Entscheidungsstichwort (Thema)
Weiterbeschäftigungsanspruch
Orientierungssatz
Der gekündigte Arbeitnehmer hat einen arbeitsvertraglichen Anspruch auf vertragsgemäße Beschäftigung über den Ablauf der Kündigungsfrist bzw den Zugang der fristlosen Kündigung hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluß eines Kündigungsschutzprozesses, wenn die Kündigung unwirksam ist und überwiegende schutzwerte Interessen des Arbeitgebers einer solchen Beschäftigung nicht entgegenstehen.
Normenkette
BGB § 611
Verfahrensgang
LAG Köln (Entscheidung vom 14.06.1984; Aktenzeichen 10 Sa 158/84) |
ArbG Aachen (Entscheidung vom 21.12.1983; Aktenzeichen 3 Ca 1452/83) |
Gründe
I. Die Parteien haben darum gestritten, ob der Kläger über den 6. Oktober 1982 bzw. 31. März 1984 hinaus weiterzubeschäftigen ist.
Der Kläger war bei dem Beklagten seit dem 1. August 1971 als Rundfunk- und Fernsehtechniker beschäftigt.
Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger am 6. Oktober 1982 fristlos.
Der Kläger hat hiergegen Kündigungsschutzklage zum Arbeitsgericht Aachen erhoben. Dieses hat mit Urteil vom 5. Mai 1983 (Az.: 5 Ca 1787/82) festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch diese Kündigung nicht beendet worden ist. Das vom Beklagten angerufene Landesarbeitsgericht Köln hat mit Urteil vom 2. Dezember 1983 (Az.: 9 Sa 939/83) die hiergegen eingelegte Berufung zurückgewiesen. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten ist vom Bundesarbeitsgericht mit Beschluß vom 25. Juni 1984 (Az.: 2 AZN 168/84) als unzulässig verworfen worden.
Da der Beklagte die vorläufige Weiterbeschäftigung des Klägers ablehnte, hat dieser mit Schriftsatz seines Prozeßvertreters vom 9. September 1983 Klage auf Weiterbeschäftigung erhoben.
Der Beklagte sprach daraufhin mit Schreiben vom 26. September 1983 eine vorsorgliche ordentliche Kündigung zum 31. März 1984 aus.
Das Arbeitsgericht Aachen hat mit Urteil vom 25. Januar 1984 (Az.: 3 Ca 1619/83) festgestellt, daß auch diese Kündigung das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet. Die Verhandlung über die vom Beklagten beim Landesarbeitsgericht Köln eingelegte Berufung (Az.: 10 (2) Sa 291/84) war bis zur rechtskräftigen Erledigung des ersten Kündigungsschutzprozesses ausgesetzt.
Im vorliegenden Rechtsstreit hat der Kläger geltend gemacht, aufgrund der für ihn in erster und zum Teil auch in zweiter Instanz erfolgreich verlaufenen Kündigungsschutzprozesse sei der Beklagte zur vorläufigen Weiterbeschäftigung verpflichtet.
Er hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, ihn zu
unveränderten Arbeitsbedingungen wei-
terzubeschäftigen.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Er hat vorgetragen, vor rechtskräftigem Abschluß der Kündigungsschutzprozesse bestehe ein solcher Anspruch nicht.
Das Arbeitsgericht hat nach dem Klageantrag erkannt. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Beklagten das Ersturteil abgeändert und die Klage abgewiesen.
Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision hat der Kläger zunächst die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils begehrt.
Nach für ihn erfolgreicher Erledigung seiner Kündigungsschutzklagen beschäftigt der Beklagte den Kläger seit Februar 1986 wieder.
Die Parteien haben nunmehr übereinstimmend die Hauptsache für erledigt erklärt.
Sie beantragen, jeweils dem Gegner die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.
II. 1. Nach § 91 a Abs. 1 Satz 1 ZPO hat das Gericht über die Kosten des Rechtsstreits unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu entscheiden. Das gilt auch für den Fall, daß die Parteien erst in der Revisionsinstanz die Hauptsache für erledigt erklären (BAG Beschluß vom 18. Februar 1957 - 2 AZR 231/56 - AP Nr. 2 zu § 91 a ZPO; Urteil vom 2. November 1959 - 2 AZR 479/56 - AP Nr. 7 zu § 91 a ZPO; Beschluß vom 14. März 1984 - 5 AZR 453/83 - nicht veröffentlicht; Beschluß vom 10. April 1985 - 7 AZR 201/83 - nicht veröffentlicht; Zöller/Vollkommer, ZPO, 14. Aufl., § 91 a Rz 18).
