Entscheidungsstichwort (Thema)
Streichung des Unternehmers aus Mehrwertsteuerregister, Besteuerung vorhandener Aktiva bei Einstellung der Unternehmenstätigkeit
Leitsatz (amtlich)
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung, nach der die zwingende Streichung einer Gesellschaft, deren Auflösung gerichtlich angeordnet wurde, aus dem Mehrwertsteuerregister die Verpflichtung nach sich zieht, die auf die zum Zeitpunkt der Auflösung der Gesellschaft vorhandenen Aktiva geschuldete oder als Vorsteuer entrichtete Mehrwertsteuer zu berechnen und an den Staat abzuführen, dann nicht entgegensteht, wenn diese Gesellschaft ab ihrer Auflösung keine wirtschaftlichen Umsätze mehr bewirkt.
Die Richtlinie 2006/112, insbesondere Art. 168, ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der die zwingende Streichung einer Gesellschaft, deren Auflösung gerichtlich angeordnet wurde, aus dem Mehrwertsteuerregister auch dann die Verpflichtung, die auf die zum Zeitpunkt dieser Auflösung vorhandenen Aktiva geschuldete oder als Vorsteuer entrichtete Mehrwertsteuer zu berechnen und an den Staat abzuführen, nach sich zieht, wenn diese Gesellschaft während des Liquidationsverfahrens weiterhin wirtschaftliche Umsätze bewirkt, und die damit das Recht auf Vorsteuerabzug von der Einhaltung dieser Verpflichtung abhängig macht.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 168
Beteiligte
Direktor na Direktsia Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika - Sofia |
Verfahrensgang
Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) (Beschluss vom 21.10.2016; Abl.EU 2017, Nr. C 22/9) |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Steuerwesen ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Auflösung einer Gesellschaft, die deren Streichung aus dem Mehrwertsteuerregister zur Folge hat ‐ Verpflichtung, die Mehrwertsteuer auf die vorhandenen Aktiva zu berechnen und die berechnete Mehrwertsteuer an den Staat abzuführen ‐ Beibehaltung oder Änderung des zum Zeitpunkt des Beitritts zur Europäischen Union bestehenden Gesetzes ‐ Art. 176 Abs. 2 ‐ Auswirkung auf das Recht auf Vorsteuerabzug ‐ Art. 168“
In der Rechtssache C-552/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia, Bulgarien) mit Entscheidung vom 21. Oktober 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 2. November 2016, in dem Verfahren
„Wind Inovation 1“ EOOD,in Liquidation,
gegen
Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ ‐ Sofia
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. G. Fernlund (Berichterstatter) sowie der Richter A. Arabadjiev und E. Regan,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ des Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ ‐Sofia, vertreten durch A. Georgiev als Bevollmächtigten,
‐ der bulgarischen Regierung, vertreten durch E. Petranova und M. Georgieva als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und N. Nikolova als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 168 und 176 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Wind Inovation 1 EOOD (im Folgenden: Wind Inovation) und dem Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ ‐ Sofia (Direktor der Direktion „Anfechtung und Steuer- und Sozialversicherungspraxis“ ‐ Sofia, Bulgarien) (im Folgenden: Direktor) wegen des Bescheids über die Streichung dieser Gesellschaft aus dem Mehrwertsteuerregister.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“
Rz. 4
Art. 18 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können der Lieferung von Gegenständen gegen Entgelt folgende Vorgänge gleichstellen:
…
c) … [den] Besitz von Gegenständen durch einen Steuerpflichtigen oder seine Rechtsnachfolger bei Aufgabe seiner der Steuer un...