven von 296,86 DM Passiven von 8.582,45 DM gegenüberstanden, von denen allerdings über 8500 DM auf den Rechtsstreit mit der Klägerin zurückzuführen waren. Durch Beschluß des Amtsgerichts Hamburg vom 2. Oktober 1967 wurde der Antrag auf Konkurseröffnung mangels einer den Kosten des Verfahrens entsprechenden Masse zurückgewiesen. Am 14. Oktober 1967 löste sich der Verein durch Beschluß seiner Mitgliederversammlung auf. Er befindet sich jetzt in Liquidation. Für die Zeit seit dem 1. August 1967 zahlten die Siedler die dem Urteil des Oberlandesgerichts entsprechende Pacht an die Klägerin.
Da die Klägerin von dem Verein Befriedigung wegen ihrer Forderung auf Zahlung der Pachtrückstände für die Zeit vom 1. März 1965 bis 31. Juli 1967 nicht erlangen konnte, erwirkte sie am 18. Oktober 1967 bei dem Amtsgericht Hamburg einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluß (27 M 14020/67 – AG Hamburg –), durch die sie die angeblichen Ansprüche des Vereins gegen die Beklagten sowie gegen die Eheleute S … und die an deren Stelle getretenen Eheleute S …, ferner gegen die Eheleute M … – die erwähnten Ehepaare hatten ebenfalls Parzellen des Grundstücks der Klägerin inne – aufgrund des bestehenden Unterpachtverhältnisses und aufgrund der Satzung des Vereins pfänden und sich zur Einziehung überweisen ließ. Während die Eheleute S … und M … die sich aus dem Beschluß ergebenden Beträge an die Klägerin zahlten, weigerten sich die Beklagten, wegen der auf sie entfallenden Pachtrückstände die Klägerin zu befriedigen. Darauf erhob die Klägerin Klage, mit der sie von den Beklagten die Beträge forderte, die sie aufgrund des Urteils gegen den Verein anteilig von den Beklagten beanspruchen zu können glaubt.
Landgericht und Oberlandesgericht wiesen die Klage ab.
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Beklagten beantragen, verfolgt die Klägerin ihre Ansprüche gegen die Beklagten weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
1. Das Berufungsgericht ist der Ansicht, daß die Klägerin sich nicht auf den Pfändungs- und Überweisungsbeschluß stützen könne, weil dem Verein die gepfändeten Ansprüche gegen die Beklagten nicht zuständen. Auch eigene unmittelbare Ansprüche der Klägerin gegen die Beklagten seien zu verneinen. Es lägen keine Umstände vor, die es nach Treu und Glauben rechtfertigen könnten, der Klägerin ein Durchgriffsrecht auf die hinter dem Verein stehenden Mitglieder zu gewähren. Von einem rechtsmißbräuchlichen Verhalten der Beklagten könne nicht die Rede sein.
2. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Klägerin die Beklagten aufgrund des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses in Anspruch nehmen könnte, denn entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist hier, wie die Revision mit Recht geltend macht, ein Sachverhalt gegeben, der es ausnahmsweise rechtfertigt, eine Durchgriffshaftung der Vereinsmitglieder zu bejahen.
a) Auch der erkennende Senat hält an dem vom Reichsgericht und vom Bundesgerichtshof mehrfach (RGZ 156, 271, 277; 169, 240, 248; BGHZ 20, 4, 11; 26, 31, 37) ausgesprochenen Grundsatz fest, daß über die Rechtsfigur einer juristischen Person nicht leichtfertig und schrankenlos hinweggegangen werden darf. Regelmäßig haften daher für Schulden eines eingetragenen Vereins nur dieser selbst und nicht die hinter ihm stehenden Vereinsmitglieder. Eine Ausnahme muß jedoch dann gelten, wenn die Anwendung dieses Grundsatzes zu Ergebnissen führen würde, die mit Treu und Glauben nicht in Einklang stehen, und wenn die Ausnutzung der rechtlichen Verschiedenheit zwischen der juristischen Person und den hinter ihr stehenden natürlichen Personen einen Rechtsmißbrauch bedeutet. Es ist Aufgabe des Richters, einem treuwidrigen Verhalten der hinter der juristischen Person stehenden natürlichen Personen entgegenzutreten und die juristische Konstruktion hintanzusetzen, wenn die Wirklichkeiten des Lebens, die wirtschaftlichen Bedürfnisse und die Macht der Tatsachen eine solche Handhabung gebieten (RGZ 99, 232, 234; 103, 64, 66; 129, 50, 53, 54; BGHZ 20, 4, 14; 29, 385, 392). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn sich die Abweichung als notwendig erweist, um einem mit der juristischen Person in Rechtsbeziehungen getretenen Dritten zu der ihm nach Treu und Glauben zukommenden Leistung zu verhelfen (RGZ 156, 271, 277).
