Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerabzug, Bemessungsgrundlage, Induktive Methode zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage, Schätzung
Leitsatz (amtlich)
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und die Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegenstehen, nach der eine Steuerbehörde im Fall von gravierenden Divergenzen zwischen den erklärten Einnahmen und den auf der Grundlage von Sektorenanalysen geschätzten Einnahmen eine induktive Methode heranziehen kann, die auf solchen Sektorenanalysen beruht, um die Höhe des Umsatzes eines Steuerpflichtigen zu bestimmen, und dementsprechend eine Steuernacherhebung, mit der die Zahlung eines zusätzlichen Mehrwertsteuerbetrags angeordnet wird, vornehmen kann, sofern diese Regelung und ihre Anwendung es dem Steuerpflichtigen erlauben, unter Beachtung der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit sowie der Verteidigungsrechte die mit dieser Methode erzielten Ergebnisse auf der Grundlage aller Gegenbeweise, über die er verfügt, in Frage zu stellen und sein Recht auf Vorsteuerabzug gemäß den Bestimmungen in Titel X der Richtlinie 2006/112 auszuüben, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.
Normenkette
EGRL 112/2006
Beteiligte
Agenzia delle Entrate- Direzione provinciale di Reggio Calabria |
Verfahrensgang
Commissione tributaria provinciale di Reggio Calabria (Italien) (Beschluss vom 03.05.2016; Abl.EU 2017, Nr. C 86/10) |
Tatbestand
in der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Commissione tributaria provinciale di Reggio Calabria (Finanzgericht der Provinz Reggio Calabria, Italien) mit Entscheidung vom 3. Mai 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Dezember 2016, in dem Verfahren
Fortunata Silvia Fontana
gegen
Agenzia delle Entrate- Direzione provinciale di Reggio Calabria
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Siebten Kammer T. von Danwitz in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos, E. Juhász (Berichterstatter) und C. Vajda,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Januar 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von R. Guizzi, avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Tomat und R. Lyal als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 22. März 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Fortunata Silvia Fontana und der Agenzia delle Entrate – Direzione provinciale di Reggio Calabria (Steuerbehörde – Provinzialdirektion Reggio Calabria, Italien) (im Folgenden: Steuerbehörde) wegen eines Steuerbescheids über eine Mehrwertsteuernachforderung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Der 59. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Es ist in bestimmten Grenzen und unter bestimmten Bedingungen angebracht, dass die Mitgliedstaaten von dieser Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen ergreifen oder weiter anwenden können, um die Steuererhebung zu vereinfachen oder bestimmte Formen der Steuerhinterziehung oder -umgehung zu verhüten.”
Rz. 4
Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
- Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;
der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt
i) durch einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, oder durch eine nichtsteuerpflichtige juristische Person, wenn der Verkäufer ein Steuerpflichtiger ist, der als solcher handelt, für den die Mehrwertsteuerbefreiung für Kleinunternehmen gemäß den Artikeln 282 bis 292 nicht gilt und der nicht unter Artikel 33 oder 36 fällt;
ii) wenn der betreffende Gegenstand ein neues Fahrzeug ist, durch einen Steuerpflichtigen oder eine nichtsteuerpflichtige juristische Person, deren übrige Erwerbe gemäß Artikel 3 Absatz 1 nicht der Mehrwertsteuer unterliegen, oder durch jede andere nichtsteuerpflichtige Person;
iii) wenn die betreffenden Gegenstände verbrauchsteuerpflichtige Waren sind, bei denen die Verbrauchsteuer nach der Richtlinie 92/12/EWG im Gebiet des Mitgliedstaats entsteht, durch einen Steuerpflichtigen oder eine nichtsteuerpflichtige juristische Person, deren übrige Erwerbe gemäß Arti...