Prof. Dr. Gerrit Frotscher
Rz. 148
Die Anwendung des Abs. 4 setzt voraus, dass die steuerliche Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts in dem angefochtenen Steuerbescheid "irrig" war, d. h., dass die Steuerfestsetzung unabhängig von dem anhängigen Rechtsbehelfsverfahren unrichtig ist.
"Bestimmter Sachverhalt" ist der maßgebliche Lebensvorgang, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft.Das Merkmal des "bestimmten Sachverhalts" ist für alle Tatbestände des § 174 AO gleich auszulegen. Der Beurteilung zugrunde zu legen ist nicht die einzelne steuererhebliche Tatsache oder das einzelne Merkmal, sondern der einheitliche Sachverhaltskomplex. Mehrere Sachverhaltselemente bilden einen solchen einheitlichen Lebensvorgang bzw. Sachverhaltskomplex, wenn die betreffenden Sachverhaltselemente einen inneren Zusammenhang aufweisen.
Bei der "irrigen Beurteilung" kann es sich um Tatsachen- oder um Rechtsfehler handeln. Die irrige Beurteilung kann sich auf den Zeitraum, in dem die steuerlichen Folgen zu ziehen sind, das Steuerobjekt oder das Steuersubjekt (i. V. m. Abs. 5) beziehen.
Dagegen dient § 174 Abs. 4 AO nicht dazu, eine folgerichtige Umsetzung der geänderten Rechtsansicht des FA auf andere, wenn auch vergleichbare, Sachverhalte sicherzustellen.
Eine "irrige Beurteilung" liegt vor, wenn die steuerlichen Folgen aus einem bestimmten Sachverhalt unrichtig gezogen worden sind. Sie kann sich auf das Steuerobjekt, die Steuerart, die zeitliche Zuordnung zu einem bestimmten Veranlagungszeitraum oder im Rahmen des Abs. 5 auf das Steuersubjekt beziehen. Ob die irrige Beurteilung auf Fehlern im tatsächlichen oder rechtlichen Bereich beruht, ist ohne Bedeutung.
Rz. 149
Grundlage für die Prüfung, ob eine Beurteilung in dem Steuerbescheid "irrig" ist, ist der letzte vor dem Änderungsbescheid ergangene Bescheid, also derjenige Bescheid, der letztlich auf Grund des Antrags oder des Rechtsbehelfs des Stpfl. geändert oder aufgehoben wurde. Hat der Stpfl. Klage erhoben, ist dies der angefochtene Bescheid in der Fassung, die er durch die Einspruchsentscheidung erhalten hat.
Rz. 150
Abs. 4 ist nur anwendbar, wenn der unrichtige Steuerbescheid "aufgrund irriger Beurteilung" ergangen ist. Der Steuerbescheid, der auf Grund der irrigen Beurteilung ergangen ist, ist derjenige Steuerbescheid, der auf Grund eines Rechtsbehelfs oder eines Antrags des Stpfl. aufgehoben oder geändert worden ist. "Irrig" muss die Beurteilung in diesem aufgehobenen oder geänderten Steuerbescheid gewesen sein; die Beurteilung in früheren Steuerbescheiden über denselben Sachverhalt ist nicht maßgebend. Im Fall eines Rechtsbehelfsverfahrens ist daher der Steuerbescheid in der Fassung der Einspruchsentscheidung derjenige Steuerbscheid, auf Grund dessen Inhalts zu prüfen ist, ob die Beurteilung des Sachverhalts "irrig" war. Eine "irrige Beurteilung" liegt vor, wenn das FA aus einem bestimmten Sachverhalt irrtümlich unrichtige steuerliche Folgerungen zieht. Dabei ist es ohne Bedeutung, worauf die irrige Beurteilung beruht. Es kann sich um einen Tatsachenirrtum oder um einen Rechtsirrtum handeln. Die Vorschrift ist daher auch anwendbar, wenn das FA aus einem bestimmten Sachverhalt unzutreffende steuerrechtliche Folgerungen zieht. Es kann sich auch um eine grob irrige Beurteilung handeln. Werden höchstrichterliche Urteile, Richtlinien oder OFD-Verfügungen nicht beachtet, schließt das nicht aus, dass die Beurteilung "irrig" i. S. d. § 174 Abs. 4 AO ist.
Rz. 151
Dieses Tatbestandsmerkmal bedeutet, dass Abs. 4 nicht anwendbar ist, wenn der unrichtige Steuerbescheid nicht aufgrund irriger Beurteilung, sondern in Kenntnis der Unrichtigkeit erlassen wird. Das ist der Fall, wenn die Finanzbehörde bei Erlass des unrichtigen Steuerbescheids subjektiv nicht der Auffassung war, sie erlasse eine richtigen Steuerbescheid. Damit wird es der Finanzverwaltung untersagt, sich die Voraussetzungen der Änderungsmöglichkeit des Abs. 4 absichtlich zu verschaffen.
Bei der Veranlagung des Jahres 01 ist eine Einnahme durch einen Rechtsfehler oder ein Versehen der Finanzbehörde nicht erfasst worden. Die Voraussetzungen des Abs. 3 liegen nicht vor, da für den Stpfl. nicht erkennbar gemacht worden ist, dass die Einnahme in einer anderen Veranlagung erfasst werden sollte. Bei der Veranlagung des Jahres 02 wird nun diese Einnahme mit einbezogen, obwohl keine Gesichtspunkte ersichtlich sind, wonach diese Einnahme dem Jahr 02 zugeordnet werden könnte. Der Stpfl. legt daraufhin gegen die Veranlagung des Jahres 02 Einspruch ein; die Finanzbehörde ändert die Veranlagung 02 antragsgemäß, hätte jetzt aber – dem Wortlaut des Abs. 4 nach – die Möglichkeit, die Veranlagung des Jahres 01 zu ändern und die Einnahme dort zu erfassen.
Ein solches Verhalten, durch das sich die Verwaltung die Änderungsmöglichkeit des Abs. 4 durch bewusstes Erlassen eines unrichtigen Steuerbescheids verschaffen würde, verstößt gegen Treu und Glauben. Abs. 4 ist nicht anwendbar, weil der unrichtigen Veranlagung ...