Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Sorgfaltspflichten des Bürgers bei fristwahrenden Schriftstücken und Vertrauen auf normale Postlaufzeit
Leitsatz (redaktionell)
- Der Bürger, der sich zur Weiterleitung seines schriftlichen Einspruchs der Deutschen Bundespost bedient, kann auf die Einhaltung der üblichen Postlaufzeit vertrauen. In seiner Verantwortung liegt es vielmehr nur, den Brief richtig frankiert und adressiert unter Beachtung der auf dem jeweiligen Briefkasten angegebenen Leerungszeiten so rechtzeitig zur Post zu geben, daß er bei Einhaltung der üblichen Postlaufzeit dem Empfänger fristgerecht zugeht.
- In Zweifelsfällen obliegt es dem Bürger, sich nach den Postlaufzeiten zu erkundigen, wie die Deutsche Bundespost sie nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den regelmäßigen Betriebsablauf selbst bemißt.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4; StPO § 44
Verfahrensgang
LG Köln (Beschluss vom 29.08.1975; Aktenzeichen 37 Qs OWi 644/75) |
AG Köln (Beschluss vom 16.07.1975; Aktenzeichen 270 OWi 718/75) |
Gründe
A. – I.
Dem Beschwerdeführer wurde am 17. Mai 1974 ein Bußgeldbescheid der Stadt Köln – Amt für öffentliche Ordnung – über 60 DM wegen einer Ordnungswidrigkeit im Straßenverkehr zugestellt. Mit einer vom 22. Mai 1974 datierten Schrift legte er Einspruch ein. Der Brief ging laut Eingangsstempel der Verwaltungsbehörde erst am 27. Mai 1974 (Montag) zu. Aus ungeklärten Gründen blieb er genau ein Jahr lang unbearbeitet. Mit Schreiben vom 27. Mai 1975 wies die Behörde den Beschwerdeführer auf die Verspätung des Einspruchs hin. Darauf beantragte er binnen einer Woche die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist. Zur Begründung trug er vor, er sei, da der Briefkasten in seinem Wohnort Lülsdorf seltener geleert werde, am 22. Mai 1974 eigens nach Porz-Zündorf gefahren und habe die Einspruchsschrift dort in einen Briefkasten eingeworfen, der ausweislich der angegebenen Leerungszeiten noch an diesem Tag und auch am nachfolgenden Feiertag (Christi Himmelfahrt) habe geleert werden sollen. Deshalb habe er darauf vertraut, daß angesichts der geringen Entfernung zwischen Porz-Zündorf und Köln der Einspruch rechtzeitig vor Ablauf der Frist am 24. Mai 1974 bei der Verwaltungsbehörde eingehen werde.
Durch Beschluß vom 16. Juli 1975 verwarf das Amtsgericht Köln den Einspruch als verspätet und lehnte den Wiedereinsetzungsantrag ab, weil der Vortrag des Beschwerdeführers nicht die Feststellung rechtfertige, er sei ohne Verschulden an der Einhaltung der Einspruchsfrist gehindert gewesen. Der Beschwerdeführer habe den Brief früher absenden müssen, zumal mit einer Verzögerung der Postbeförderung durch den folgenden Feiertag zu rechnen gewesen sei.
Das Landgericht Köln verwarf die hiergegen erhobene sofortige Beschwerde mit Beschluß vom 29. August 1975 als unbegründet. Es schloß sich den Gründen des Amtsgerichts an und führte ergänzend aus, Postlaufzeiten von mehr als zwei Tagen seien selbst im innerörtlichen Verkehr nicht außergewöhnlich, insbesondere wenn ein Feiertag dazwischenliege. Aus der Rechtsmittelbelehrung habe sich hinreichend klar ergeben, daß die bloße Aufgabe zur Post nicht ausreiche, sondern der Beschwerdeführer auch das Risiko für den rechtzeitigen Eingang des Einspruchs bei der Verwaltungsbehörde zu tragen habe. Wenn er die Einspruchsfrist als Überlegungsfrist voll habe ausschöpfen wollen, dann hätte er in anderer Weise für rechtzeitigen Zugang sorgen können und müssen, etwa durch Aufgabe eines Telegramms oder Eilbriefs oder durch Einwurf in den Nachtbriefkasten der Behörde.
II.
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG durch beide Entscheidungen. Es dürfe ihm nicht als Verschulden zugerechnet werden, daß er im Hinblick auf die angegebenen Leerungszeiten und die räumliche Nähe zwischen Porz und Köln darauf vertraut habe, der Einspruch werde noch fristgerecht eingehen.
III.
1. Der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen, dem Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden ist, hat von einer Stellungnahme abgesehen.
