Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifliche Jahresleistung. Gratifikation/Sondervergütung. Tarifauslegung. Ausschlussfristen. Fälligkeit einer anteiligen tariflichen Jahresleistung. Ausschlussfrist. Parallelsache 10 AZR 497/03 vom 23. Juni 2004
Orientierungssatz
- Die anteilige Jahresleistung gem. § 9 Ziff. 5 MTV für die Angestellten der Druckindustrie in Bayern idF vom 21. März 1997 wird mit dem Tag der Beendigung des Anstellungsverhältnisses auf Grund arbeitgeberseitiger Kündigung fällig, obgleich die Tarifvorschrift diesen Fälligkeitszeitpunkt – anders als § 9 Ziff. 4 MTV – nicht ausdrücklich regelt.
- Der Anspruch auf die anteilige Jahresleistung verfällt gem. § 19 Ziff. 2 MTV, wenn er nicht spätestens einen Monat nach Beendigung des Anstellungsverhältnisses schriftlich geltend gemacht wird.
Normenkette
BGB §§ 133, 242; MTV für die Angestellten der Druckindustrie in Bayern vom 21. April 1989 i.d.F. vom 21. März 1997 §§ 9, 19
Verfahrensgang
Tenor
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über den Verfall eines Anspruches auf Zahlung der tariflichen Jahresleistung im Bereich des Tarifvertrages für die Angestellten der Druckindustrie in Bayern.
Der Kläger war bei der Beklagten seit 7. Oktober 1991 als Mitarbeiter in der Arbeitsvorbereitung beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft arbeitsvertraglicher Vereinbarung die Tarifverträge für die Angestellten der Druckindustrie in Bayern Anwendung. Die Bestimmungen des Manteltarifvertrages (MTV) vom 21. April 1989 in der Fassung vom 21. März 1997, gültig ab 1. Januar 1997, lauten, soweit von Interesse, wie folgt:
Ҥ 9 Tarifliche Jahresleistung
…
1. Die Angestellten und Auszubildenden erhalten eine tarifliche Jahresleistung in Höhe von 95 % des jeweiligen zum Fälligkeitszeitpunkt gültigen tariflichen Monatsgehaltes bzw. der tariflichen monatlichen Ausbildungsvergütung.
2. Voraussetzung für den vollen Anspruch ist ein ungekündigtes Anstellungs- bzw. Ausbildungsverhältnis, das seit dem 4. Januar bis einschließlich 31. Dezember des laufenden Fälligkeitsjahres besteht.
Angestellte bzw. Auszubildende, deren Anstellungs- bzw. Ausbildungsverhältnis nach dem 4. Januar des laufenden Fälligkeitsjahres beginnt und die die Probezeit bestehen, erhalten für jeden vollen Kalendermonat des Bestehens ihres Anstellungs- bzw. Ausbildungsverhältnisses 1/12 der tariflichen Jahresleistung.
3. Angestellte bzw. Auszubildende, deren Anstellungs- bzw. Ausbildungsverhältnis kraft Gesetzes oder durch Vereinbarung während des ganzen Kalenderjahres ruht, erhalten keine Leistungen. Ruht das Anstellungs- bzw. Ausbildungsverhältnis im Kalenderjahr jedoch nur zeitweise, so erhalten sie eine anteilige Leistung.
4. Angestellte, die wegen Erwerbs- oder Berufungsunfähigkeit bzw. wegen Erreichens der Altersgrenze ausscheiden, erhalten eine anteilige Leistung, auch wenn das Anstellungsverhältnis am 31. Dezember nicht mehr besteht. In diesen Fällen wird die Auszahlung der Jahresleistung fällig mit dem Tage der Beendigung des Anstellungsverhältnisses.
5. Bei Beendigung des Anstellungsverhältnisses aufgrund arbeitgeberseitiger Kündigung haben die betreffenden Angestellten Anspruch auf eine anteilige Jahresleistung. Dies gilt nicht bei arbeitgeberseitiger Kündigung aus wichtigem Grund und bei verhaltensbedingter Kündigung.
Ebenfalls Anspruch auf eine anteilige Jahresleistung haben Angestellte nach 5jähriger Betriebszugehörigkeit, wenn das Anstellungsverhältnis aufgrund einer Kündigung endet.
…
7. Die Auszahlung der Jahresleistung ist spätestens am 31. Dezember eines jeden Jahres fällig. Der Auszahlungszeitpunkt wird im Einvernehmen mit dem Betriebsrat festgelegt. Frühere Auszahlungen gelten als Vorschuß.
