Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachträgliche Regelung in Tarifvertrag
Orientierungssatz
Parallelentscheidung zum BAG Urteil vom 10.12.1986, 5 AZR 517/85.
Verfahrensgang
ArbG Koblenz (Entscheidung vom 25.03.1985; Aktenzeichen 2 Ca 2205/84) |
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe des dem Kläger zustehenden Krankengeldzuschusses.
Der Kläger ist seit dem 1. Dezember 1972 als gewerblicher Arbeitnehmer bei der Beklagten beschäftigt. Für das Arbeitsverhältnis gilt kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für Arbeiter des Bundes (MTB II). Nach § 42 Abs. 5 und Abs. 6 MTB II erhält der Arbeiter, soweit er nicht Anspruch auf Lohnfortzahlung (Krankenlohn) hat, bei einer Beschäftigungszeit von mehr als einem Jahr längstens bis zum Ende der 13. Woche und bei einer Beschäftigungszeit von mehr als drei Jahren längstens bis zum Ende der 26. Woche seit dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit einen Krankengeldzuschuß. Gemäß § 42 Abs. 11 Unterabs. 1 MTB II beträgt der Krankengeldzuschuß 100 % des Nettoarbeitsentgelts vermindert um die Barleistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung. Nettoarbeitsentgelt ist der Urlaubslohn vermindert um die gesetzlichen Lohnabzüge (Unterabs. 3).
Das Krankengeld (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, Abs. 4 RVO) unterliegt seit dem 1. Januar 1984 der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Die Beiträge sind je zur Hälfte von den Krankengeldbeziehern und den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung aufzubringen und von der Krankenversicherung an den Rentenversicherungsträger sowie an die Bundesanstalt für Arbeit abzuführen (§ 1385 b Abs. 1 RVO, § 186 Abs. 1 AFG, eingefügt durch Art. 1 Nr. 53, Art. 17 Nr. 30, Art. 39 Abs. 1 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983, BGBl. I S. 1532). Der Streit der Parteien betrifft vorliegend die Frage, ob bei der Berechnung des Krankengeldzuschusses das um den Beitragsanteil des Arbeitnehmers gekürzte oder aber das ungekürzte Krankengeld zugrundezulegen ist.
Der Kläger war in der Zeit vom 2. Januar 1984 bis zum 9. April 1984 arbeitsunfähig krank. Bis zum 17. Januar erhielt er von der Beklagten Lohnfortzahlung. Ab 18. Januar 1984 gewährte ihm die Krankenkasse Krankengeld, wobei sie die Arbeitnehmeranteile zur Renten- und Arbeitslosenversicherung einbehielt und abführte ("Nettokrankengeld"). Die Beklagte berechnete den Zuschuß zum Krankengeld dagegen wie bisher auf der Grundlage des ungekürzten Krankengeldes ("Bruttokrankengeld"). Dadurch erhielt der Kläger in den Monaten Januar bis April 1984 insgesamt 524,05 DM weniger, als sein Nettoarbeitsentgelt nach § 42 Abs. 11 Unterabs. 3 MTB II betragen hätte. Dieses Ergebnis hält der Kläger für ungerechtfertigt und verlangt von der Beklagten die Zahlung des Unterschiedsbetrages.
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, die Beklagte schulde ihm Krankengeldzuschuß in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen dem tatsächlich von der Krankenkasse ausgezahlten Nettobetrag und dem Nettourlaubslohn. Sinn und Zweck der Tarifregelung sei es zu verhindern, daß der Arbeiter im Krankheitsfalle einen Verlust an seinem Nettoeinkommen erleide. Das Haushaltsbegleitgesetz 1984 habe zu einer Kürzung der Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung geführt. Diese Verschlechterung dürfe nicht zu Lasten der dem Tarifvertrag unterfallenden Arbeitnehmer gehen. Vielmehr sei der Arbeitgeber verpflichtet, einen Ausgleich über die Erhöhung des Krankengeldzuschusses zu schaffen.
