Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Leitsatz (redaktionell)
- Die Anforderungen, was ein Betroffener veranlassen und vorbringen muß, um nach einer Versäumung der Einspruchsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erhalten, dürfen nicht überspannt werden. Deshalb genügt eine Formulierung, aus der ersichtlich ist, daß ein rechtsunkundiger Antragsteller in Kenntnis der Verspätung seines Rechtsbehelfs darum bittet, der Einspruch möge trotz der Verspätung in der Sache behandelt werden.
- Auch die Anforderungen an die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Glaubhaftmachung eines Wiedereinsetzungsgrundes dürfen nicht überspannt werden. Im Einzelfall ist auch die einfache Erklärung des Antragstellers hierfür ausreichend.
- Bei einem zulässigen Wiedereinsetzungsgesuch ist die Beibringung weiterer Mittel der Glaubhaftmachung auch in der Beschwerdeinstanz gestattet.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1; StPO § 45 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Karlsruhe (Beschluss vom 04.06.1973; Aktenzeichen I Qs 76/73) |
AG Karlsruhe (Beschluss vom 05.04.1973; Aktenzeichen 7 OWi 194/73) |
Gründe
A. – I.
1. Das Landratsamt Karlsruhe erließ gegen den Beschwerdeführer, einen Gesellen des Blechner- und Installateurhandwerks, am 19. Februar 1973 einen Bußgeldbescheid über 1 200 DM wegen einer Ordnungswidrigkeit gemäß § 1 Abs. 1, § 117 Abs. 1 Nr. 1 und 2 der Handwerksordnung, weil er selbständig das Heizungsbauerhandwerk ausgeübt habe, ohne in der Handwerksrolle eingetragen zu sein. Der Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 22. Februar 1973 in seiner Wohnung durch Übergabe an seine Mutter zugestellt. Vom 22. Februar vormittags bis zum 3. März 1973 befand sich der Beschwerdeführer nach seinen Angaben auf einer Reise nach Spanien.
Mit Schriftsatz vom 5. März 1973, eingegangen beim Landratsamt Karlsruhe am 7. März 1973, legte er Einspruch gegen den Bußgeldbescheid ein. Darin heißt es u. a.:
“Aus beigefügtem Schreiben an die Bundespost mögen Sie bitte entnehmen, daß ich keine Schuld an dem verspäteten Einspruch habe und bitte Sie daher, denselben anzuerkennen.”
Bei dem in Bezug genommenen Schreiben handelte es sich um die Durchschrift eines Briefes an das Postamt in Bad Schönborn vom gleichen Tage. In diesem beschwerte er sich darüber, daß der Postbote den Bußgeldbescheid durch Übergabe an seine Mutter zugestellt habe, obwohl seine Ehefrau am Vormittag des 22. Februar 1973 zwischen 9.00 und 10.00 Uhr beim Postamt gebeten habe, “die Post solange hierzubehalten, bis wir von unserer Geschäftsreise wieder zurück sind”.
2. Mit Beschluß vom 20. März 1973 verwarf das Amtsgericht Karlsruhe den Einspruch als unzulässig, weil verspätet. Der Beschluß enthält keine nähere Begründung.
3. Nachdem ihm dieser Beschluß am 24. März 1973 zugestellt worden war, bat der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 26. März 1973 an das Amtsgericht um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; er nahm dabei Bezug auf eine Stellungnahme der Bundespost vom 12. März 1973 zu seinem Beschwerdeschreiben vom 5. März 1973 und fügte sie als Anlage bei. Aus ihr ergibt sich, daß die Ehefrau des Beschwerdeführers am 22. Februar 1973 einen Antrag auf Lagerung stellte, der Postzusteller hiervon jedoch erst nach der Zustellung Kenntnis erlangte; ferner enthält sie den Hinweis, der Antrag auf Lagerung erfasse keine Zustellungen. Der Beschwerdeführer fügte schließlich die Durchschrift eines Flugscheins bei, aus dem sich ergibt, daß der Rückflug Valencia-Frankfurt am 3. März 1973 stattfand.
4. Mit Beschluß vom 5. April 1973 verwarf das Amtsgericht Karlsruhe das Gesuch des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als unzulässig. Innerhalb der Wochenfrist des § 45 Abs. 1 StPO habe der Beschwerdeführer weder seine Ortsabwesenheit am Zustellungstage noch seine Rückkehr erst nach Ablauf der Einspruchsfrist glaubhaft gemacht, obwohl er zur Glaubhaftmachung ohne weiteres eidesstattliche Versicherungen seiner Ehefrau oder seiner Mutter hätte vorlegen können. Auf eine Glaubhaftmachung der Abwesenheit habe insbesondere deshalb nicht verzichtet werden können, weil nach dem Vortrag des Beschwerdeführers seine Ehefrau am Vormittag des Zustellungstages das Postamt aufgesucht habe.
