Inflationsausgleichsprämie auch bei Elternzeit?
Arbeitnehmerin war seit Sommer 2022 in Elternzeit
Geklagt hatte eine Arbeitnehmerin, deren Arbeitsverhältnis sich nach dem TVöD VKA bestimmt und die sich seit Sommer 2022 durchgehend in Elternzeit befand. Seit Dezember 2023 übte die Arbeitnehmerin ihre Tätigkeit während der Elternzeit in Teilzeit im Umfang von 24 Wochenstunden aus. Eine Vollzeittätigkeit entspräche 39 Wochenstunden.
Die Arbeitgeberin lehnte sowohl die Einmalzahlung nach § 2 Abs. 1 TV Inflationsausgleich als auch die monatlichen Zahlungen nach § 3 Abs. 1 TV Inflationsausgleich ab, da die Arbeitnehmerin in den maßgeblichen Zeiträumen keinen Anspruch auf Entgelt hatte. Erst seit Aufnahme der Teilzeit-Tätigkeit gewährte die Arbeitgeberin für die verbleibenden Monate unter Berücksichtigung des § 3 Abs. 2 TV Inflationsausgleich eine anteilige Inflationsausgleichszahlung in Höhe von jeweils 135,38 Euro.
Die Zahlung der Inflationsausgleichsprämie bestimmt sich nach dem TV Inflationsausgleich im Bereich des TVöD VKA wie folgt:
§ 2 Inflationsausgleich 2023
(1) Personen, die unter den Geltungsbereich dieses Tarifvertrags fallen, erhalten eine einmalige Sonderzahlung mit dem Entgelt für den Monat Juni 2023 (Inflationsausgleich 2023), wenn ihr Arbeitsverhältnis am 1. Mai 2023 bestand und an mindestens einem Tag zwischen dem 1. Januar 2023 und dem 31. Mai 2023 Anspruch auf Entgelt bestanden hat.
[...]
§ 3 Monatliche Sonderzahlungen
(1) Personen, die unter den Geltungsbereich dieses Tarifvertrags fallen, erhalten in den Monaten Juli 2023 bis Februar 2024 (Bezugsmonate) monatliche Sonderzahlungen. Die Auszahlung erfolgt mit dem Entgelt des jeweiligen Bezugsmonats. Der Anspruch auf den monatlichen Inflationsausgleich besteht jeweils nur, wenn in dem Bezugsmonat ein Arbeitsverhältnis besteht und an mindestens einem Tag im Bezugsmonat Anspruch auf Entgelt bestanden hat.
(2) Die Höhe der monatlichen Sonderzahlungen beträgt für Personen, die unter den Geltungsbereich des TVöD, des TV-V oder des TV-Wald-Bund fallen, 220 Euro. [...] Maßgeblich sind die jeweiligen Verhältnisse am 1. Tag des jeweiligen Bezugsmonats. [...]
Arbeitsgericht Essen: Ausschluss von Arbeitnehmern in Elternzeit willkürlich
Nach der Entscheidung des Arbeitsgerichts (ArbG) Essen kann die Arbeitnehmerin verlangen, so gestellt zu werden, als zähle sie zum Kreis der Begünstigten. Damit stehen ihr aus Sicht des Gerichts sowohl die Einmalzahlung vom Juni 2023 in Höhe von 1.240,- Euro als auch die monatlichen Zahlungen von Juli 2023 bis Februar 2024 in Höhe von 220,- Euro zu.
Das ArbG Essen begründet dies mit einem Verstoß gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG: "Dieser bildet als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie. Die Gerichte sind darum aufgrund des Schutzauftrags der Verfassung auch verpflichtet, gleichheitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen zu unterbinden."
Zwar sei es zulässig, Arbeitnehmer in Elternzeit von bestimmten Leistungen auszunehmen. Jedoch bemängelt das Gericht, dass die von den Tarifvertragsparteien vorgenommene Differenzierung sachlich nicht nachvollziehbar ist, da manche Konstellationen mit dem Anspruch auf Entgelt gleichgestellt werden und andere, wie etwa die Inanspruchnahme von Elternzeit, nicht.