Der Kläger hat daher beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 524,05 DM
netto nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung zu
zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen: Der Arbeitgeber sei nicht zur Zahlung eines höheren Krankengeldzuschusses verpflichtet. Daraus, daß das Krankengeld nicht mehr in voller Höhe an den Versicherten ausbezahlt werde, sondern die Krankenversicherung dessen Beitragsanteil davon einbehalte und abführe, könne nicht hergeleitet werden, daß sich die Barleistung der Krankenkasse entsprechend verringere. "Barleistung" im Sinne der tariflichen Vorschrift sei nicht die dem Versicherten unmittelbar ausgezahlte Summe des Krankengeldes, sondern dessen ungekürzter Grundbetrag, der dem Versicherten aus seinem Rechtsverhältnis zu dem Leistungsträger zustehe.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Dagegen richtet sich die Sprungrevision, mit der die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiterverfolgt.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision ist zulässig und begründet. Die Vorschrift des § 42 MTB II, die allein dafür in Betracht kommt, bietet zur Zeit keine Anspruchsgrundlage für das Klagebegehren. Sie ist seit dem 1. Januar 1984 lückenhaft geworden. Eine ergänzende Lückenausfüllung ist dem Gericht nicht möglich (vgl. die zur Veröffentlichung vorgesehene Entscheidung des Senats vom 10. Dezember 1986 - 5 AZR 517/85 -).
I. Die Sprungrevision ist zulässig. Das Arbeitsgericht hat sie nachträglich durch Beschluß zugelassen. Hieran ist der Senat gebunden (§ 76 Abs. 2 Satz 2 ArbGG). Das wäre nur dann anders, wenn die Zulassung in gesetzwidriger Weise ausgesprochen worden wäre, etwa weil die Voraussetzungen der Zulassung (§ 76 Abs. 2 Satz 1 ArbGG) nicht vorlägen (vgl. Grunsky, ArbGG, 4. Aufl., § 76 Rz 3). Das ist hier jedoch nicht der Fall. Insbesondere folgt dies nicht daraus, daß das Arbeitsgericht nicht auch noch die Berufung im Urteil oder in den verkündeten Entscheidungsgründen zugelassen hat. Das Arbeitsgericht kann, wie sich aus § 76 Abs. 1 Satz 1 ArbGG ergibt ("unter Übergehung der Berufungsinstanz"), nur zwischen der Zulassung der Berufung oder der Zulassung der Sprungrevision wählen. Hat es sich für die Zulassung der Revision - anstelle der Berufung - entschieden, kann es nicht gleichzeitig noch die Berufung zulassen, die es sonst gemäß § 64 Abs. 3 ArbGG hätte zulassen müssen. Daß das Arbeitsgericht sich im Streitfall für die Zulassung der Revision entschieden hatte, folgt aus dem gleichzeitig mit dem Urteil verkündeten Beschluß, durch den es die Parteien darauf hinwies, daß die Zustimmungserklärung schriftlich erfolgen müsse. Hierdurch ist dem Erfordernis genügt, daß bei der Verkündung des Urteils - entsprechend dem Gebot der Rechtsmittelklarheit und damit der Rechtssicherheit - offenbar sein muß, in welchem Umfang die Entscheidung mit Rechtsmitteln anfechtbar ist (vgl. Senatsurteil vom 9. März 1968 - 5 AZR 252/67 - AP Nr. 14 zu § 319 ZPO; BAGE 25, 9, 10 = AP Nr. 2 zu § 566 ZPO; BAG Beschluß vom 19. August 1986 - 4 AZB 15/86 -, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Überdies konnte sich beim Kläger nicht das Vertrauen einstellen, die Entscheidung des Arbeitsgerichts sei nicht mehr anfechtbar. Denn er hatte - ebenso wie die Beklagte - in der mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht der Einlegung der Sprungrevision durch die jeweils unterlegene Partei zugestimmt. Dem entsprach es, wenn der Kläger der Sprungrevision der Beklagten mit Anwaltsschreiben vom 28. Mai 1985 noch einmal ausdrücklich seine Zustimmung erteilt hat.
II. Die Sprungrevision ist begründet.
1. Die von den Tarifvertragsparteien in § 42 MTB II verwendeten Begriffe "Krankengeldzuschuß" und "Barleistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung" richten sich nach dem Krankenversicherungsrecht.
