Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorliegen und Folgen einer überlangen Verfahrensdauer
Leitsatz (redaktionell)
1. Zur Bedeutung des aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK als Prozeßgrundrecht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren folgende Beschleunigungsgebot sowie zu den maßgeblichen Grundsätzen für die Qualifizierung einer überlangen Verfahrensdauer als eine dem Grundgesetz widerstreitende Verfahrensverzögerung.
2. Die Frist des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK kann auch schon vor einer Anklage im Sinne der Strafprozeßordnung oder einer förmlichen Mitteilung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit der Bekanntgabe einer Durchsuchungs- oder Beschlagnahmeanordnung beginnen.
3. Eine Verfahrensdauer von über 10 Jahren bei einem Steuerstrafverfahren, bei dem es zu nicht mehr zu rechtfertigenden Verzögerungen bei den aufgrund der Mitwirkung des Beschuldigten einfach gelagerten Ermittlungen und bei dem anschließenden Strafprozeß gekommen war, führt weder zur Einstellung des Verfahrens noch zur Korrektur des Schuldspruchs, bedingt aber die Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs.
Normenkette
BVerfGG § 95 Abs. 2; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; EMRK Art. 6 Abs. 1 S. 1; StPO § 153 Abs. 2
Verfahrensgang
OLG Hamburg (Urteil vom 04.10.1990; Aktenzeichen 1 Ss 102/89) |
LG Hamburg (Entscheidung vom 05.12.1988; Aktenzeichen (50) 24/88 Ns) |
AG Hamburg (Entscheidung vom 24.02.1988; Aktenzeichen 32b - 116/85 132b Cs/150 Js 247/85) |
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verfassungsrechtlichen Folgen der überlangen Dauer eines Strafverfahrens.
I.
1. Der Beschwerdeführer hatte in den Einkommensteuererklärungen 1972 bis 1978 die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung jeweils zu niedrig angegeben. Die dadurch bewirkte Einkommensteuerverkürzung belief sich auf insgesamt 15.559,– DM, davon 11.052,– DM vollendet und 4.507,– DM versucht. Im Februar 1984 wurden die wirklichen Mieteinnahmen nacherklärt. Die verkürzten Steuern wurden vom Beschwerdeführer nachentrichtet.
2. a) Im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens wegen Lohnsteuerhinterziehung wurde am 7. Juli 1980 die Wohnung des Beschwerdeführers durchsucht. Dabei wurden Beweismittel (Mietquittungshefte) gefunden, aus denen sich der Verdacht ergab, daß der Beschwerdeführer bei Abgabe seiner Einkommensteuererklärungen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung in zu geringer Höhe angegeben hatte. Dem Beschwerdeführer, der selbst bei der Durchsuchung nicht anwesend war, wurde noch am selben Tag, nach Belehrung gemäß § 136 StPO, die Einleitung des Strafverfahrens wegen Lohnsteuerhinterziehung eröffnet. Ihm wurden außerdem der Fund und die Beschlagnahme der Mietquittungshefte bekanntgegeben, worauf er nach Befragen erklärte, daß die steuerlichen Angelegenheiten von ihm abgewickelt worden seien. Das Steuerstrafverfahren wurde am 21. Juli 1980 um den Vorwurf der Einkommensteuerhinterziehung erweitert und als einheitliches Verfahren fortgeführt. Am 30. Januar 1984 wurde dem Verteidiger des Beschwerdeführers die Erweiterung des Verfahrens offiziell bekanntgegeben.
b) Durch Strafbefehl vom 5. Juli 1985 wurde gegen den Beschwerdeführer eine Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 520,– DM wegen fortgesetzter Einkommensteuerhinterziehung festgesetzt. Aus den Akten ist ersichtlich, daß das Verfahren zwischen Juli 1980 und Januar 1984 nur bezüglich des Tatvorwurfs der Lohnsteuerhinterziehung durch zahlreiche Zeugenvernehmungen gefördert wurde. In bezug auf den Vorwurf der Einkommensteuerhinterziehung ist in diesem Zeitraum aus den Akten keine Ermittlungstätigkeit ersichtlich. Am 30. Mai 1985 wurden die Verfahren wegen Lohnsteuerhinterziehung und Einkommensteuerhinterziehung getrennt.
