Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 108
Beruht die Steuerentlastung auf einem DBA, das eine Missbrauchsklausel enthält, verdrängt diese Missbrauchsklausel § 50d Abs. 3 EStG. Die Missbrauchsklausel des DBA ist insoweit lex specialis zu § 50d Abs. 3 EStG. Das gilt jedoch nur, soweit die Klausel in dem DBA den Mindestanforderungen der EU für eine Vorschrift zur Vermeidung von Missbräuchen entspricht. Eine derartige Missbrauchsklausel stellt etwa Art. 28 DBA-USA dar, die jedenfalls im Regelfall den Mindestanforderungen der EU entspricht. Soweit die DBA-Vorschrift im Einzelfall hinter dem Mindestniveau der EU zurückbleibt, sind § 50d Abs. 3 EStG und § 42 AO ergänzend anwendbar. Insoweit greift § 50d Abs. 3 EStG als Treaty Override ein. Andererseits kann ein DBA eine ausdrückliche Klausel enthalten, dass nationale Vorschriften zur Missbrauchsbekämpfung durch das DBA nicht verdrängt werden; dann gilt § 50d Abs. 3 EStG neben den entsprechenden Regelungen des DBA.
Rz. 109
Danach kann § 50d Abs. 3 EStG auch anwendbar sein, wenn das DBA eine eigenständige Vorschrift zur Verhinderung von Missbräuchen enthält. Dies kann z. B. zu einer Einschränkung der Entlastungsberechtigung nach dem DBA-Niederlande führen.
Nach Ziff. XV Abs. 3 Protokoll zum DBA-Niederlande ist § 50d Abs. 3 EStG nicht anwendbar, wenn eine in den Niederlanden ansässige natürliche Person zwischen sich und die ausschüttende deutsche Körperschaft eine oder mehrere in den Niederlanden ansässige Gesellschaft schaltet, es sei denn, die deutsche Finanzverwaltung weist nach, dass es sich um Missbrauch handelt. Die deutsche Finanzverwaltung trifft also die volle Beweislast, ohne dass sie sich auf Vermutungsregeln stützen kann. Außerdem liegt kein Missbrauch vor, wenn die Dividende bei Ausschüttung an die natürliche Person bei ihr besteuert werden. Da nach § 50d Abs. 3 EStG eine Vermutung für Missbrauch gilt, da die natürliche Person bei direktem Bezug der Einkünfte nicht das körperschaftsteuerliche Schachtelprivileg geltend machen könnte, und die Besteuerung bei ihr nach nationalem Recht keine Rolle spielt, kann nach § 50d Abs. 3 EStG auch in diesen Fällen Missbrauch vorliegen. Die Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG neben der Regelung des DBA-Niederlande führt also im Wege des Treaty Override zu einer Versagung der KapESt-Ermäßigung. An diesem Beispiel wird die Problematik der Regelung des § 50d Abs. 3 EStG deutlich, da Deutschland mit den Niederlanden eine bestimmte Regelung vereinbart hat, diese unilateral aber wieder zurücknimmt. Systematisch wäre ein Vorrang der DBA-Bestimmung erforderlich.
Rz. 110
Soweit das DBA keine vorrangige Missbrauchsklausel enthält, ist fraglich, ob § 50d Abs. 3 EStG ein Treaty Override darstellt. Dafür spricht, dass die Vorschrift die Berechtigung zur Reduzierung der Quellensteuer nach DBA einschränkt, also im Ergebnis Abkommensvergünstigungen nicht gewährt. Andererseits steht die Reduzierung der Quellensteuer nach Art. 10, 11 und 12 OECD-MA grundsätzlich nur dem "Nutzungsberechtigten" zu. Das DBA selbst definiert nicht, wer Nutzungsberechtigter ist. Auch aus dem systematischen Zusammenhang mit anderen Vorschriften des DBA ergibt sich eine solche Definition nicht. Daher ist insoweit entsprechend Art. 3 Abs. 2 OECD-MA inländisches Recht anzuwenden. Durchleitungsgesellschaften, bei denen die fragliche Einkunftsquelle keinen wesentlichen Zusammenhang mit der eigenen Wirtschaftstätigkeit aufweist und die insoweit auch keinen angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb unterhalten, erfüllen die Voraussetzung des Nutzungsberechtigten nicht. Europarechtlich wird der Begriff des Nutzungsberechtigten ebenso ausgelegt wie in den DBA (Rz. 29). Damit widerspricht der europarechtliche Missbrauchsbegriff und damit auch § 50d Abs. 3 EStG, wenn die Vorschrift europarechtskonform ausgelegt wird, nicht den DBA. Der Begriff des Nutzungsberechtigten stellt die Verbindung zu § 50d Abs. 3 EStG dar, sodass diese Vorschrift DBA-konform ist und keinen Treaty Override darstellt. Danach kann § 50d Abs. 3 EStG als eine nationale Definition dieses Begriffs des "Nutzungsberechtigten" angesehen werden. § 50d Abs. 3 EStG als spezielle Missbrauchsvorschrift geht grundsätzlich über den Inhalt, den der Begriff "Nutzungsberechtigter" nach den DBA haben kann, nicht hinaus.