…
9. Während des Fälligkeitsjahres auf Grund vom Arbeitgeber festgelegter oder vereinbarter Regelung bereits gezahlte oder noch zu zahlende Sondervergütungen, wie zum Beispiel Jahresabschlussvergütungen, Gratifikationen, Jahresprämien, Ergebnisbeteiligungen, Weihnachtsgeld und ähnliches können auf diese tarifliche Jahresleistung angerechnet werden. Das bedeutet, daß jedoch mindestens der aufgrund dieser tariflichen Vereinbarung für das jeweilige Jahr vorgesehene Betrag gezahlt werden muß. Durch diese tarifvertragliche Regelung über Jahresleistungen entstehen bis zu deren Höhe keine Doppelansprüche. Andererseits werden von dieser tariflichen Regelung Jahresleistungen auf Grund betrieblicher oder einzelvertraglicher Vereinbarungen nicht berührt, soweit sie in ihrer Höhe die tariflichen Jahresleistungen übersteigen.
…
11. Für die Auslegung des § 9 ist Anhang 2 verbindlich.”
“Anhang 2
Erläuterungen zu § 9 Tarifliche Jahresleistung
I.
1. Bei allen vom Arbeitgeber im Verlauf des Fälligkeitsjahres zu bezahlenden Freistellungen von der Arbeitsleistung auf Grund gesetzlicher oder tarifvertraglicher Vorschriften erfolgt keine Kürzung der tariflichen Jahresleistung.
Dasselbe gilt für Zeiten ohne Arbeitsleistung nach dem Mutterschutzgesetz.
2. Eine anteilige Kürzung der tariflichen Jahresleistung erfolgt je Tag der Abwesenheit bei
a) Unterbrechungen der Arbeitsleistung zu Bildungs- und Fortbildungszwecken, soweit sie die Dauer von drei Wochen im Kalenderjahr überschreiten;
b) sonstigen unbezahlten Freistellungen, soweit sie insgesamt die Dauer von fünf Arbeitstagen im Kalenderjahr überschreiten;
c) krankheitsbedingten Arbeitsunterbrechungen, soweit sie insgesamt die Dauer von vier Monaten im Kalenderjahr überschreiten;
d) unentschuldigtem Fernbleiben von der Arbeit.
3. Der Betrag pro Abzugstag errechnet sich einheitlich nach folgender Formel:
tarifliche Jahresleistung × 7
12 × 152
II.
Für die Errechnung der tariflichen Jahresleistung sind die am Fälligkeitstag (31. Dezember) gegebenen arbeitsvertraglichen Bedingungen zugrunde zu legen. Dies gilt insbesondere für Angestellte, die im Fälligkeitsjahr ihre Ausbildung beendet haben sowie beim Wechsel von Vollzeit- auf Teilzeitbeschäftigung und umgekehrt.
III.
Bei Beendigung des Anstellungsverhältnisses nach § 9 Ziffer 5 besteht für den Monat des Ausscheidens ein anteiliger Anspruch der tariflichen Jahresleistung, der sich nach der in Ziffer I 3. genannten Formel errechnet.
…”
“§ 19 Ausschlußfristen
1. Für die Geltendmachung von tariflichen Ansprüchen gelten folgende Fristen:
a) Ansprüche auf Zuschläge für Mehrarbeit …
b) Für die Geltendmachung sonstiger tariflicher Ansprüche beträgt diese Frist drei Monate nach ihrer Fälligkeit.
2. Im Falle des Ausscheidens eines Angestellten müssen alle gegenseitigen Ansprüche spätestens einen Monat nach Beendigung des Angestelltenverhältnisses schriftlich geltend gemacht werden. Eine eventuelle Ablehnung muß schriftlich erfolgen.
3. Wird die Erfüllung von Ansprüchen aus Ziffer 1 und 2 abgelehnt, müssen diese innerhalb einer weiteren Frist von drei Monaten gerichtlich geltend gemacht werden.
4. Eine Geltendmachung nach Ablauf der vorstehenden Fristen ist ausgeschlossen.”
Die Beklagte hat das Arbeitsverhältnis betriebsbedingt zum 30. September 2001 gekündigt. In dem vom Kläger angestrengten Kündigungsschutzprozess schlossen die Parteien am 15. August 2001 folgenden gerichtlichen Vergleich:
“1. Die Parteien sind sich darüber einig, dass das Arbeitsverhältnis aufgrund ordentlicher betriebsbedingter Arbeitgeberkündigung vom 29.06.2001 zum 30.09.2001 enden wird.