So zählt nach § 4 Abs. 2 TV Inflationsausgleich unter anderem der Krankengeldzuschuss nach § 22 Abs. 2 und 3 TVöD als Anspruch auf Entgelt, selbst wenn dieser wegen der Höhe der Barleistungen des Sozialversicherungsträgers nicht gezahlt wird. Ebenso besteht ein Anspruch, wenn ein Arbeitnehmer an mindestens einem Tag im Bezugszeitraum Krankengeld bei Erkrankung des Kindes bezieht. Diese beiden Konstellationen sind nach Auffassung des Gerichts mit der Konstellation der Elternzeit vergleichbar und insofern bei der Inflationsausgleichszahlung gleich zu behandeln: "In allen drei Konstellationen besteht das Arbeitsverhältnis fort, ohne dass ein Austausch wechselseitiger Leistungen stattfindet und ohne dass der Arbeitgeber finanzielle Leistungen erbringt. Während der längerfristig erkrankte Arbeitnehmer und derjenige, dessen Kind erkrankt ist, Krankengeld von seiner Krankenkasse bezieht, bezieht ein Arbeitnehmer in Elternzeit typischerweise Elterngeld von der öffentlichen Hand. Alle drei Gruppen sind in gleicher Weise von gestiegenen Lebenshaltungskosten betroffen. Sowohl Arbeitnehmer in Elternzeit als auch Arbeitnehmer im Krankengeldbezug sind betriebstreu. Sie nehmen ihre arbeitsvertragliche Tätigkeit typischerweise nach ihrer Genesung bzw. nach Ablauf der Elternzeit wieder auf. Entsprechendes gilt für den Fall des Kinderkrankengeldbezugs."
Keine anteilige Kürzung bei Teilzeitarbeit während Elternzeit
Aus derselben Erwägung heraus kann nach Auffassung des ArbG Essen die Arbeitnehmerin auch verlangen, so gestellt zu werden wie eine Vollzeitkraft: "Auch hier ist kein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst sachlich einleuchtender Grund dafür ersichtlich, warum Arbeitnehmer mit einem Vollzeit-Arbeitsvertrag, die im Rahmen ihrer Elternzeit in Teilzeit arbeiten, einen verminderten Inflationsausgleich erhalten, während Arbeitnehmer im Krankengeldbezug, die wegen der Höhe der Barleistungen des Sozialversicherungsträgers keinen Krankengeldzuschuss bekommen und die eine Vollzeitanstellung haben, aber keinerlei Arbeitsleistung im Bezugszeitraum verrichten, den vollen Inflationsausgleich beziehen. Entsprechendes gilt in Bezug auf die Arbeitnehmer, die Kinderkrankengeld erhalten."
Keine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG
Im Hinblick auf den ebenfalls geltend gemachten Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG konnte sich allerdings die Arbeitgeberin vor dem ArbG Essen durchsetzen, denn die Arbeitgeberin durfte auf die Richtigkeit der Tarifregelung vertrauen. Für die geforderte Entschädigung hätte es einer groben Fahrlässigkeit bedurft: "Grobe Fahrlässigkeit bei der Anwendung kollektivrechtlicher Vereinbarungen ist dann anzunehmen, wenn sich der diskriminierende Charakter der Regelung aufdrängt. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich um eine schwierige Rechtsfrage."
dbb frauen begrüßen die Entscheidung
„Das Urteil des Arbeitsgerichts Essen ist ein Meilenstein im Kampf gegen die Benachteiligung von jungen Eltern“, betonte Milanie Kreutz, Vorsitzende der dbb frauen, am 16. Mai 2024. Gleichbehandlung sei kein Privileg, sondern ein Grundrecht – das bestätige das Urteil klar und deutlich. Kreutz: „Ob Beschäftigte in Elternzeit oder im aktiven Dienst sind, darf keinen Unterschied machen – sie haben denselben Anspruch auf finanzielle Ausgleichszahlungen. Um die Rechte von Eltern zukünftig umfassend zu stärken, muss Fürsorgeverantwortung als Diskriminierungsmerkmal im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz aufgenommen werden.“
Ausschlussfristen beachten - weitere Entwicklung bleibt abzuwarten
Ob sich die Auffassung des ArbG Essen innerhalb der Rechtsprechung durchsetzt, bleibt abzuwarten. Das Gericht hat die Berufung zugelassen und die grundsätzliche Bedeutung betont: "Die Frage, ob die Tarifvertragsparteien beim Kreis der Anspruchsberechtigten einer Sozialleistung wie der Inflationsausgleichsprämie die streitgegenständliche Differenzierung vornehmen dürfen, ist nicht ausreichend höchstrichterlich geklärt und betrifft eine Vielzahl von Arbeitnehmern." Das Ergebnis könnte insbesondere auch auf andere tarifliche Regelungen Einfluss haben, da bspw. der TV Inflationsausgleich im Bereich des TV-L eine vergleichbare Regelung enthält. Ebenso bleibt abzuwarten, inwieweit sich die Entscheidung auf andere Konstellationen übertragen ließe, wie etwa den Fall des unbezahlten Sonderurlaubs oder der Teilzeitarbeit aus anderen Gründen.
Auf Grund der in § 37 TVöD / TV-L normierten sechsmonatigen Ausschlussfristen sollten sich sowohl betroffene Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber zeitnah mit der Problematik auseinandersetzen und rechtzeitig die sich im individuellen Einzelfall ergebenden Maßnahmen ergreifen.
(ArbG Essen, Urteil v. 16.4.2024, 3 Ca 2231/23)
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