Rz. 11
Der Vorerbe gilt nach § 6 Abs. 1 ErbStG als Erbe. Diese gesetzliche Regelung hat zur Folge, dass der Vorerbe mit Eintritt des Vorerbfalls einen entsprechenden Erwerb von Todes wegen in Form eines Erwerbs durch Erbanfall i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG verwirklicht (§ 3 ErbStG Rz. 112). Damit löst sich das ErbStG in 2-facher Hinsicht vom zivilrechtlichen Leitbild der Vor- und Nacherbfolge (Rz. 2 ff.): Zum einen erfolgt die Besteuerung des Vorerben unabhängig von der Ausgestaltung seiner zivilrechtlichen Stellung als befreiter oder nicht befreiter Vorerbe, womit evtl. Verfügungsbeschränkungen gegenüber dem Nacherben i. S. d. §§ 2112 ff. BGB keinerlei Rolle spielen. Zum anderen wird ungeachtet des lediglich vorübergehenden Charakters des Vorerwerbs im Hinblick auf die Nacherbenanwartschaft des Nacherben der Erwerb des Vorerben als endgültig angesehen und grds. ohne Rücksicht auf den späteren Nacherbfall besteuert.
Rz. 12
Diese Grundsätze gelten insbesondere auch in den Fällen, in denen der Nacherbfall nicht durch den Tod des Vorerben eintritt und der Erwerb der Vorerbschaft nach § 6 Abs. 3 S. 1 ErbStG lediglich als auflösend bedingter Erwerb anzusehen ist (Rz. 36 ff.). Korrespondierend mit der Besteuerung des Vorerbfalls als endgültigem Vollerwerb wird der bloße Anfall des Nacherbenanwartschaftsrechts aufseiten des oder der Nacherben nicht besteuert.
2.1 Besteuerungsgrundsatz
Rz. 13
Mit Eintritt des Vorerbfalls hat der Vorerbe den vollen Wert des Erbanfalls zu versteuern. Die Bewertung seines Erwerbs erfolgt unabhängig von den zivilrechtlichen Beschränkungen i. S. d. §§ 2112 ff. BGB, die sich weder in Form eines Abschlags noch als Schuld bereicherungsmindernd auswirken. Über vereinzelt in der Lit. geäußerte verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf diese stringente Behandlung des Vorerben als Vollerben hat sich der BFH wiederholt und unmissverständlich hinweggesetzt. Die Besteuerung des Vorerben als endgültiger Vollerbe bedeutet umgekehrt jedoch auch, dass sich der Wegfall des Nacherbenanwartschaftsrechts – z. B. durch Ausschlagung der Nacherbschaft – aufseiten des Vorerben nicht bereicherungserhöhend auswirkt.
Rz. 14
Schuldner der Erbschaftsteuer ist nach § 20 Abs. 1 S. 1 ErbStG der Vorerbe, der nach § 20 Abs. 4 ErbStG die durch die Vorerbschaft veranlasste Steuer aus den Mitteln der Vorerbschaft zu entrichten hat (§ 20 ErbStG Rz. 40 ff.). Auch wenn der Vorerbe die Erbschaftsteuer zulasten der Nachlasssubstanz aufbringen muss, handelt es sich um eine eigene Verbindlichkeit des Vorerben, die nach § 10 Abs. 8 ErbStG nicht abzugsfähig ist (§ 10 ErbStG Rz. 290 ff.). Der Vorerbe haftet für diese eigene Verbindlichkeit auch mit seinem gesamten Privatvermögen. Stirbt der Vorerbe, ist die Steuer für den Vorerbfall nach dem Tod des Vorerben regelmäßig gegen den Nacherben und nur ausnahmsweise gegen den Erben des Vorerben festzusetzen.
Rz. 15
Erfüllt der Vorerbe freiwillig ein Vermächtnis, mit dem nach Anordnung des Erblassers der Nacherbe belastet ist, stellt das Vermächtnis aufseiten des Vorerben ebenfalls keine Nachlassverbindlichkeit i. S. d. § 10 Abs. 5 Nr. 2 ErbStG dar, da kein betagtes, sondern ein befristetes Vermächtnis vorliegt, auf das auch § 6 Abs. 3 ErbStG nicht analog Anwendung findet.
2.2 Nießbrauchsvermächtnis als Alternative zur Vor- und Nacherbschaft
Rz. 16
Obwohl der Vorerbe durch mögliche Verfügungsbeschränkungen als nicht befreiter Vorerbe (Rz. 4) gegenüber dem oder den Nacherben wirtschaftlich der Stellung eines Nießbrauchers angenähert ist, scheidet eine entsprechende Besteuerung als zeitlich befristeter Nießbraucher angesichts des eindeutigen Wortlauts des § 6 Abs. 1 ErbStG aus. Die Anordnung eines Nießbrauchsvermächtnisses anstatt einer Vor- und Nacherbschaft bietet sich als Gestaltungsalternative an, wenn dem potenziellen Vorerben lediglich ein – zeitlich befristetes – Nutzungsrecht am Nachlass eingeräumt werden soll, ohne dass dieser über einzelne Nachlassgegenstände oder den Nachlass insgesamt zulasten des potenziellen Nacherben verfügen können soll.
Rz. 17
Ein Nießbrauchsvermächtnis ist gegenüber einer Vor- und Nacherbschaft aus erbschaftsteuerlicher Sicht – auch unter Beachtung der partiellen steuerlichen Verschonung des Nacherben nach § 6 Abs. 2 und 3 ErbStG (Rz. 25 ff., 36 ff.) – insoweit vorteilhaft, als der potenzielle Nacherbe unmittelbar zum Erben eingesetzt wird, womit zunächst nur ein steuerpflichtiger Erwerb...