2. Die Beklagte verpflichtet sich, an den Kläger als soziale Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes gemäß §§ 9, 10 KSchG, § 3 Ziffer 9 EStG einen Betrag in Höhe von 14.400,00 DM brutto gleich netto zu zahlen, fällig zum 30.09.2001.
3. Der Kläger wird bis zum Beendigungszeitpunkt unter Fortzahlung der Bezüge und unter Anrechnung auf den Resturlaub und sonstiger Zeitguthaben von der Erbringung der Arbeitsleistung freigestellt.
4. Die Kosten des Verfahrens werden gegeneinander aufgehoben.”
Die Beklagte rechnete die tarifliche Jahresleistung, die 2.055,36 Euro betragen würde, zum 30. September 2001 nicht ab und zahlte sie sie auch nicht an den Kläger aus. Der Kläger ließ den Anspruch durch Schreiben seiner Anwälte vom 23. Januar 2002 geltend machen. Die Beklagte ließ den Anspruch durch ihre Anwälte mit Schreiben vom 4. Februar 2002 mit Hinweis auf die tariflichen Ausschlussfristen ablehnen.
Mit seiner am 28. März 2002 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat der Kläger die Beklagte auf Zahlung der anteiligen tariflichen Jahresleistung in Anspruch genommen. Er hat die Auffassung vertreten, der Anspruch sei nach den tariflichen Vorschriften erst zum 31. Dezember 2001 fällig geworden, so dass die Geltendmachung am 24. Januar 2002 rechtzeitig gewesen sei. Der Fälligkeitszeitpunkt ergebe sich aus § 9 Ziff. 7 des Manteltarifvertrags und der ausdrücklichen Festlegung in Ziff. II. des Anhangs hierzu. Diese Vorschriften legten die Fälligkeit auf den 31. Dezember des Kalenderjahres fest, und zwar unabhängig von einem früheren Ausscheiden des Arbeitnehmers. Dies zeige auch der Gegenschluss zu § 9 Ziff. 4, in dem für die dort geregelten Sonderfälle ausdrücklich ein früherer Fälligkeitszeitpunkt festgehalten sei. Unabhängig hiervon sehe der vor dem Arbeitsgericht geschlossene Vergleich vor, dass eine ordnungsgemäße Abrechnung erfolgen müsse. Die Beklagte sei sich zum Zeitpunkt des Vergleichsschlusses ihrer Verpflichtung zur Zahlung der anteiligen Jahresleistung bewusst gewesen. Es sei insoweit Rechtsklarheit geschaffen worden. Die erste Stufe der Ausschlussfrist sei daher schon mit dem Vergleich gewahrt. Es sei der Beklagten deshalb verwehrt, sich auf die tariflichen Ausschlussfristen zu berufen.
Der Kläger hat beantragt
nebst Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 2.055,36 Euro brutto Basiszinssatz seit 1. Januar 2002 zu zahlen.