2. Der Beschwerdeführer hat eine Auskunft der Oberpostdirektion Köln vorgelegt. Sie geht von seiner präzisierten Angabe aus, er habe den Brief zwischen 16 und 17 Uhr in einen bestimmten Briefkasten beim Postamt Porz-Zündorf eingeworfen, und dort seien für Werktage wie den 22. Mai 1974 Leerungen um 17 Uhr sowie zu einem weiteren (späteren) Zeitpunkt angezeigt gewesen. Die Auskunft besagt, der Beschwerdeführer habe mit der Zustellung seines Briefes am 24. Mai 1974 rechnen können.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
1. Für den Bürger, der die gesetzliche Frist zum Einspruch gegen einen Strafbefehl oder einen Bußgeldbescheid versäumt hat, hängt die Verwirklichung der Rechtsweggarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG und seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG davon ab, daß ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird. Nur so kann er noch erreichen, daß er in diesen summarischen Verfahren mit seinem Vorbringen in der Sache selbst vom Richter gehört wird. Das Bundesverfassungsgericht hat daher in ständiger Rechtsprechung aus Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 GG den Grundsatz hergeleitet, daß in Fällen des “ersten Zugangs” zum Gericht bei Anwendung und Auslegung der maßgeblichen Vorschriften des einfachen Rechts (§§ 44 bis 47 StPO, § 52 OWiG) die Anforderungen an die Erlangung der Wiedereinsetzung nicht in einer für den Beschwerdeführer unzumutbaren Weise überspannt werden dürfen (BVerfGE 25, 158 [166]; 38, 35 [38] mit weiteren Nachweisen).
2. In Anwendung dieses Grundsatzes hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß der Bürger, der sich zur Weiterleitung seines schriftlichen Einspruchs der Deutschen Bundespost bedient, auf die Einhaltung der üblichen Postlaufzeit vertrauen kann (BVerfGE 40, 42 [45]). Es darf ihm also nicht als ein der Wiedereinsetzung entgegenstehendes Verschulden angelastet werden, daß er nicht mit einer zwar möglichen, aber außergewöhnlichen Verzögerung der Briefbeförderung oder der Briefzustellung durch die Post gerechnet habe. In seiner Verantwortung liegt es vielmehr nur, den Brief richtig frankiert und adressiert unter Beachtung der auf dem jeweiligen Briefkasten angegebenen Leerungszeiten so rechtzeitig zur Post zu geben, daß er bei Einhaltung der üblichen Postlaufzeit dem Empfänger fristgerecht zugeht. Die “normale” Laufzeit ist objektiv – und zugleich dem Grundsatz der Gleichbehandlung Rechnung tragend – danach bestimmbar, wie die Deutsche Bundespost sie nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den regelmäßigen Betriebsablauf selbst bemißt. In Zweifelsfällen obliegt es dem Bürger, sich insoweit zu erkundigen. Auch dies hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (Beschluß vom 16. Dezember 1975 – 2 BvR 854/75 –).
3. Nach der Auskunft der Oberpostdirektion hätte der Einspruch des Beschwerdeführers ungeachtet des Feiertages noch am 24. Mai 1974 und somit fristgerecht bei der Verwaltungsbehörde eingehen müssen, wenn die normale Postlaufzeit im vorgenannten Sinn eingehalten worden wäre. Demnach stellt es eine unzumutbare, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigende Erschwerung des “ersten Zugangs” zum Gericht dar, daß Amts- und Landgericht dem Beschwerdeführer die Wiedereinsetzung mit der Begründung versagten, er habe mit einer längeren Laufzeit rechnen und deshalb entweder einen gewöhnlichen Brief früher zur Post geben oder aber den Einspruch telegrafisch, mittels Eilbriefes oder durch Einwurf in den Nachtbriefkasten der Behörde einlegen müssen. Daß die Gerichte begründete Zweifel an der vom Beschwerdeführer angegebenen Einwurfzeit gehegt hätten, ist weder den Entscheidungsgründen noch dem übrigen Akteninhalt zu entnehmen. Ein Briefumschlag, aus dem sich Gegenteiliges hätte ergeben können, befindet sich nicht bei den Akten.
4. Die angegriffenen Beschlüsse beruhen somit auf einer mit Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 GG unvereinbaren Auslegung des in § 44 StPO enthaltenen Merkmals “Verschulden”. Sie sind aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
Das Land Nordrhein-Westfalen, dem der erfolgreich gerügte Verfassungsverstoß zuzurechnen ist, hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten (§ 34 Abs. 4 BVerfGG).
Fundstellen
Haufe-Index 1677239 |
BVerfGE, 356 |
DRiZ 1976, 150 |