5. Mit seiner sofortigen Beschwerde gegen den amtsgerichtlichen Beschluß machte der Beschwerdeführer geltend, er wäre noch vor Ablauf der Einspruchsfrist zurückgekehrt, wenn nicht in Spanien sein Kraftfahrzeug einen Defekt gehabt hätte – nur deshalb sei er schließlich notgedrungen mit dem Flugzeug zurückgekehrt. Diesem Vortrag fügte er eine eidesstattliche Versicherung seiner Ehefrau bei. Nach einer ebenfalls beiliegenden eidesstattlichen Versicherung seiner Mutter war er bereits abgereist, als die Ersatzzustellung durch Übergabe an sie durchgeführt wurde.
6. Das Landgericht Karlsruhe verwarf mit dem Beschluß vom 4. Juni 1973 die sofortige Beschwerde als unbegründet. Zur Begründung führte es aus, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nur gewährt werden, “wenn genau dargelegt wird, warum man infolge unabwendbarer Zufälle nicht in der Lage war, die Frist einzuhalten, diese Angaben glaubhaft gemacht werden und dies alles binnen einer Woche ab Kenntnis von der Fristversäumung geschieht”. Daran fehle es hier. Das Gesetz erlege dem Bürger auf, sich zu erkundigen, was er im Falle einer Fristversäumung tun könne. Das habe im vorliegenden Fall näher gelegen, “als sich bei der Post zu beschweren”.
II.
Mit seiner am 23. Juni 1973 eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er macht geltend, ihn treffe an der Versäumung der Einspruchsfrist kein Verschulden und es gehe nicht an, daß in einer für ihn derart wichtigen Sache “ohne Gerichtsverhandlung” entschieden werde; nur in einer solchen Verhandlung könne er “die Sache aufklären” und dadurch seinen Betrieb erhalten.
III.
Der Justizminister des Landes Baden-Württemberg, dem Gelegenheit zur Äußerung gegeben wurde, hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Angesichts der lückenhaften Angaben des Beschwerdeführers im Schreiben vom 5. März 1973, die erst stückweise nach Ablauf der Wochenfrist des § 45 Abs. 1 StPO ergänzt worden seien, hätten Amts- und Landgericht die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Versäumnisgrundes nicht überspannt.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
1. Im Bußgeldverfahren nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten eröffnet erst und nur der Einspruch gegen den Bußgeldbescheid dem Betroffenen die Möglichkeit, ein Gericht gegen eine ihn belastende Maßnahme einer Verwaltungsbehörde anzurufen. Die Einräumung dieser Chance, gerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen, ist durch Art. 19 Abs. 4 GG zwingend geboten (vgl. BVerfGE 15, 275 [282]; 22, 49 [81]; 27, 36 [43]). Dabei ist es durchaus zulässig, daß die Anrufung des Gerichts im Rahmen der jeweils geltenden Prozeßordnungen von der Erfüllung bestimmter formaler Voraussetzungen, wie der Einhaltung einer Frist, abhängig gemacht wird, wenn dadurch der Weg zu den Gerichten nicht in unzumutbarer Weise erschwert wird (BVerfGE 10, 264 [268]). In diesem Zusammenhang gewinnt der verfassungsrechtlich geschützte Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) besondere Bedeutung. Die Eröffnung des Rechtsweges zielt auf die vollständige Nachprüfung des Verwaltungsaktes in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Die Anforderungen daran, was ein Betroffener veranlassen und vorbringen muß, um nach einer Versäumung der Einspruchsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erhalten, d. h. um in der Sache selbst gehört werden zu können, dürfen deshalb nicht überspannt werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt entschieden (BVerfGE 25, 158 [166]; 26, 315 [318]; 31, 388 [390]; 34, 154 [156]; 35, 296 [298]; ferner Beschluß vom 2. April 1974 – 2 BvR 784/73 –). Die angegriffenen Entscheidungen verkennen insoweit die Tragweite des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
2. Zunächst gilt – schon nach einfachem Recht (Löwe-Rosenberg, StPO, 22. Aufl. (1971), § 45 Anm. 1 mit weiteren Nachweisen) –, daß die Anforderungen an die Formulierung des Gesuchs nicht überspannt werden dürfen. Es genügt eine Formulierung, aus der ersichtlich ist, daß ein rechtsunkundiger Antragsteller in Kenntnis der Verspätung seines Rechtsbehelfs darum bittet, der Einspruch möge trotz der Verspätung in der Sache behandelt werden. Diesen Anforderungen genügte das Schreiben des Beschwerdeführers an das Landratsamt Karlsruhe vom 5. März 1973, mit dem er darum bat, “den verspäteten Einspruch anzuerkennen”, weil ihn an der Verspätung kein Verschulden treffe. Dieses Schreiben, das bei der nach §§ 52 Satz 2, 67 Satz 1 OWiG zuständigen Behörde innerhalb der Wochenfrist des § 45 StPO einging, war mithin als Wiedereinsetzungsgesuch anzusehen. Es ist nicht ersichtlich, daß die angegriffenen Entscheidungen das erkannt haben. Das Amtsgericht ist erst auf das “formelle” Gesuch vom 26. März 1973 hin tätig geworden, nachdem es zuvor den Einspruch durch Formularbeschluß als verspätet verworfen hatte. In dem berichtenden Teil der Beschlußgründe vom 5. April 1973 spricht es lediglich von einem Wiedereinsetzungsgesuch vom 26. März 1973, geht dann allerdings in den weiteren Gründen auf das Schreiben vom 5. März 1973 ein mit dem Bemerken, der Beschwerdeführer habe es unterlassen, innerhalb der Wochenfrist eidesstattliche Versicherungen beizubringen. Das Landgericht hält die Entscheidung des Amtsgerichts in vollem Umfang für zutreffend und fügt lediglich hinzu, es hätte für den Beschwerdeführer näher gelegen, sich nach den Modalitäten der Wiedereinsetzung zu erkundigen, als sich bei der Post zu beschweren. Hierin wird deutlich, daß das Landgericht nur auf das Gesuch vom 26. März 1973 abstellen will. Schon darin liegt ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG.