Die Beklagte hat zu ihrem Klageabweisungsantrag die Auffassung vertreten, der Anspruch auf die anteilige Jahresleistung sei verfallen. Es greife die Ausschlussfrist von einem Monat nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses gemäß § 19 Ziff. 2 des MTV. Die Jahresleistung sei nach den tariflichen Vorschriften zum Ausscheiden fällig. § 9 Ziff. 5 des MTV lege dies mit der Formulierung “Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses” fest; diese Bestimmung gehe der allgemeinen Fälligkeitsregel des § 9 Ziff. 7 MTV vor. Die Auffassung des Klägers sei realitätsfremd, weil das Arbeitsverhältnis sonst am Jahresende nochmals extra abgerechnet werden müsse. Sie widerspreche auch der übereinstimmenden Auffassung der Tarifvertragsparteien, wie eine von ihr, der Beklagten, eingeholte Auskunft ergeben habe. Die daraus ersichtliche Tarifübung sei für die Auslegung maßgeblich. Der vor dem Arbeitsgericht geschlossene Vergleich sehe eine gesonderte Verpflichtung nicht vor.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers blieb erfolglos. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger seinen Klageantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Jahresleistung sei mit dem Ausscheiden des Klägers am 30. September 2001 fällig gewesen. Die Formulierung “Bei Beendigung …” in § 9 Ziff. 5 MTV habe keine konditionale, sondern nur eine zeitliche Bedeutung. Ziff. 7 der genannten Tarifbestimmung stehe nicht entgegen, denn sie betreffe nur den Fälligkeitszeitpunkt der ungekürzten Jahresleistung. Auf Grund der Fälligkeitsregelung in Ziff. 4 hätten es die Tarifvertragsparteien wohl nicht mehr für nötig erachtet, diese Regelung für den vergleichbaren und mit Ziff. 4 in einen Zusammenhang gestellten Fall der Ziff. 5 gleichlautend zu wiederholen. Etwaige Zweifel würden durch Ziff. III des Anhangs 2 beseitigt, wonach der anteilige Anspruch “für den Monat des Ausscheidens” bestehe. Zudem stellten vorprogrammierte spätere Abwicklungen von bereits verbindlich und unwiderruflich entstandenen, der Höhe nach feststehenden Ansprüche im Arbeitsleben eher Ausnahmefälle dar; im Vordergrund stehe eine zeitnahe Abwicklung. Dass die Tarifvertragsparteien nicht davon ausgegangen seien, dass bereits entstandene Ansprüche erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig würden, zeige auch § 19 Ziff. 2 MTV. Das Auslegungsergebnis werde ferner durch die praktische tarifliche Übung bestärkt. Das nicht bestrittene Vorbringen der Beklagten zu der von ihr eingeholten Auskunft der Tarifvertragsparteien lasse den Schluss auf eine entsprechende Übung zu. Schließlich werde die gefundene Auslegung auch durch Gründe einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Handhabung gerechtfertigt. Ausgehend von der Fälligkeit des Anspruchs am 30. September 2001 sei dieser gem. § 19 MTV verfallen.
Der zwischen den Parteien im Kündigungsschutzprozess abgeschlossene Vergleich führe zu keinem abweichenden Ergebnis. Dort sei lediglich deklaratorisch festgehalten, dass die Freistellung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist unter Fortzahlung der Bezüge erfolge. Die streitige Jahreszahlung falle nicht unter die “fortzuzahlenden Bezüge”, sondern sei eine grundsätzlich dem Stichtagsprinzip unterliegende Gratifikation und hätte daher bezüglich eines anteiligen Anspruchs bei vorzeitigem Ausscheiden einer besonderen Regelung bedurft. Die Bereitschaft der Beklagten, die anteilige Jahresleistung in jedem Fall zu zahlen, sei in dem Vergleich nicht zum Ausdruck gebracht worden.
Da die Beklagte den Kläger auch nicht davon abgehalten habe, seinen Anspruch geltend zu machen, sei sie nicht gehindert, sich auf die tarifliche Ausschlussfrist zu berufen.
Dem folgt der Senat im Ergebnis und überwiegend auch in der Begründung.
1. Das Landesarbeitsgericht hat mit Recht angenommen, dass der Anspruch des Klägers auf die anteilige Jahresleistung aus § 9 Ziff. 5 Abs. 1 MTV mit dem Ausscheiden des Klägers am 30. September 2001 fällig wurde. Dabei hat es entgegen der Ansicht des Klägers nicht etwa ohne Feststellung einer planwidrigen Regelungslücke den MTV ergänzt, sondern § 9 Ziff. 5 MTV gemäß den vom Bundesarbeitsgericht insoweit entwickelten Grundsätzen ausgelegt.
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften (§ 133 BGB). Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm sind mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (BAG 20. April 1994 – 10 AZR 276/93 – AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 11 mwN; zuletzt 4. Juni 2003 – 10 AZR 579/02 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Arbeiterwohlfahrt Nr. 7, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen).
b) Bereits der Wortlaut von § 9 Ziff. 5 Abs. 1 MTV spricht für das vom Landesarbeitsgericht gefundene Auslegungsergebnis. Wird die Präposition “bei” wie in der genannten Tarifnorm einem bestimmten Ereignis (hier: der Beendigung des Anstellungsverhältnisses) zugeordnet, dient sie typischerweise zur Angabe des Zeitpunkts (vgl. Duden Das große Wörterbuch der Deutschen Sprache 3. Aufl. Band 2 S. 501 unter II. 1.) . Für die entsprechende Verwendung im Tatbestand einer Norm bedeutet dies, dass die angeordnete Rechtsfolge zu dem genannten Zeitpunkt eintreten soll; bei einem Anspruch wird damit in der Regel zugleich der Zeitpunkt der Fälligkeit bestimmt (vgl. § 271 BGB).