Der Krankengeldzuschuß stellt eine tarifvertragliche Leistung des Arbeitgebers dar, die das Krankengeld als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 RVO) ergänzen soll. Die tarifvertraglichen Begriffe "Krankengeld" und "Barleistungen" sind dem Krankenversicherungsrecht entnommen. Sie müssen daher auch im sozialversicherungsrechtlichen Sinne verstanden werden (vgl. zur Auslegung insoweit BAGE 46, 61, 66 = AP Nr. 3 zu § 9 TVG 1969, mit weiteren Nachweisen). Daraus ergibt sich: Mit "Barleistung" ist nicht der Betrag gemeint, der dem Arbeitnehmer tatsächlich zufließt. Vielmehr soll damit unterschieden werden zwischen Geldleistungen einerseits sowie Sach- und Dienstleistungen andererseits als den Leistungsformen im Krankenversicherungsrecht.
2.a) Den Begriff "Barleistung" verwendet der Gesetzgeber in § 210 RVO. Nach dieser Vorschrift werden die Barleistungen (ausgenommen das Sterbegeld) mit Ablauf jeder Woche ausgezahlt. Barleistungen bedeutet das gleiche wie "bare Leistungen" im Sinne von § 180 Abs. 1 Satz 2 RVO, wonach die baren Leistungen der Kasse mit Ausnahme des Krankengeldes nach einem Grundlohn bemessen werden. Barleistung ist gleichbedeutend mit Geldleistung im Sinne von § 11 Satz 1 SGB I (vgl. Burdenski in GK-SGB I, 2. Aufl., § 11 Rz 17). Barleistung ist der ältere, Geldleistung der neuere Ausdruck für eine Sozialleistung, die nicht Dienst- oder Sachleistung ist. Gegenwärtig werden im Sozialrecht beide Begriffe noch nebeneinander gebraucht. Der Begriff Geldleistung umfaßt die heute üblich gewordene bargeldlose Überweisung von Sozialleistungen. § 42 Abs. 11 Unterabs. 1 MTB II ist durch den Ergänzungstarifvertrag Nr. 6 zum MTB II vom 20. Dezember 1965 (GMBl. 1966 S.61), mithin lange vor Inkrafttreten des SGB I vom 11. Dezember 1975 (BGBl. I S. 3015) in das Tarifwerk eingefügt worden. Die Tarifvertragsparteien konnten daher den späteren Sprachgebrauch des SGB I nicht berücksichtigen.
Zudem sah die RVO zur wirtschaftlichen Sicherung des arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers früher zwei Arten von Geldleistungen vor: Krankengeld und Hausgeld (§§ 182, 186 RVO in der Fassung des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle vom 12. Juli 1961, BGBl. I S. 913). Das Hausgeld bestand in einem Prozentsatz des Krankengeldes und wurde dem Arbeitnehmer bei Krankenhauspflege gewährt. Erst das Zweite Krankenversicherungsänderungsgesetz vom 21. Dezember 1970 (BGBl. I S. 1770) ließ das Hausgeld entfallen und änderte § 186 RVO dahin, daß vom Beginn der Krankenhauspflege an Krankengeld zu zahlen war. Auch der eben erwähnte Umstand (Aufgliederung der Geldleistung in Krankengeld und Hausgeld) erklärt, warum die Tarifvertragsparteien den Krankengeldzuschuß nicht lediglich als Unterschiedsbetrag zwischen Nettoarbeitsentgelt und Krankengeld, sondern zwischen Nettoarbeitsentgelt und "Barleistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung" definiert haben.
b) Seit dem 1. Januar 1984 unterliegt das Krankengeld der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Nach § 1385 b Abs. 1 Satz 2 RVO, § 112 b Abs. 1 Satz 2 AVG und § 186 Abs. 1 Satz 2 AFG tragen der Krankengeldbezieher und der Leistungsträger die Beiträge je zur Hälfte (Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Beitragsabzugs vgl. BSG Urteil vom 19. Juni 1986 - 12 RK 54/85 -, zur Veröffentlichung vorgesehen). Bei dieser Neuregelung hat der Gesetzgeber die Vorschriften über das Krankengeld selbst (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 RVO) unverändert gelassen. Hieraus folgt, daß der Begriff des Krankengeldes seit dem 1. Januar 1984 in einem zweifachen Sinn zu verstehen ist, als "Bruttokrankengeld" und als "Nettokrankengeld". Das Gesetz trifft diese Unterscheidung jedoch nicht ausdrücklich und regelt auch nicht die Folgerungen, die sich für die Verwendung des Begriffs des Krankengeldes aus der Neuregelung ergeben.