3. Auf diesem Verstoß können die angegriffenen Entscheidungen beruhen. Denn bei der Beantwortung der Frage, ob das Schreiben des Beschwerdeführers vom 5. März 1973 die Voraussetzungen eines zulässigen Wiedereinsetzungsgesuches enthält, wird zu beachten sein, daß auch die Anforderungen an die Zulässigkeitsvoraussetzung der Glaubhaftmachung nicht überspannt werden dürfen. Die Strafprozeßordnung bezeichnet die Mittel der Glaubhaftmachung nicht. Es kann daher im Einzelfall auch die einfache Erklärung des Antragstellers ausreichen, um die richterliche Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit der behaupteten Versäumnisgründe zu begründen. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits ausgesprochen, das habe jedenfalls dann zu gelten, wenn es sich um einen naheliegenden, der Lebenserfahrung entsprechenden Versäumnisgrund handelt, und es hat hierzu die urlaubsbedingte Abwesenheit gerechnet (BVerfGE 26, 315 [320]; Beschluß vom 2. April 1974 – 2 BvR 784/73 –). Aus der dem Einspruchsschreiben vom 5. März 1973 beigefügten Durchschrift des Briefes vom gleichen Tage an das Postamt ergibt sich, daß der Beschwerdeführer eine durch eine Reise bedingte Abwesenheit geltend macht, und er legt dabei gleichzeitig dar, was er wegen dieser Reise gegenüber dem Postamt veranlaßt hatte. Es handelte sich mithin um mehr als die reine Behauptung der Ortsabwesenheit. Gerade die Tatsache der Auseinandersetzung des Beschwerdeführers mit der Bundespost gibt dem von ihm vorgebrachten Versäumnisgrund eine zusätzliche Glaubwürdigkeit, weil das Schreiben an das Postamt vom 5. März 1973 unverständlich wäre, wenn der Beschwerdeführer noch nach der Zustellung in seine Wohnung zurückgekehrt wäre, oder wenn die in dem Schreiben behaupteten Tatsachen nicht zutreffen würden. Der Umstand, daß der Beschwerdeführer selbst vorträgt, die Ehefrau sei am Tage des Reisebeginns beim Postamt gewesen, bedeutet demgegenüber nicht viel; er besagt – entgegen der Ansicht des Amtsgerichts – vor allem nichts darüber, ob der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Zustellung zu Hause war, zumal sich aus der Zustellungsurkunde das Gegenteil ergibt. Demnach erscheint nicht ausgeschlossen, daß das Amtsgericht bei einer erneuten Prüfung die Zulässigkeit des Wiedereinsetzungsgesuches bejaht.
4. Wenn die Anforderungen an die Glaubhaftmachung als Zulässigkeitsvoraussetzung nicht überspannt werden dürfen, so folgt daraus zugleich, daß bei einem zulässigen Wiedereinsetzungsgesuch die Beibringung weiterer Mittel der Glaubhaftmachung gestattet sein muß, namentlich auch in der Beschwerdeinstanz (vgl. Löwe-Rosenberg, StPO, 22. Aufl. (1971), § 45 Anm. 7). Denn sonst würde die Erleichterung der Zulässigkeitsvoraussetzung dazu führen, daß bei der Prüfung der Begründetheit des Wiedereinsetzungsgesuches die Situation des Antragstellers verschlechtert würde. Das wäre mit Art. 103 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren. Daher sind bei der Entscheidung über die Begründetheit eines fristgemäß glaubhaft gemachten Wiedereinsetzungsgesuches alle zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegenden Mittel der Glaubhaftmachung zu berücksichtigen, hier also auch die nachträglich eingereichten eidesstattlichen Versicherungen. Das verkennt der Beschluß des Landgerichts.
5. Da die angefochtenen Entscheidungen gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen, sind sie aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Gericht erster Instanz zurückzuverweisen.
6. Die dem Beschwerdeführer entstandenen notwendigen Auslagen sind zu erstatten (§ 34 Abs. 4 BVerfGG). Die Erstattungspflicht trifft das Land Baden-Württemberg, dem die erfolgreich gerügte Grundrechtsverletzung zuzurechnen ist.
C.
Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
Fundstellen
Haufe-Index 1677235 |
BVerfGE, 93 |