Nachdem der Beschwerdeführer gegen den Strafbefehl am 16. Juli 1985 Einspruch eingelegt hatte, wurde er durch Urteil des Amtsgerichts Hamburg vom 24. Februar 1988 zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 700,– DM verurteilt.
Wie sich aus den Akten ergibt, hatte das Amtsgericht am 27. Februar 1986 eine Wiedervorlage von neun Monaten und am 25. August 1986 eine weitere Wiedervorlage von sechs Monaten verfügt, um dann am 29. Januar 1987 Termin zur Hauptverhandlung auf den 8. Februar 1988 zu bestimmen.
Die vom Beschwerdeführer am 2. März 1988 eingelegte Berufung wurde vom Landgericht Hamburg durch Urteil vom 5. Dezember 1988 verworfen. Das Berufungsurteil wurde erstmals im Januar 1989 und sodann erneut am 14. Juli 1989 zugestellt, nachdem sich herausgestellt hatte, daß die erste Zustellung wegen eines Formfehlers unwirksam war.
Die Revision des Beschwerdeführers, mit der er u.a. die überlange Verfahrensdauer gerügt hatte, wurde durch Beschluß des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 4. Oktober 1990 gemäß § 349 Abs. 2 StPO als offensichtlich unbegründet verworfen.
II.
Mit seiner am 9. November 1990 eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Urteile des Amtsgerichts Hamburg vom 24. Februar 1988 und des Landgerichts Hamburg vom 5. Dezember 1988 sowie den Beschluß des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 4. Oktober 1990.
Die übermäßige Verfahrensdauer verletze ihn in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Das Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes fordere die angemessene Beschleunigung des Strafverfahrens. Eine von den Justizbehörden zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens verletze das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren und verstoße zudem auch gegen Art. 6 Abs. 1 MRK.
Im übrigen sei Art. 103 Abs. 2 GG verletzt, da die angegriffenen Entscheidungen die verfassungsrechtlichen Grenzen der Rechtsfortbildung durch Überdehnung der Rechtsfigur Fortsetzungszusammenhang überschritten hätten. Das Rechtsstaatsgebot sei zum einen dadurch verletzt, daß das landgerichtliche Verfahren in unfairer, rechtsstaatswidriger Weise durch einen nicht unvoreingenommenen, abgelehnten Richter geführt worden sei, zum anderen dadurch, daß das Hanseatische Oberlandesgericht die Revision zu Unrecht nach § 349 Abs. 2 StPO ohne mündliche Verhandlung verworfen habe. Schließlich sei Art. 6 Abs. 1 GG verletzt, da die angegriffenen Entscheidungen die Fiskalinteressen bei gemeinsamer Veranlagung vor die Interessen des Familienschutzes gestellt hätten.
III.
Namens der Freien und Hansestadt Hamburg hat der Justizsenator Stellung genommen. Er hat u.a. ausgeführt:
„Bei lebensnaher Betrachtungsweise läßt sich allerdings auch nicht verkennen, daß die Vorgänge vom 7. Juli 1980 Auswirkungen auf den Beschwerdeführer gehabt haben müssen. Da die Mietquittungen beschlagnahmt wurden, dies dem Beschwerdeführer bekannt gewesen ist und er zudem zu dem Thema der Mieteinnahmen auch befragt worden ist, muß davon ausgegangen werden, daß er bereits am 7. Juli 1980 mit weiteren Konsequenzen aus dem Vorgang rechnete. Der Beschwerdeführer dürfte kaum die Vorstellung gehabt haben, daß die Beschlagnahme folgenlos bleiben werde, sondern er wird die Vorstellung gehabt haben, daß nunmehr auch wegen Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit den Mieteinnahmen gegen ihn ermittelt werde. Die Belastung des Beschwerdeführers kann deshalb durchaus bereits zu diesem Zeitpunkt ein Ausmaß erreicht haben, das als Beginn der ‚angemessenen Frist’ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 MRK angesehen werden kann.”
