Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückzahlung zu Unrecht gezahlter Beträge, Verjährungsfristen, Grundsatz der Effektivität, Grundsatz der Rechtssicherheit, Grundsatz des Vertrauensschutzes, Körperschaftsteuervorauszahlung, advance corporation tax, Vereinigtes Königreich
Leitsatz (amtlich)
1. In einer Situation, in der die Steuerpflichtigen nach dem nationalen Recht zwischen zwei möglichen Rechtsbehelfen wegen einer unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuer wählen können, von denen einer der beiden einer längeren Verjährungsfrist unterliegt, stehen die Grundsätze der Effektivität, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes einer nationalen Rechtsvorschrift entgegen, die diese Verjährungsfrist ohne Vorankündigung und rückwirkend verkürzt.
2. Für die Antwort auf Frage 1 ist es ohne Bedeutung, wenn zum Zeitpunkt der Klageerhebung durch den Steuerpflichtigen die Möglichkeit, den Rechtsbehelf mit der längeren Verjährungsfrist einzulegen, erst kurz zuvor von einem Untergericht anerkannt worden war und erst später endgültig von der höchsten gerichtlichen Instanz bestätigt wurde.
Normenkette
AEUV
Beteiligte
Test Claimants in the Franked Investment Income Group Litigation |
Test Claimants in the Franked Investment Income Group Litigation |
Commissioners of Inland Revenue |
Commissioners for HM Revenue and Customs |
Verfahrensgang
Supreme Court (Vereinigtes Königreich) (Urteil vom 25.07.2012; ABl. EU 2012, Nr. C 311/5) |
Tatbestand
„Gerichtlicher Rechtsschutz ‐ Grundsatz der Effektivität ‐ Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes ‐ Rückzahlung zu Unrecht gezahlter Beträge ‐ Rechtsbehelfe ‐ Nationale Rechtsvorschriften ‐ Ohne Vorankündigung und rückwirkend eingeführte Verkürzung der Frist für die Einlegung von Rechtsbehelfen“
In der Rechtssache C-362/12
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supreme Court of the United Kingdom (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 25. Juli 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Juli 2012, in dem Verfahren
Test Claimants in the Franked Investment Income Group Litigation
gegen
Commissioners of Inland Revenue,
Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richter C. G. Fernlund (Berichterstatter) und A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader und des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: M. Wathelet,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. Juni 2013,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Test Claimants in the Franked Investment Income Group Litigation, vertreten durch G. Aaronson, QC, im Beistand von P. Freund und P. Farmer, Barristers, beauftragt von S. Whitehead, Solicitor,
‐ der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch H. Walker als Bevollmächtigte im Beistand von D. Ewart, QC, und K. Bacon, Barrister,
‐ der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal und W. Mölls als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. September 2013
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Grundsätze der Effektivität, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den Test Claimants in the Franked Investment Income Group Litigation (im Folgenden: Test Claimants) einerseits und den Commissioners of Inland Revenue (im Folgenden: Commissioners) sowie den Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs andererseits wegen der Rechtsbehelfe, die den Steuerpflichtigen für die Rückforderung von Beträgen offenstehen, die im Hinblick auf Steuern, die mit der Niederlassungsfreiheit und dem freien Kapitalverkehr für unvereinbar erklärt worden waren, zu Unrecht gezahlt worden waren.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Zum für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt sah das englische Recht für die Rückforderung von unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobener Körperschaftsteuer zwei Rechtsbehelfe nach dem „Common Law“ vor.
Rz. 4
Beim ersten Rechtsbehelf, der vom House of Lords in seinem Urteil vom 20. Juli 1992, Woolwich Equitable Building Society/Inland Revenue Commissioners ([1993], AC 70), anerkannt wurde, handelt es sich um eine Klage auf Rückzahlung rechtswidrig erhobener Abgaben (im Folgenden: Woolwich-Klage).
Rz. 5
Nach Section 5 des Limitation Act 1980 (Verjährungsgesetz von 1980) beträgt die Verjährungsfrist für diese Klage sechs Jahre ab Entstehen des Anspruchs.
Rz. 6
Der zweite Rechtsbehelf, der im Urteil des House of Lords vom 29. Oktober 1998, Kleinwort Benson/Lincoln City Council ([1999] 2 AC 349), anerkannt wurde, erlaubt die Erstattung von aufgrund eines Rechtsirrtums geleisteten Zahlungen (im Folgenden: Kleinwort-Benson-Klage).
Rz. 7
Nach Section 32(1)(c) des Limitation Act 1980 beträgt die Verjährungsfrist für diese Art von Recht...