2. Nach dem bisherigen Sach- und Streitstand hat der Beklagte die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Die vom Kläger eingelegte Revision gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln war zulässig und wäre auch begründet gewesen, denn dem Kläger stand der mit der Klage verfolgte Anspruch auf tatsächliche Weiterbeschäftigung über die Entlassungstermine vom 6. Oktober 1982 und 31. März 1984 hinaus zu.
a) Der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts hat durch Beschluß vom 27. Februar 1985 (- GS 1/84 - BAG 48, 122 = AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht) entschieden, der gekündigte Arbeitnehmer habe auch außerhalb der Regelungen des § 102 Abs. 5 BetrVG, § 79 Abs. 2 BPersVG einen arbeitsvertraglichen Anspruch auf vertragsgemäße Beschäftigung über den Ablauf der Kündigungsfrist bzw. den Zugang einer fristlosen Kündigung hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluß eines Kündigungsschutzprozesses, wenn die Kündigung unwirksam ist und überwiegende schutzwerte Interessen des Arbeitgebers einer solchen Beschäftigung nicht entgegenstehen. Er hat hierbei an den Beschäftigungsanspruch für den Zeitraum des unstreitig bestehenden Arbeitsverhältnisses angeknüpft, der nur dann nicht besteht, wenn ihm im Einzelfall überwiegende schutzwerte Interessen des Arbeitgebers entgegenstehen. Nach Ansicht des Großen Senats kann dieser Beschäftigungsanspruch nicht durch eine rechtsunwirksame Kündigung beseitigt werden. Allerdings könne die Ungewißheit über die objektive Rechtslage und das entsprechende beiderseitige Risiko des ungewissen Prozeßausgangs bei der Prüfung des Weiterbeschäftigungsanspruchs nicht außer Betracht gelassen werden. Die Ungewißheit über den Ausgang des Kündigungsschutzprozesses begründe ein schutzwertes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers für die Dauer dieses Prozesses, das in der Regel das Beschäftigungsinteresse des Arbeitnehmers bis zu dem Zeitpunkt überwiege, in dem im Kündigungsschutzprozeß ein die Unwirksamkeit der Kündigung feststellendes Urteil ergehe. Solange ein solches Urteil bestehe, müßten zusätzliche Umstände hinzu kommen, wenn sich im Einzelfall ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung ergeben solle, wie dies auch für den Fall des unangefochtenen Bestands des Arbeitsverhältnisses der Fall sei. Ausnahmsweise begründe die Ungewißheit über den Fortbestand des gekündigten Arbeitsvertrages bereits vor Erlaß eines die Unwirksamkeit der Kündigung feststellenden Urteils kein überwiegendes schutzwertes Interesse des Arbeitgebers, wenn die umstrittene Kündigung offensichtlich unwirksam ist. Dies sei dann der Fall, wenn sich aus dem eigenen Vortrag des Arbeitgebers ohne Beweiserhebung und ohne daß ein Beurteilungsspielraum gegeben ist, jedem Kundigen die Unwirksamkeit der Kündigung geradezu aufdrängt.
Die Voraussetzungen für die Weiterbeschäftigung nach Zugang der fristlosen Kündigung vom 6. Oktober 1982 liegen hier vor, denn mit Urteil des Arbeitsgerichts Aachen vom 5. Mai 1983 ist die Unwirksamkeit dieser Kündigung festgestellt worden. Dieses Urteil ist auch in der Folgezeit nicht wieder aufgehoben, sondern vielmehr rechtskräftig geworden.
Ein im Einzelfall überwiegendes Interesse des Beklagten an der Nichtbeschäftigung trotz der die Unwirksamkeit der Kündigung feststellenden Urteile ist nicht dargelegt.
b) Zwar kann sich die Interessenlage durch den Ausspruch einer weiteren Kündigung wieder zu Gunsten des Arbeitgebers verschieben, selbst wenn die Unwirksamkeit der ersten Kündigung bereits durch Urteil festgestellt worden ist. Dies ist dann der Fall, wenn infolge der weiteren Kündigung der Fortbestand des Arbeitsverhältnisses wieder in einem Maße ungewiß ist, wie vor Erlaß des Urteils in dem ersten Kündigungsschutzprozeß (vgl. BAG Urteil vom 19. Dezember 1985 - 2 AZR 190/85 - AP Nr. 17 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht, zu B II 2 b der Gründe, zum Abdruck in der Amtlichen Sammlung bestimmt).
Die ordentliche Kündigung zum 31. März 1984 war im vorliegenden Fall nicht geeignet, dieses Maß an Ungewißheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zu begründen, denn noch innerhalb der Kündigungsfrist ist auch die Unwirksamkeit dieser Kündigung gerichtlich festgestellt worden. Ein überwiegendes Interesse des Beklagten an der Nichtbeschäftigung des Klägers ab dem 1. April 1984 kann deshalb ebenfalls nicht bejaht werden.
Die Voraussetzungen für das Weiterbeschäftigungsbegehren lagen spätestens im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz vor. Der Klage hätte deshalb stattgegeben werden müssen.
Dr. Seidensticker Roeper Dr. Steckhan
Kleeschulte Straub
Fundstellen