Von einer verfassungsrechtlichen Bewertung der Gesamtdauer des Verfahrens wurde ebenso Abstand genommen wie von einer Stellungnahme zu den übrigen Rügen des Beschwerdeführers.
IV.
Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist in bezug auf die Entscheidungen über die Rechtsfolgen der festgestellten Straftat offensichtlich begründet (§ 93b Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Die angegriffenen Entscheidungen verletzen insoweit das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes.
1. Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes dem Beschuldigten im Strafverfahren das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren (st. Rspr.; BVerfGE 57, 250 ≪274 f.≫; 63, 45 ≪60≫). Dieses Prozeßgrundrecht fordert – nicht zuletzt auch im Interesse des Betroffenen – eine angemessene Beschleunigung des Verfahrens (vgl. BVerfGE 46, 17 ≪28 f.≫; 63, 45 ≪68 f.≫; BVerfG ≪Vorprüfungsausschuß≫, NJW 1984, S. 967; BVerfG ≪Kammer≫, NJW 1992, S. 2472).
a) Ob die Verfahrensdauer noch angemessen ist, muß nach den Umständen des Einzelfalles beurteilt werden (vgl. BVerfGE 46, 17 ≪28≫; 55, 349 ≪368 f.≫). Dabei kann für die Frage, ob eine dem Grundgesetz widerstreitende Verfahrensverzögerung vorliegt, und bei der Bestimmung der daraus zu ziehenden Folgerungen auf die Grundsätze zurückgegriffen werden, die in dem Beschluß des Vorprüfungsausschusses vom 24. November 1983 (NJW 1984, S. 967) herangezogen worden sind. Zu berücksichtigen sind zunächst jene Verfahrensverlängerungen, die durch Verzögerungen der Justizorgane verursacht worden sind, sodann die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeiten des Verfahrensgegenstandes sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des Verfahrens verbundenen Belastung des Beschuldigten. Verfahrensverzögerungen, die der Beschuldigte selbst, sei es auch durch zulässiges Prozeßverhalten, verursacht hat, werden in aller Regel nicht geeignet sein, die Feststellung einer seine Rechte verletzenden überlangen Verfahrensdauer zu begründen.
b) Ein Strafverfahren von überlanger Dauer kann den Beschuldigten – zumal dann, wenn die Dauer durch vermeidbare Verzögerungen der Justizorgane bedingt ist – zusätzlichen fühlbaren Belastungen aussetzen (vgl. für das Disziplinarverfahren BVerfGE 46, 17 ≪29≫). Diese Belastungen, die in ihren Auswirkungen der Sanktion selbst gleichkommen können (vgl. Kloepfer, Verfahrensdauer und Verfassungsrecht, JZ 1979, S. 209 ≪214≫; Schroth, Strafrechtliche und strafprozessuale Konsequenzen aus der Überlänge von Strafverfahren, NJW 1990, S. 29 ≪30≫; Imme Roxin, Die Rechtsfolgen schwerwiegender Rechtsstaatsverstöße in der Strafrechtspflege, München 1988, S. 249 ff.), treten mit zunehmender Verzögerung des Verfahrens in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, wonach die Strafe verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zu dem Verschulden des Täters stehen muß (vgl. BVerfGE 6, 389 ≪439≫; 20, 323 ≪331≫; 50, 5 ≪12≫; 54, 100 ≪108≫). Aus diesem Grund muß sich eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bei der Strafzumessung auswirken, wenn sie nicht im Extrembereich zur Einstellung (z.B. nach § 153 Abs. 2 StPO, vgl. BGH, NJW 1990, S. 1000 ≪1001≫) oder zum Vorliegen eines unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes herzuleitenden Verfahrenshindernisses führt (BVerfG, NJW 1984, S. 967). Dabei liegt es schon mit Rücksicht auf das in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK normierte Beschleunigungsgebot und dessen Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nahe, ist aber auch im Blick auf die Bedeutung der vom Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes geforderten Verfahrensbeschleunigung angezeigt, daß die Fachgerichte der Strafgerichtsbarkeit, wenn sie in Anwendung des Straf- und Strafverfahrensrechts die gebotenen Folgen aus einer Verfahrensverzögerung ziehen, dabei die Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich feststellen und das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Umstandes näher bestimmen (EGMR, EuGRZ 1983, S. 371 ≪381 f.≫; BVerfG, NJW 1984, S. 967).