b) Diese Voraussetzungen liegen hier entgegen der Annahme des Berufungsgerichts vor.
Wie das Berufungsgericht nicht verkannt hat, war der Verein von Anfang an vermögenslos und hatte auch keine Aussicht, jemals Vermögen zu erwerben. Er erhob von seinen Mitgliedern keine eigentlichen Beiträge, diese zahlten an den Verein vielmehr außer einem geringen Verwaltungskostenzuschuß, der eine Vermögensbildung keinesfalls ermöglichte, nur solche Beträge, die der Verein als Pacht oder als Gebühren und Abgaben an die Berechtigten abzuführen hatte. Der Verein, der offenbar vor allem deshalb zwischen die Siedler und den damaligen Grundstückseigentümer eingeschaltet war, damit dieser die Pacht in einem Betrage erhielt und nicht mit den einzelnen Siedlern abzurechnen brauchte, konnte also die von ihm als Pächter geschuldete Pacht nur dann aufbringen und an den Verpächter zahlen, wenn die Unterpächter an den Verein anteilig Pacht in solcher Höhe zahlten, daß der Verein seinen Verpflichtungen gegenüber dem Verpächter nachkommen konnte. Über diesen Sachverhalt waren die Vereinsmitglieder genau unterrichtet. Das gilt insbesondere für die Zeit, als der größte Teil der M …koppel bereits von den Siedlern geräumt war und der Verein nur noch wenige Mitglieder – darunter die Beklagten – zählte, die Parzellen auf dem Grundstück der Klägerin innehatten. Es ist auch unstreitig, daß die Beklagten sämtlich von den Bemühungen der Klägerin, einen höheren Pachtzins zu erhalten, Kenntnis hatten. Sie wußten auch, daß die Klägerin Klage erhoben hatte, und waren über den Verlauf des Rechtsstreits genau im Bilde. Bei dieser Sachlage konnte kein Zweifel bei den Beklagten bestehen, daß die Klägerin, falls sich der von ihr gegen den Verein geltend gemachte Anspruch auf höhere Pachtzinszahlungen als begründet erwies, ihr im Rechtsstreit zugesprochene Beträge von dem vermögenslosen Verein nicht erlangen konnte. Nach Treu und Glauben hätten daher die Beklagten als Vereinsmitglieder dafür Sorge tragen müssen, daß der Verein auch dann seinen Verpflichtungen nachkommen konnte, wenn sich der Standpunkt der Klägerin als richtig erwies und sie höhere Pachten von dem Verein zu beanspruchen hatte, als in dem Vertrage vom 15. Juni 1953 vorgesehen waren. Die Vereinsmitglieder hätten also von dem Zeitpunkt an, als sie von dem Verlangen der Klägerin nach einem höheren Pachtzins erfuhren, den Verein veranlassen müssen, vorsorglich Rücklagen zu bilden und diese von ihnen einzuziehen, damit die nötigen Mittel zur Verfügung standen, falls sich herausstellte, daß die Klägerin einen höheren Pachtzins zu beanspruchen hatte.
