Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerabzug, Vorsteuerüberhang, Erstattung eines Vorsteuerüberhangs, Recht auf Verzinsung, rückwirkende Verlängerung der Frist für die Erstattung eines Vorsteuerüberhangs
Leitsatz (amtlich)
1. Art. 183 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2006/138/EG des Rates vom 19. Dezember 2006 geänderten Fassung ist in Verbindung mit dem Grundsatz des Vertrauensschutzes dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine rückwirkende Verlängerung der Frist für die Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses vorsieht, soweit durch diese Regelung dem Steuerpflichtigen der ihm vor dem Inkrafttreten der Regelung zustehende Anspruch auf Verzugszinsen auf den an ihn zu erstattenden Betrag genommen wird.
2. Art. 183 der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2006/138 geänderten Fassung ist unter Berücksichtigung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die normale Frist für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses von 45 Tagen, nach deren Ablauf Verzugszinsen auf den zu erstattenden Betrag geschuldet werden, im Fall der Einleitung eines Steuerprüfungsverfahrens mit der Folge verlängert wird, dass die Verzugszinsen erst ab dem Zeitpunkt geschuldet werden, zu dem das Steuerprüfungsverfahren abgeschlossen ist, wenn dieser Überschuss während der drei dem Zeitraum seiner Entstehung folgenden Besteuerungszeiträume bereits Gegenstand eines Vortrags war. Dass die normale Frist 45 Tage beträgt, steht hingegen nicht im Widerspruch zu dieser Vorschrift.
3. Art. 183 der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2006/138 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses im Wege einer Verrechnung nicht entgegensteht.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 183
Beteiligte
Direktor Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto NAP |
Verfahrensgang
Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) (Urteil vom 15.02.2010; Abl.EU 2010, Nr. C 1342/207) |
Tatbestand
Vorabentscheidungsersuchen ‐ Mehrwertsteuer ‐ Richtlinien 77/388/EWG und 2006/112/EG ‐ Erstattung ‐ Frist ‐ Zinsen ‐ Verrechnung ‐ Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Proportionalität ‐ Vertrauensschutz
In der Rechtssache C-107/10
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) mit Entscheidung vom 15. Februar 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 25. Februar 2010, in dem Verfahren
Enel Maritsa Iztok 3 AD
gegen
Direktor Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto NAP
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, des Richters D. Šváby, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Juhász und T. von Danwitz (Berichterstatter),
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Januar 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Enel Maritsa Iztok 3 AD, vertreten durch L. Ruessmann, avocat, und S. Yordanova, advokat,
‐ des Direktor Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto NAP, vertreten durch A. Georgiev und I. Atanasova Kirova als Bevollmächtigte,
‐ der bulgarischen Regierung, vertreten durch T. Ivanov und E. Petranova als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Triantafyllou und S. Petrova als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 Abs. 4 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2006/98/EG des Rates (ABl. L 363, S. 129) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie) und von Art. 183 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2006/138/EG des Rates vom 19. Dezember 2006 (ABl. L 384, S. 92) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Enel Maritsa Iztok 3 AD (im Folgenden: Enel) und dem Direktor Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto NAP (Leiter der Direktion Anfechtung und Verwaltung des Vollzugs bei der Zentralverwaltung der Nationalen Agentur für Einnahmen, im Folgenden: Direktor) über den maßgeblichen Zeitpunkt, ab dem Verzugszinsen auf einen zu erstattenden Mehrwertsteuerbetrag geschuldet werden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 18 Abs. 2 und 4 der Sechsten Richtlinie bestimmt:
(2) Der Vorsteuerabzug wird vom S...