Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 107
Ein besonders wichtiger Unterfall von Treu und Glauben liegt vor, wenn die Dispositionen des Stpfl. durch Gesetzesänderung, Feststellung der Verfassungswidrigkeit begünstigender Vorschriften, eine Änderung von Verwaltungsanweisungen oder eine Änderung der Rspr. beeinträchtigt werden. Dann kann es der Grundsatz des Vertrauensschutzes erforderlich machen, durch Übergangsregelungen im Billigkeitsweg dem Stpfl. Gelegenheit zur Anpassung seiner Verhältnisse an die neue Rechtslage zu geben.
Rz. 108
Den Stpfl. belastende Gesetze, die mit "echter Rückwirkung" ausgestattet sind, also in die Vergangenheit zurückwirken und dort abgeschlossene Sachverhalte einer höheren Besteuerung unterwerfen, sind regelmäßig verfassungswidrig. Verfassungsrechtlich zulässig ist aber die "unechte Rückwirkung" von Gesetzen, d. h. steuerverschärfende Gesetze, die einen in der Vergangenheit verwirklichten, in die Zukunft fortwirkenden Tatbestand für die Zukunft (nicht für die Vergangenheit) einer verschärften Besteuerung unterwerfen. Da der Stpfl. in der Vergangenheit seine Disposition auf der Grundlage der damals geltenden Gesetze getroffen hat, treten durch die Gesetzesänderung in der Zukunft unerwartete steuerliche Belastungen ein. Das kann insbesondere dann zu untragbaren Ergebnissen führen, wenn eine steuerliche Vergünstigung den Stpfl. gerade zu langfristig wirkenden wirtschaftlichen Entscheidungen und Liquiditätsrechnungen unter Einbeziehung der steuerlichen Entlastungen veranlassen sollte.
Rz. 109
Entsprechendes gilt, wenn eine begünstigende gesetzliche Norm für verfassungswidrig erklärt wird. Hier wird den Dispositionen des Stpfl. rückwirkend die Grundlage entzogen.
Rz. 110
Ändert sich die Rspr., tritt zwar keine Änderung in der Rechtslage ein, da die Rspr. das Recht nur interpretiert, nicht setzt; die Rspr. gleicht sich dann nur der tatsächlichen Rechtslage an. Eine Änderung der Rspr. wirkt daher grundsätzlich auch für die Vergangenheit. Da es sich nicht um eine Rechtsänderung handelt, liegt auch keine rückwirkende Rechtsänderung vor. Trotz der Geltung eines Gerichtsurteils nur für den entschiedenen Einzelfall entfalten Entscheidungen des BFH eine erhebliche tatsächliche Breitenwirkung. In aller Regel richten sich Finanzverwaltung und Stpfl. nach der Rspr. des BFH; eine Änderung der Rspr. entzieht damit dem Stpfl. rückwirkend die Beurteilungsgrundlage. Die Rspr. ist jedoch nicht in der Lage, dem Vertrauensprinzip bei einer Änderung der Rspr. umfassend Geltung zu verschaffen. Einerseits ist die Rspr. an Recht und Gesetz gebunden, muss also grundsätzlich die Rspr. ändern, wenn sie sie als unrichtig, mit dem Gesetz nicht in Einklang stehend erkannt hat. Die Rspr. kann allenfalls eine Rechtsprechungsänderung auf Fälle beschränken, in denen gewichtige, schwerwiegende und überwiegende sachliche Gründe hierfür vorliegen, im Zweifel also der Kontinuität der Rspr. den Vorrang einräumen. Hierbei handelt es sich aber um eine Selbstbeschränkung der Rspr.; es sind keine justiziablen Kriterien erkennbar, auf die sich der Stpfl. im Einzelfall berufen und damit eine Änderung der Rspr. in seinem Fall verhindern könnte.
Rz. 111
Über diese Selbstbeschränkung hinaus hat die Rspr. keine Möglichkeit, das Vertrauensinteresse des Stpfl. zu berücksichtigen. Insbesondere kann sie selbst keine Übergangsregelungen im Fall einer Änderung der Rspr. treffen. Das liegt daran, dass eine Übergangsregelung immer allgemeiner Natur sein muss und daher auf alle Fälle der betreffenden Art anzuwenden wäre. Die Rspr. kann aber nur in einem bestimmten, konkreten Fall entscheiden, also keine allgemeinen Regelungen treffen. Sie kann allenfalls in der Entscheidung, die die Änderung der Rspr. enthält, Übergangsregelungen durch Gesetzgeber und/oder Verwaltung anregen bzw. zu erkennen geben, dass sie bei Fehlen angemessener Übergangsregelungen im Einzelfall über §§ 163, 227 AO die Verwaltung zum Erlass der betreffenden Steuerbelastungen zwingen wird.
Rz. 112
Entsprechendes gilt für die Änderung von Verwaltungsanweisungen. Eine Verwaltungsanweisung entfaltet, von der Selbstbindung der Verwaltung abgesehen, rechtlich keine Außenwirkung. Tatsächlich pflegen sich Stpfl. jedoch nach Verwaltungsanweisungen zu richten; dem dient auch die von der Verwaltung veranlasste Veröffentlichung der Verwaltungsanweisungen. Ihre Beachtung durch den Stpfl. wird auch regelmäßig im Rahmen des Besteuerungsverfahrens erzwungen und kann, wenn der Stpfl. sich nicht daran hält, u. U. als Steuerstraftat gewertet werden. Auch in diesem Fall kann eine Änderung der Verwaltungsanweisung dem Stpfl. die Basis für seine Dispositionen entziehen. Das Vertrauen des Stpfl. wird in diesen Fallgruppen z. T. überhaupt nicht, z. T. unbefriedigend durch § 176 AO geschützt. Kann das Vertrauen des Stpfl. ausreichend durch § 176 AO geschützt werden, hat die Anwendung dieser Vorschrift Vorrang. Genügt diese Vorschrift für den notwendigen Vertrauensschutz nicht, kommt eine Billigkeitsmaßnahme in Betracht.