Dem Kläger ist allerdings zuzugeben, dass die genannte Wortbedeutung nicht absolut zwingend ist. Zwar würde ein konditionaler Nebensinn (vgl. Duden aaO unter III. 4.) nichts daran ändern, dass zumindest auch der Fälligkeitszeitpunkt des Anspruchs gekennzeichnet wird. Allerdings könnte das im Tatbestand der Norm genannte Ereignis unter Umständen nur den Zeitpunkt kennzeichnen, zu dem der Anspruch entsteht bzw. seine Voraussetzungen festgestellt werden können, falls die Norm selbst oder auf sie bezogene andere Normen die Fälligkeit abweichend regeln.
c) § 9 Ziff. 5 MTV selbst enthält keine abweichende Regelung der Fälligkeit des Anspruchs. Eine solche Regelung könnte allerdings § 9 Ziff. 7 MTV darstellen. Dagegen spricht jedoch bereits das Wort “spätestens” in Satz 1, womit impliziert wird, dass es auch frühere Fälligkeitszeitpunkte geben kann. Gem. § 9 Ziff. 7 Satz 2 MTV kann im Einvernehmen mit dem Betriebsrat ein früherer Auszahlungszeitpunkt festgelegt werden. Ob damit auch ein früherer Fälligkeitszeitpunkt bestimmt würde, ist allerdings nicht völlig zweifelsfrei. Dies wäre dann anzunehmen, wenn Satz 3 in dem Sinne zu verstehen wäre, dass bei Auszahlungen vor dem im Einvernehmen mit dem Betriebsrat festgelegten Auszahlungszeitpunkt bzw. mangels einer solchen Festlegung vor dem ansonsten maßgeblichen Fälligkeitszeitpunkt die Zahlung als Vorschuss gelten soll. Satz 3 könnte allerdings unter Umständen auch so verstanden werden, dass damit die Rechtsfolge von Satz 2 geregelt werden, dh. eine mit dem Betriebsrat vereinbarte Auszahlung vor dem 31. Dezember als Vorschuss gelten soll. Gleichgültig zu welcher Auslegung man insoweit käme: In beiden Fällen bliebe es dabei, dass § 9 Ziff. 7 MTV für sich genommen eine Fälligkeit der anteiligen Jahresleistung gem. § 9 Ziff. 5 MTV vor dem 31. Dezember, nämlich “Bei Beendigung des Anstellungsverhältnisses”, nicht ausschließt.
d) Dem Kläger ist zuzugeben, dass in § 9 Ziff. 7 Satz 1 MTV der 31. Dezember immerhin als regelmäßiger Fälligkeitszeitpunkt angesehen wird. Wäre unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs des Tarifvertrages festzustellen, dass eine frühere Fälligkeit als Ausnahme von der Regel stets ausdrücklich als solche benannt wird, könnte für den anteiligen Anspruch des § 9 Ziff. 5 MTV in der Tat auf § 9 Ziff. 7 Satz 1 MTV zurückzugreifen sein. Entgegen der Ansicht des Klägers sind die übrigen Tarifbestimmungen insoweit jedoch keineswegs eindeutig. Zwar findet sich in § 9 Ziff. 4 Satz 2 MTV und nur dort eine ausdrückliche abweichende Fälligkeitsregelung. Diese endet jedoch mit den Worten “Beendigung des Anstellungsverhältnisses”. Wenn § 9 Ziff. 5 Abs. 1 Satz 1 MTV sodann mit den Worten “Bei Beendigung des Anstellungsverhältnisses” eingeleitet wird, kann dies auch als Anknüpfung an die unmittelbar vorausgehende Vorschrift in dem Sinne gewollt sein, dass die dortige Fälligkeitsregelung konkludent in Bezug genommen und ihre Wiederholung als überflüssig angesehen wird. Dafür könnten ferner die Worte “für den Monat des Ausscheidens” in III. des gem. § 9 Ziff. 11 MTV für die Auslegung verbindlichen Anhangs 2 sprechen, denn auch die Präposition “für” wird zur Angabe der maßgeblichen Zeit verwendet (vgl. Duden aaO Band 3 S. 1347 unter I. 8. b).