2. Die erheblichen Verzögerungen, mit denen das vorliegende Verfahren von den Ermittlungsbehörden und sodann von den Gerichten betrieben worden ist, und die dadurch bedingte Gesamtdauer des Verfahrens von rund zehn Jahren und zwei Monaten, sind insgesamt mit den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Durchführung eines Strafverfahrens nicht mehr vereinbar. Die Instanzgerichte und das Oberlandesgericht haben sich bei der Berücksichtigung dieses Umstandes der Reichweite und der Wirkkraft des Beschleunigungsgebots nicht voll geöffnet. Sie haben damit das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verletzt.
a) Die Verfahrensdauer von über zehn Jahren seit Einleitung des Steuerstrafverfahrens wegen Einkommensteuerhinterziehung im Juli 1980 übersteigt das Doppelte der gesetzlichen Verfolgungsverjährung von fünf Jahren (§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB in Verbindung mit § 370 Abs. 1 AO). Das ist schon für sich genommen unangemessen lang, auch wenn man gewisse rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten vor allem während des Ermittlungsverfahrens in Rechnung stellt. Zur Feststellung des für den Vorwurf der Einkommensteuerhinterziehung maßgeblichen Sachverhalts, die durch die vom Finanzamt als richtig und vollständig anerkannte Nacherklärung der Einnahmen durch den Beschwerdeführer wesentlich erleichtert wurde, waren außer der Vernehmung von inländischen Zeugen und der Anhörung eines Sachverständigen keine weiteren Ermittlungen erforderlich. Dafür bedurfte es keiner mehrjährigen Ermittlungstätigkeit.
Hinzu kommen nicht mehr zu rechtfertigende Verfahrensverzögerungen durch die Justizorgane. Allerdings bedeutet es noch keinen Verstoß der Ermittlungsbehörden gegen das Beschleunigungsgebot, daß sie ihre Ermittlungen von Juli 1980 bis Januar 1983 zunächst auf den Komplex der Lohnsteuerhinterziehung konzentrierten und den offenbar als weniger gewichtig angesehenen Komplex der Einkommensteuerhinterziehung zurückstellten. Das mochte nach damaligem Erkenntnisstand ebensowenig als sachwidrig erscheinen wie die Durchführung eines einheitlichen Ermittlungsverfahrens wegen beider Tatkomplexe. Der Beschwerdeführer hat das damals selbst so beurteilt, wie seine Beschwerde gegen die spätere Trennung der Verfahren ergibt. Nicht mehr zu rechtfertigen ist aber, daß das Verfahren ausweislich der Akten von Januar 1983 bis Januar 1984, also für die Dauer von einem Jahr, überhaupt nicht mehr gefördert wurde. Weiterhin sind keine Gründe ersichtlich, weshalb seit der Einlegung des Einspruchs gegen den Strafbefehl bis zur erstinstanzlichen Verurteilung des Beschwerdeführers im Februar 1988 zweieinhalb Jahre vergehen mußten. Mit dem Beschleunigungsgebot nicht in Einklang zu bringen ist schließlich die Verfahrensverzögerung, die dadurch verursacht wurde, daß das Berufungsurteil vom Dezember 1988 erst im Juli 1989, sechs Monate nach der ersten Übersendung an den Verteidiger, erneut zugestellt werden mußte, weil sich die erste Zustellung als unwirksam erwiesen hatte.
