Rz. 39

Hat die Finanzbehörde die äußere Ermessensgrenze eingehalten, also das Vorhandensein eines Ermessensspielraums erkannt und eine vom Gesetz gedeckte Rechtsfolge gewählt, so kann trotz Einhaltung der äußeren Ermessensgrenze ein fehlerhafter Ermessensgebrauch durch Verletzung der inneren Ermessensgrenze (auch sog. Ermessensmissbrauch oder Ermessensfehlgebrauch) gegeben sein. Dieser kann etwa auf einer Verfehlung des Ermessenszwecks z. B. aufgrund Anwendung sachfremder Gesichtspunkte beruhen. Gleiches gilt, wenn die Behörde eine Verengung des Ermessensspielraums kraft EU-Recht, Verfassungsrecht (z. B. Grundrechte oder Verhältnismäßigkeitsprinzip) oder anderweitiger Rechtsgrundsätze nicht beachtet; insoweit sind dem Ermessen der Behörde nicht nur rechtliche Grenzen, sondern wegen der auch für § 5 AO maßgebenden Begriffsbestimmung des § 4 AO unmittelbare "gesetzliche" Grenzen gesetzt.[1]

[1] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 5 AO Rz. 49ff.; anders Wernsmann, in HHSp, AO/FGO, § 5 AO Rz. 162.

4.3.1 Gleichheitssatz

 

Rz. 40

Eine Verletzung des Gleichheitssatzes[1] macht eine Ermessensentscheidung grundsätzlich fehlerhaft. Ermessensentscheidungen müssen gleichmäßig ergehen, wenn sie vielfach für gleichgelagerte Sachverhalte erlassen werden. Allerdings ist es im Bereich einer Massenverwaltung wie der Finanzverwaltung nicht immer möglich, solche Sachverhalte von verschiedenen Behörden gleich oder wenigstens ähnlich entscheiden zu lassen. Deswegen sind in den verschiedenen Steuerbereichen allgemeine ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften[2] ergangen, z. B. die BpO, die Vollstreckungsanweisung, die Vollziehungsanweisung, Richtlinien und andere Verwaltungsanweisungen wie Erlasse und Verfügungen. Diese Regelungen zur Ermessensvereinheitlichung enthalten auch die bundeseinheitlich ergehenden gleichlautenden Ländererlasse über Steuererklärungsfristen sowie vor allem die EStR.

 

Rz. 41

Haben sich die Finanzbehörden für die Ausübung ihres Ermessens derartige Verwaltungsvorschriften erlassen, kann sich daraus aufgrund Art. 3 Abs. 1 GG eine Selbstbindung der Verwaltung ergeben.[3] Diese begründet grundsätzlich einen Rechtsanspruch des Stpfl. auf Beachtung der Verwaltungsvorschrift.[4] Derartige das Verwaltungsermessen bindende Verwaltungsvorschriften sind im Rahmen des § 102 FGO auch im gerichtlichen Verfahren zu beachten.[5]

 

Rz. 42

Bindungswirkung entfalten diese Verwaltungsregelungen allerdings nur, sofern sie rechtmäßig sind, also insbesondere sachgerechter Ermessensausübung entsprechen.[6] Ist eine ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift rechtswidrig, so vermittelt der Gleichheitssatz[7] keinen Rechtsanspruch auf Beachtung (kein Anspruch auf "Gleichheit im Unrecht").[8]

 

Rz. 43

Die Abweichung von einer einschlägigen ermessenslenkenden Verwaltungsvorschrift ist ausnahmsweise bei atypischen Sachverhalten zulässig und ggf. auch geboten.[9] Die für diese Abweichung maßgebenden Erwägungen müssen sachgerechter Ermessensausübung entsprechen und bedürfen der Begründung.[10]

4.3.2 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

 

Rz. 44

Verfassungsrechtliche Schranken der Ermessensbetätigung ergeben sich aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Hiernach darf die Maßnahme nur durch Einsatz der für die Rechtsfolge erforderlichen, geeigneten und angemessenen Mittel getroffen werden. Dabei ist sowohl das Übermaßverbot, also die Pflicht zur Wahl der den Betroffenen am wenigsten belastenden aus mehreren Möglichkeiten, als auch das Erfordernis einer angemessenen Mittel-Zweck-Relation (Verhältnismäßigkeit i. e. S.) zu beachten.[1] Letztere macht eine Abwägung der nach der Ermächtigungsnorm gegebenen Entscheidungsmöglichkeiten notwendig.[2] Dabei sind insbesondere mögliche Grundrechtsbeeinträchtigungen des Stpfl. in die Abwägung einzubeziehen.[3] Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist z. B. bei der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen[4] bei der Auswahl der im Einzelfall anzuwendenden Schätzungsmethode zu beachten.[5]

[2] BFH v. 5.11.1981, IV R 179/79, BStBl II 1982, 208; BFH v. 16.7.2007, VII B 338/06, BFH/NV 2007, 2229; Neumann, in Gosch, AO/FGO, § 5 AO Rz. 17; Wernsmann, in HHSp, AO/FGO, § 5 AO Rz. 169.
[3] So. z. B. BFH v. 4.12.2012, VIII R 5/10, BStBl II 2014, 220 betr. Auskunftsverlangen der Steuerfahndung.

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