e) Bereits bei der gebotenen Gesamtbetrachtung von Wortlaut und tariflichem Gesamtzusammenhang spricht demnach mehr für als gegen das vom Landesarbeitsgericht gefundene Auslegungsergebnis. Dieses wird ferner von der Tarifgeschichte gestützt. Der Anspruch auf tarifliche Jahresleistung wurde – soweit ersichtlich – erstmals in § 4 Abs. 4 MTV vom 26. März 1974 für die gewerblichen Arbeitnehmer der Druckindustrie im Bundesgebiet normiert. Für Angestellte wurde in § 1 des Tarifvertrages vom 20. Juni 1974 zur Ergänzung des für sie geltenden MTV vom 20. Februar 1969 gleichlautende Vorschriften vereinbart. Soweit hier von Interesse enthielten diese Tarifvertragsbestimmungen bereits nahezu identische Formulierungen: § 1 Buchst. b des Tarifvertrages vom 20. Juni 1974 entspricht (allerdings unter der Voraussetzung des Beginns des Arbeitsverhältnisses vor dem 1. Oktober) § 9 Ziff. 2 MTV. Die Bestimmungen in § 1 Buchst. c und d jenes Tarifvertrages entsprechen § 9 Ziff. 3 und 4 MTV. § 1 Buchst. e des Tarifvertrages vom 20. Juni 1974 entspricht (allerdings beschränkt auf den Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach dem 30. September und noch ohne die Einschränkung bei verhaltensbedingter Kündigung) § 9 Ziff. 5 Abs. 1 MTV. § 1 Buchst. f bis i jenes Tarifvertrages finden ihre Entsprechung in § 9 Ziff. 6 Satz 1 und Ziff. 7 bis 9 MTV. Zur Auslegung und Ergänzung der Regelungen über die tarifliche Jahresleistung in § 4 Ziff. 4 des MTV vom 26. März 1974 vereinbarten die Tarifvertragsparteien eine Protokollnotiz vom 19. November 1974 mit einem dem hier maßgeblichen Anhang 2 zum MTV entsprechenden Wortlaut, der sich auch bereits im MTV vom 9. Juli 1979 für die Angestellten als Anhang 1 findet. Soweit III. dieser Protokollnotiz entsprechend der vom Kläger vertretenen Ansicht noch dahingehend hätte verstanden werden können, dass sich die angeordnete taggenaue Berechnung gem. I. Ziff. 3 der Protokollnotiz nur auf den Monat des Ausscheidens beziehen sollte, beseitigte solche Zweifel Ziff. 3 einer weiteren Protokollnotiz vom 19. Dezember 1974, wonach in allen Fällen, in denen von anteiliger Jahresleistung in § 4 Ziff. 4 des MTV vom 26. März 1974 gesprochen wird, die Berechnung nach der Formel I. Ziff. 3 der Vereinbarung vom 19. November 1974 erfolgt. Wenn gleichwohl beide Protokollnotizen für den nachfolgenden MTV vom 12. April 1979 und spätere Manteltarifverträge für die gewerblichen Arbeitnehmer unverändert beibehalten wurden, ist mit dem Landesarbeitsgericht davon auszugehen, dass die Worte “für den Monat des Ausscheidens” in III. die Fälligkeit kennzeichnen sollen. Die taggenaue Berechnung der anteiligen Jahresleistung im Fall eines Ausscheidens während des Monats wird nämlich bereits durch Ziff. 3 der Protokollnotiz vom 19. Dezember 1974 sichergestellt und wäre im speziellen Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf Grund arbeitgeberseitiger Kündigung gem. III. der Protokollnotiz vom 19. November 1974 auch dann vorzunehmen, wenn diese Bestimmung den Zusatz “für den Monat des Ausscheidens” nicht enthielte.
Auf Grund der Übereinstimmung im Wortlaut ist davon auszugehen, dass die Regelungen der tariflichen Jahresleistung für gewerbliche Arbeitnehmer und Angestellte nach dem Willen der Tarifvertragsparteien gleich ausgelegt werden sollen, obwohl Ziff. 3 der Protokollnotiz vom 19. Dezember 1974 nicht in den Anhang 1 (jetzt Anhang 2) zum MTV für Angestellte übernommen wurde.