b) Die erheblichen Verfahrensverzögerungen und die Verfahrensdauer insgesamt zwangen allerdings noch nicht dazu, das Strafverfahren spätestens in der Revisionsinstanz einzustellen. Es ist nicht ersichtlich, daß es – abgesehen von der überlangen Dauer – mit zusätzlichen Belastungen für den Beschwerdeführer einhergegangen wäre, die allein durch eine Einstellung hätten ausgeglichen werden können. Die Strafgerichte, zumal das Oberlandesgericht, haben es jedoch versäumt, der überlangen Verfahrensdauer bei der Strafzumessung in ausreichendem Maße Rechnung zu tragen.
aa) Zwar hat das Amtsgericht strafmildernd gewertet, daß seit der Tat ein längerer Zeitraum verstrichen und die lange Verfahrensdauer nicht durch ein unzulässiges prozessuales Verhalten des Beschwerdeführers, sondern durch die krisenhafte Überlastung der Gerichte verursacht worden sei; durch den Zeitablauf sei das Strafbedürfnis reduziert. Damit wurde aber ersichtlich nur dem Zeitablauf zwischen Tat und Aburteilung Rechnung getragen und diesem strafmildernde Wirkung beigemessen. Die Urteilsgründe lassen jedoch nicht erkennen, daß auch die dem Rechtsstaatsprinzip zuwiderlaufenden Verfahrensverzögerungen und die daraus resultierende überlange Verfahrensdauer als weiterer Strafmilderungsgrund berücksichtigt wurden (vgl. dazu BGH, Beschluß vom 6. September 1988, NJW 1990, S. 56). Dazu hätte es einer ausdrücklichen Feststellung der Verletzung des Beschleunigungsgebots und des Ausmaßes der Berücksichtigung dieses Umstandes bedurft. Im Beschluß des Vorprüfungsausschusses des Bundesverfassungsgerichts vom 24. November 1983 (NJW 1984, S. 967 ≪968≫) ist die exakte Bestimmung der Strafmilderung nur deshalb für entbehrlich gehalten worden, weil ihr Maß schon durch den Vergleich der in den verschiedenen Instanzen gegen den damaligen Angeklagten verhängten Strafen offen zutage trat und den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügte. Angesichts der Tatsache, daß gegen den Beschwerdeführer schon im Strafbefehl eine Geldstrafe von 80 Tagessätzen verhängt worden war, die nicht herabgesetzt wurde, ist eine solche Fallkonstellation vorliegend nicht gegeben.
bb) Das gleiche gilt für das Urteil des Landgerichts, durch das die Berufung des Beschwerdeführers verworfen wurde. Auch darin wird zur Strafzumessung – soweit hier von Interesse -lediglich ausgeführt, die Tat liege lange zurück, die Verfolgung sei teils durch die Überlastung der Behörden und Gerichte erschwert und verzögert worden. Es wird aber nicht erkennbar, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang das Landgericht einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot bejaht und in welchem Ausmaß es diesem Umstand bei der Strafzumessung Rechnung getragen hat.
cc) Das Oberlandesgericht hat diesen Mängeln in den Urteilen der Tatsacheninstanzen nicht abgeholfen. Zudem zeigt die Begründung der Revisionsentscheidung, daß auch das Oberlandesgericht die Reichweite und Wirkungsweise des verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebots nicht ausreichend erkannt hat.
Zu Unrecht ist das Oberlandesgericht davon ausgegangen, daß die angemessene Frist, innerhalb welcher nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer abzuschließen war, erst mit der Bekanntgabe der Verfahrenserweiterung an den Verteidiger des Beschwerdeführers am 30. Januar 1984 begonnen habe. Zwar kann die Verfassungsbeschwerde auf einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention nicht gestützt werden (vgl. BVerfGE 10, 271 ≪274≫; 74, 102 ≪128≫; st. Rspr.). Die Konvention ist jedoch in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar geltendes Recht im Rang eines einfachen Bundesgesetzes (vgl. Kleinknecht/Meyer, Kommentar zur StPO, 40. Aufl. 1991, MRK, Vor Art. 1 Rdnr. 3). Auch ihre fehlerhafte Auslegung durch die Fachgerichte kann daher Grundrechte verletzen, wenn sie auf einer Verkennung von deren Tragweite beruht. Dies ist hier der Fall.
Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK garantiert das Recht des Angeklagten auf gerichtliche Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist (Peukert in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar 1985, Art. 6, Rdnr. 98 ff.; BGH, NJW 1990, S. 56). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist unter einer „Anklage”, durch die die Frist des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK in Lauf gesetzt wird, im allgemeinen eine amtliche Mitteilung der zuständigen Behörde an den Beschuldigten zu verstehen, daß ihm vorgeworfen werde, eine strafbare Handlung begangen zu haben. Die „Anklage” kann jedoch auch die Form anderer Maßnahmen annehmen, die einen solchen Vorwurf enthalten und wichtige Rückwirkungen auf die Lage des Verdächtigen nach sich ziehen (vgl. EGMR, EuGRZ 1983, 371 ≪379≫ – Eckle –; EuGRZ 1985, S. 585 ≪587≫ – Corigliano –; NJW 1986, S. 647 ≪648≫ – Foti u.a. –). Danach kann die Frist des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auch schon vor einer Anklage im Sinne der Strafprozeßordnung oder einer förmlichen Mitteilung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit der Bekanntgabe einer Durchsuchungs- oder Beschlagnahmeanordnung beginnen (vgl. EGMR, EuGRZ 1983, S. 371 ≪379, 380≫ – Eckle –).
Diese Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK kann als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Umfang des aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes hergeleiteten Gebots der Verfahrensbeschleunigung herangezogen werden (vgl. BVerfGE 74, 358 ≪370≫). Dabei ist zu berücksichtigen, daß sowohl das Beschleunigungsgebot des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK als auch das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot – soweit es dem Schutz des Beschuldigten dient – verhindern soll, daß der Beschuldigte durch vermeidbare Verzögerungen des Verfahrens zusätzlichen fühlbaren Belastungen ausgesetzt wird. Bei der Bestimmung des Zeitpunkts, mit dem die Frist beginnt, innerhalb welcher ein Verfahren in angemessener Dauer durchgeführt werden muß, ist demnach auch für das verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot darauf abzustellen, wann eine solche Belastung des Beschuldigten tatsächlich eintritt.
Sie lag hier schon seit Juli 1980 vor. Dem Beschwerdeführer wurde am 7. Juli 1980 durch die Steuerfahndung als der zuständigen staatlichen Verfolgungsbehörde mitgeteilt, daß bei der Durchsuchung seiner Wohnung am selben Tag Beweismittel gefunden worden seien, aus denen sich der Verdacht der Einkommensteuerhinterziehung ergebe; ferner wurde ihm die Beschlagnahme dieser Beweismittel bekanntgegeben. Er wurde hierzu befragt und machte daraufhin Angaben, die auf seine Täterschaft hinwiesen. Es konnte für ihn somit schon zu diesem Zeitpunkt kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, daß gegen ihn ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen der Einkommensteuerhinterziehung durchgeführt würde. Mit der Beschlagnahme der Beweismittel hatte der Tatverdacht bereits zu einer wichtigen und belastenden Rückwirkung auf die Lage des Beschwerdeführers geführt.
Es besteht die Möglichkeit, daß die Entscheidung des Oberlandesgerichts auf der grundgesetzwidrigen Auslegung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK beruht. Zum einen hat sich das Oberlandesgericht damit den Blick auf die tatsächliche Verfahrensdauer von über zehn Jahren verstellt und ist statt dessen von einer wesentlich kürzeren Gesamtverfahrensdauer von knapp sechs Jahren und neun Monaten ausgegangen, zum anderen hat es – aus seiner Sicht folgerichtig – die Prüfung unterlassen, ob es auch im Zeitraum zwischen Juli 1980 und Januar 1984 zu rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerungen gekommen ist. Von daher ist nicht auszuschließen, daß das Oberlandesgericht bei verfassungskonformer Anwendung des Art. 6 MRK bezüglich des Rechtsfolgenausspruchs zu einem anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis gekommen wäre.