3. Es kann davon ausgegangen werden, daß die Tarifvertragsparteien bei der im Jahre 1965 getroffenen Vereinbarung des § 42 Abs. 11 Unterabs. 1 MTB II mit geringfügigen Veränderungen in der Höhe des Krankengeldes gerechnet haben. Derartige Veränderungen entsprechen der Erfahrung des Arbeitslebens. Die Belastung des Krankengeldes mit Arbeitnehmeranteilen für Renten- und Arbeitslosenversicherung bedeutet jedoch eine grundlegende Änderung des Krankenversicherungsrechts. Sie war für die Tarifvertragsparteien im Jahre 1965 nicht vorhersehbar, so daß für sie damals kein Anlaß bestand, die Frage zu regeln, ob bei der Berechnung des vom Arbeitgeber zu gewährenden Zuschusses von dem "Bruttokrankengeld" oder von dem "Nettokrankengeld" auszugehen sei. In § 42 Abs. 11 MTB II ist folglich seit dem 1. Januar 1984 insoweit eine nachträgliche Regelungslücke entstanden. Anders als bei bewußten Tariflücken kommt in derartigen Fällen eine Lückenausfüllung durch Urteil grundsätzlich in Betracht (vgl. statt vieler BAGE 47, 61, 67 = AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975). Vorliegend sind die Gerichte jedoch nicht befugt, die Regelungslücke im Wege einer ergänzenden Auslegung zu schließen, weil den Tarifvertragsparteien hierfür verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und sie sich aufgrund ihrer Tarifhoheit für eine hiervon selbst entscheiden müssen. Ein Tätigwerden der Gerichte bedeutete, daß sie verfassungswidrig in die Tarifautonomie eingriffen (vgl. BAGE 36, 218, 225, 226 = AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten).
III. Folgende Möglichkeiten einer Ergänzung des Manteltarifvertrages bestehen, denen die Gerichte nicht vorgreifen dürfen:
1. Sieht man als entscheidenden Gesichtspunkt an, daß der Arbeitnehmer nach Sinn und Zweck des § 42 Abs. 11 MTB II auch nach Wegfall der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle seinen Nettolohn durch Krankengeld und einen entsprechenden Zuschuß des Arbeitgebers behalten soll, dann müßte die Neuregelung vorsehen, daß der Zuschuß zum Nettokrankengeld zu zahlen ist. Auf der anderen Seite ließe sich an den Grundsatz anknüpfen, daß gesetzliche Lasten, die dem Arbeitnehmer auferlegt sind, auch von diesem getragen werden müssen. Ein Anhalt dafür findet sich schon in der bisherigen tariflichen Regelung insofern, als die auf den Zuschuß entfallende Lohnsteuer (§ 2 Abs. 3 Nr. 3 LStDVO) vom Arbeitnehmer allein zu tragen ist. Legte man dieses Prinzip zugrunde, wäre der Zuschuß nach dem Bruttokrankengeld zu bemessen. Schließlich wäre daran zu denken, die vom Gesetz neu geschaffene Belastung des Arbeitnehmers zwischen den Arbeitsvertragsparteien aufzuteilen, wobei sich wiederum verschiedene Möglichkeiten der Verteilung der Beitragslast ergeben, auch in der Weise, daß die Anspruchsdauer oder der anspruchsberechtigte Personenkreis verändert würden. Jede dieser Möglichkeiten erfordert eine ergänzende rechtspolitische Entscheidung, die von den Tarifvertragsparteien zu treffen ist (vgl. dazu auch BAGE 41, 161 = AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand).
2. Es muß daher den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben, durch entsprechende Vereinbarung diejenige Lösung auszuhandeln, die nach ihren Vorstellungen im Hinblick auf den Zweck der Regelung am besten geeignet ist, die entstandene Lücke zu schließen. Da die Tarifvertragsparteien in der Lage sind, den Tarifvertrag rückwirkend auf den Zeitpunkt zu ergänzen, zu dem die Neuregelung des Krankenversicherungsrechts in Kraft getreten ist, war die Klage noch nicht endgültig, sondern nur als zur Zeit unbegründet abzuweisen.
Dr. Gehring Dr. Olderog Ascheid
Liebsch Pallas
Fundstellen