f) Für die Auslegung, dass die anteilige Jahresleistung gem. § 9 Ziff. 5 MTV mit dem Gehalt für den Monat der Beendigung des Anstellungsverhältnisses fällig wird, spricht schließlich, dass sie zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt. Aus § 19 Ziff. 2 MTV lässt sich entnehmen, dass im Fall des Ausscheidens eines Angestellten eine möglichst schnelle Klärung und Erledigung aller gegenseitigen Ansprüche erfolgen soll, was bei der vom Kläger befürworteten Auslegung konterkariert würde. Entgegen seiner Ansicht steht die in § 9 Ziff. 9 MTV vorgesehene Anrechnung anderer Sondervergütungen (einschließlich Ergebnisbeteiligungen) nicht entgegen. Der Anspruch auf die anteilige Jahresleistung gem. § 9 Ziff. 5 MTV steht beim Ausscheiden der Höhe nach fest und kann abgerechnet und ausgezahlt werden. Allenfalls könnten sich bei Ergebnisbeteiligungen und ähnlichen Sondervergütungen höhere Ansprüche ergeben, auf die die bereits ausgezahlte anteilige Jahresleistung ihrerseits anzurechnen wäre (vgl. § 9 Ziff. 9 Satz 3 MTV). Der Kläger verkennt, dass die Anrechnungsmöglichkeit nicht nur bei Zahlung der Jahresleistung, sondern auch noch später eröffnet wird (vgl. auch die Alternative “oder noch zu zahlende Sondervergütungen” in § 9 Ziff. 9 Satz 1 MTV). Aus § 9 Ziff. 9 MTV lässt sich deshalb kein Grund herleiten, weshalb ein gem. § 9 Ziff. 5 MTV ausscheidender Angestellter auf die Zahlung der anteiligen Jahresleistung bis zum 31. Dezember warten sollte, obwohl er sie nicht selten zur Überbrückung einer Zeit der Arbeitslosigkeit sofort nötig hätte. Dazu kommt, dass eine Abrechnung von Ansprüchen längere Zeit nach dem Ausscheiden eines Arbeitnehmers eher die Ausnahme darstellt, in der Regel nur streitige Ansprüche betrifft und zusätzliche Probleme wie die Zurückforderung der Lohnsteuerkarte mit sich bringt.
g) Schließlich ist es auch nicht zu beanstanden, dass das Landesarbeitsgericht aus den von den Tarifvertragsparteien erteilten Auskünften darauf geschlossen hat, § 9 Ziff. 5 MTV sei von Seiten der Arbeitgeber unbeanstandet durch die Arbeitnehmer und die tarifschließenden Gewerkschaften stets im Sinne einer Fälligkeit des Anspruchs bei Beendigung des Anstellungsverhältnisses verstanden und gehandhabt worden. Auf eine entsprechende Tarifübung kommt es jedoch nicht mehr an. Der Kläger hat jedenfalls keine gegenteilige Tarifübung behauptet.
2. Auf Grund der Fälligkeit des Anspruchs des Klägers zum 30. September 2001 ist seine Geltendmachung mit Schreiben vom 23. Januar 2002 gem. § 19 Ziff. 2 MTV verspätet. Gem. § 19 Ziff. 4 MTV ist der Anspruch ausgeschlossen. Die Schwierigkeit der Auslegung von § 9 MTV nebst Anhang vermag daran ebenso wenig zu ändern wie der im Kündigungsschutzprozess geschlossene Vergleich. Die von der Beklagten in Ziff. 3 des Vergleichs vom 15. August 2001 übernommene Verpflichtung zur Fortzahlung der Bezüge bis zum Beendigungszeitpunkt umfasste entgegen der Ansicht des Klägers nicht eindeutig zugleich die Verpflichtung zur Zahlung der anteiligen tariflichen Jahresleistung; die Vereinbarung konnte vielmehr auch dahin verstanden werden, dass lediglich die Fortzahlung der laufenden monatlichen Bezüge zugesagt war. Blieb insoweit ein Interpretationsspielraum, war der Anspruch auf die anteilige tarifliche Jahresleistung nicht dergestalt außer Streit gestellt, dass die Ausschlussfrist des § 19 Ziff. 2 MTV nicht mehr eingreifen würde. Da die Beklagte den Kläger auch nicht außerhalb des Vergleichs von der rechtzeitigen Geltendmachung des Anspruchs abgehalten hat, verstößt ihre Berufung auf die Ausschlussfrist nicht gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB).
- Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Dr. Freitag, Fischermeier, Marquardt, Böhlo, Schlaefke
Fundstellen
NZA 2004, 1407 |
NJOZ 2004, 4535 |