Diese Verpflichtung traf unter den gegebenen Umständen nicht nur die Vorstandsmitglieder des Vereins, sondern alle Mitglieder, weil sie sämtlich von der Forderung der Klägerin und ihrer Begründung Kenntnis hatten, sie alle als Siedler Parzellen innehatten und gemeinsam dafür sorgen mußten, daß der Verein auch dann seinen Verpflichtungen nachkommen konnte, wenn die Pacht erhöht wurde. Es widerspricht Treu und Glauben, wenn die Beklagten als Vereinsmitglieder die Vorteile aus der juristischen Konstruktion, der Zwischenschaltung des Vereins, sich erhalten wollen, obgleich sie verpflichtet gewesen wären, dafür Sorge zu tragen, daß dem Verein im Falle der Pachtzinserhöhung die nötigen Mittel zur Pachtzinszahlung zur Verfügung standen. Überdies stellt sich das Verhalten der Beklagten auch noch aus einem anderen Grunde als treuwidrig dar. Die Lösung des Berufungsgerichts führt im Ergebnis dazu, daß die Beklagten für die von ihnen innegehaltenen Parzellen keinen höheren Pachtzins zu zahlen brauchen, als sie ihn mit dem Verein vereinbart hatten, obwohl nach dem Urteil des Oberlandesgerichts im Vorprozeß feststeht, daß diese Pacht zu niedrig war und die Klägerin für die Überlassung der Parzellen ein weiteres Entgelt zu beanspruchen hatte. Die Beklagten würden also zu Lasten der Klägerin einen Vorteil behalten, der ihnen wirtschaftlich gesehen nicht zustand, wenn ihnen gestattet würde, sich hinter einer juristischen Konstruktion, nämlich der Zwischenschaltung des Vereins als selbständiger juristischer Person, zu verschanzen. Das wäre ein Rechtsmißbrauch, der von der Rechtsordnung nicht hingenommen werden kann. Vielmehr erfordern es hier die Wirklichkeiten des Lebens, die wirtschaftlichen Bedürfnisse und die Macht der Tatsachen, daß die Beklagten, von denen die Parzellen benutzt wurden, der Klägerin diejenige Pacht zukommen lassen, die diese nach dem Urteil des Oberlandesgerichts im Vorprozeß für die streitige Zeit beanspruchen kann. Eine Berufung auf die rechtliche Verschiedenheit des Vereins und der hinter dem Verein stehenden Mitglieder würde bei dem hier gegebenen Sachverhalt gegen Treu und Glauben verstoßen. Sie ist daher unzulässig. Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts macht somit die Klägerin mit Recht geltend, die Beklagten versteckten sich hinter dem vermögenslosen Gebilde des Vereins, um der Klägerin die ihr zustehende erhöhte Pacht vorzuenthalten. Die Klägerin braucht sich daher nicht auf den zahlungsunfähigen Verein verweisen zu lassen, sondern sie kann von den Beklagten die sich aus der erhöhten Pacht ergebenden Rückstände entsprechend der Größe der von ihnen genutzten Parzellen für die Zeit vom 1. März 1965 bis zum 31. Juli 1967 verlangen.
3. Die Beklagten haben substantiiert vorgetragen (Schriftsatz vom 28. Dezember 1967 S. 6, wiederholt im Schriftsatz vom 24. Januar 1968 S. 4), daß die von ihnen genutzten Parzellen zum Teil kleiner gewesen seien, als die Klägerin ihrer Berechnung zugrunde gelegt hat, und daß die Beklagten die Parzellen zum Teil nicht bereits seit dem 1. März 1965, sondern erst von einem späteren Zeitpunkt an innegehabt hätten. Die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche sind daher auch der Höhe nach bestritten. Bei dieser Sachlage können die Ansprüche der Klägerin gegen die Beklagten nur dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt werden. Ein solches Zwischenurteil über den Grund ist gemäß § 304 ZPO zulässig, weil feststeht, daß der Klägerin auf jeden Fall Ansprüche gegen die Beklagten zustehen, wenn auch der Betrag, den die Beklagten schulden, noch nicht ermittelt werden kann. Der Erlaß eines solchen Zwischenurteils scheint hier auch geboten, weil damit über den wesentlichen Streitpunkt endgültig entschieden ist.
Unter Aufhebung des Berufungsurteils und Abänderung der Urteile des Landgerichts sind somit die Ansprüche der Klägerin dem Grunde nach für gerechtfertigt zu erklären. Zur Entscheidung über die Höhe des Anspruchs ist die Sache gemäß § 538 Abs. 1 Nr. 3 ZPO an das Landgericht zurückzuverweisen. Diesem ist auch die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits einschließlich der Kosten der Revision übertragen worden, weil sie von der Endentscheidung in der Sache selbst abhängt.
Fundstellen
Haufe-Index 609704 |
BGHZ, 222 |
DNotZ 1970, 742 |
JZ 1970, 687 |