3. Soweit der Beschwerdeführer in bezug auf die Strafzumessungserwägungen eine rechtsstaatswidrige Anwendung des § 349 Abs. 2 StPO durch das Revisionsgericht rügt, bedarf es keiner Entscheidung, weil insoweit schon die Rüge einer Verletzung des Beschleunigungsgebots durchgreift.
4. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde auch auf den Schuldspruch bezieht, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Wie bereits dargelegt, zwang die Verletzung des Beschleunigungsgebots die Strafgerichte nicht dazu, das Strafverfahren einzustellen. Eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 GG liegt ebenfalls nicht vor; diese Vorschrift schützt einen Ehegatten nicht vor Strafe, wenn er in einer gemeinsamen Einkommensteuererklärung Einkünfte seines Ehepartners vorsätzlich zu niedrig angibt. Es verstößt auch nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG, daß die Strafgerichte die Abgabe falscher Einkommensteuererklärungen für die Jahre 1972 bis 1978 als im Fortsetzungszusammenhang stehend gewertet haben. Die fortgesetzte Handlung stellt nach fester Rechtsprechung der Strafgerichte einen Unterfall der in § 52 StGB geregelten Tateinheit dar und ist in § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO ausdrücklich gesetzlich anerkannt. Ob ihre Voraussetzungen im vorliegenden Fall nach strafrechtlichen Maßstäben zu Recht bejaht worden sind, hat das Bundesverfassungsgericht nicht nachzuprüfen (vgl. BVerfGE 18, 85 ≪92 ff.≫); eine Verletzung von Verfassungsrecht, insbesondere eine willkürliche Rechtsanwendung, ist insoweit nicht ersichtlich. Soweit der Beschwerdeführer schließlich die Zurückweisung mehrerer Ablehnungsgesuche gegen den Vorsitzenden der Berufungsstrafkammer beanstandet, ist ein Verfassungsverstoß ebenfalls nicht festzustellen. Die Ablehnungsgesuche sind mit einer zumindest vertretbaren, willkürfreien Begründung zurückgewiesen worden; mehr hat das Bundesverfassungsgericht, das kein Rechtsmittelgericht ist, nicht nachzuprüfen.
5. Die Urteile des Amtsgerichts und des Landgerichts sind danach im Rechtsfolgenausspruch aufzuheben (§ 95 Abs. 2 BVerfGG), ebenso der Beschluß des Oberlandesgerichts, soweit er sich auf den Rechtsfolgenausspruch bezieht. Die Sache ist im Umfang der Aufhebung an das Landgericht Hamburg zurückzuverweisen, das die Rechtsfolge neu zu bestimmen hat. Durch die Rechtskraft des Schuldspruchs ist das Landgericht nicht gehindert zu prüfen, ob im Blick darauf, daß mittlerweile seit Tatende fast dreizehneinhalb Jahre vergangen sind, und auf die Dauer des weiteren Verfahrens die Schuld des Beschwerdeführers mittlerweile soweit ausgeglichen ist, daß eine Einstellung des Verfahrens gemäß § 153 Abs. 2 StPO in Betracht gezogen werden kann (vgl. BGH, NJW 1990, S. 1000 f.).
6. Da die Verfassungsbeschwerde nur hinsichtlich des Rechtsfolgenausspruchs begründet ist, der Beschwerdeführer aber die Aufhebung der Entscheidungen insgesamt anstrebte, sind ihm die notwendigen Auslagen nur zu zwei Drittel zu erstatten (§ 34a Abs. 2 BVerfGG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen
Haufe-Index 1504863 |
NJW 1993, 3254 |
EuGRZ 1994, 73 |
StV 1993, 352 |