Leitsatz (amtlich)
Der I. Senat des BFH hält die Vorschrift des Art. 1 Satz 1 des Zustimmungsgesetzes vom 5. März 1959 (BGBl II 1959, 182) zu dem Zusatzprotokoll vom 9. September 1957 zum Doppelbesteuerungsabkommen - Schweiz für nicht vereinbar mit Art. 20 GG, soweit darin dem Abschn. IV Abs. 3 Satz 1 des Zusatzprotokolls vom 9. September 1957 (BGBl II 1959, 183, BStBl I 1959, 151) zugestimmt wird und sich die hier getroffene Vereinbarung über die Anwendung des Abschn. II Nr. 14 des Zusatzprotokolls vom 9. September 1957 auf die Einkommensbesteuerung 1957 und 1958 der Bundesrepublik Deutschland bezieht.
Gemäß Art. 100 Abs. 1 GG wird das Verfahren ausgesetzt und die Entscheidung des BVerfG eingeholt.
Normenkette
GG Art. 20, 100 Abs. 1
Tatbestand
I.
Das Zusatzprotokoll vom 9. September 1957 zum Abkommen vom 15. Juli 1931 zwischen dem Deutschen Reiche und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der direkten Steuern und der Erbschaftsteuern (DBAS) -- BGBl II 1959, 183, BStBl I 1959, 151 -- enthält im Abschn. II unter Nr. 14 folgende Ergänzung des Schlußprotokolls zu den Art. 2 bis 12 DBAS:
"Dieses Abkommen beschränkt nicht das Recht jedes der beiden Staaten, die Steuern für die ihm zur Besteuerung überlassenen Vermögensteile, Einkünfte oder Teile des Nachlasses nach dem Satz zu erheben, der dem gesamten Vermögen, Einkommen, Nachlaß, Erbteil oder Erwerb von Todes wegen entspricht."
Nach Abschn. IV Abs. 2 ist das Zusatzprotokoll anzuwenden
a) auf die im Abzugsweg (an der Quelle) erhobenen Steuern von Dividenden und Zinsen, die nach dem 31. Dezember 1956 fällig werden,
b) auf die sonstigen Steuern vom Einkommen und Vermögen, die für die Zeit nach dem 31. Dezember 1958 erhoben werden.
Abweichend von dem unter b) genannten Zeitpunkt ist jedoch nach Abschn. IV Abs. 3 Satz 1 der Progressionsvorbehalt im Abschn. II unter Nr. 14 des Zusatzprotokolls auf die Steuern vom Einkommen und Vermögen anzuwenden, die für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 erhoben werden.
Der Bundestag hat dem Zusatzprotokoll im Art. 1 Satz 1 des Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll vom 9. September 1957 zum DBAS vom 5. März 1959 (BGBl II 1959, 182, BStBl I 1959, 150) zugestimmt. Das Zusatzprotokoll ist nach Austausch der Ratifikationsurkunden am 20. April 1959 in Kraft getreten (Bekanntmachung vom 3. April 1959, BGBl II 1959, 408).
Die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits, der die Einkommensteuerveranlagungen eines Schauspielers für die Veranlagungszeiträume 1957 bis 1959 betrifft, hängt davon ab, ob die Rückwirkung des Progressionsvorbehalts für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 rechtsgültig ist (vgl. VI.).
II.
Dem Rechtsstreit liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Revisionsbeklagte (Stpfl.) hatte in den Jahren 1957 bis 1959, für die seine Einkommensteuer streitig ist, einen Wohnsitz sowohl in der Bundesrepublik als auch in der Schweiz. Er erzielte während dieser Zeit Einkünfte in der Bundesrepublik, in der Schweiz und in Österreich. Der Revisionskläger (FA) ist der Meinung, daß der Stpfl. wegen seines Wohnsitzes in der Bundesrepublik nach § 1 Abs. 1 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gewesen sei. Bei der Veranlagung ließ das FA deshalb zwar die in der Schweiz und in Österreich angefallenen Einkünfte (aus nichtselbständiger Arbeit) gemäß § 3 Nr. 41 EStG, § 9 StAnpG in Verbindung mit dem erwähnten DBAS sowie dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern vom 4. Oktober 1954 -- DBA-Österreich -- (BGBl II 1955, 750, BStBl I 1955, 370) steuerfrei. Es berücksichtigte sie aber bei der Ermittlung des Steuersatzes für die Veranlagungen 1957 bis 1959 des unter Berücksichtigung des DBAS der Bundesrepublik zu stehenden Einkommens (Einkünfte aus unselbständiger und aus selbständiger Arbeit in der Bundesrepublik), indem es die Einkommensteuer nach dem Hundertsatz festsetzte, der sich aus der Einkommensteuertabelle (§ 32a EStG) ergab, wenn die steuerfreien Einkünfte zu dem zu versteuernden Einkommensbetrag hinzugerechnet wurden. Das FG, dessen Urteil in EFG 1963, 103 veröffentlicht ist, hat festgestellt, daß der Stpfl. in den Streitjahren den Mittelpunkt seiner persönlichen und geschäftlichen Interessen in der Schweiz hatte. Es hat daraus gefolgert, daß nach Art. 8 Abs. 2 DBAS nur die Schweiz als Wohnsitzstaat gelte. Es hat deshalb den Stpfl. in der Bundesrepublik für beschränkt einkommensteuerpflichtig gehalten (§ 1 Abs. 2 EStG) und die Besteuerung der inländischen Einkünfte als durch den Steuerabzug abgegolten angesehen. Dagegen wendet sich das FA mit der nach § 184 Abs. 2 Nr. 1 FGO als Revision zu behandelnden Rb. Es beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage (Berufung) gegen den Steuerbescheid als unbegründet abzuweisen. Der Stpfl. hält die Vorentscheidung für richtig und beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Er bestreitet im übrigen die Anwendbarkeit des im Zusatzprotokoll zum DBAS vereinbarten Progressionsvorbehalts, einmal weil seine Anwendung durch ein besonderes Gesetz in der Bundesrepublik hätte angeordnet werden müssen, ferner für die Streitjahre 1957 und 1958 wegen verfassungswidriger Rückwirkung. Schließlich rügt der Stpfl. die Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben durch das FA, das seine Rechtsauffassung rückwirkend geändert habe.
Der BdF ist dem Verfahren gemäß § 287 Nr. 2 AO a. F. (§ 122 Abs. 2 FGO) beigetreten. Er hat im wesentlichen geltend gemacht, die FÄ der Bundesrepublik seien auch schon vor Inkrafttreten des Zusatzprotokolls zur Anwendung des Progressionsvorbehalts berechtigt gewesen.
Entscheidungsgründe
III.
Der Senat ist zu folgender rechtlicher Beurteilung gelangt.
1. Der Stpfl. war im Gegensatz zu der Rechtsauffassung des FG in den Streitjahren in der Bundesrepublik unbeschränkt einkommensteuerpflichtig; denn er hatte hier einen Wohnsitz (§ 1 Abs. 1 Satz 1 EStG, § 13 StAnpG). Daß er auch in der Schweiz einen Wohnsitz hatte, der nach der Feststellung des FG sogar den Mittelpunkt seiner persönlichen und geschäftlichen Interessen bildete, stand der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht nicht entgegen. Zwar enthält Art. 8 Abs. 2 DBAS eine Regelung darüber, welcher der beiden Vertragsstaaten als Wohnsitzstaat gilt, wenn ein Steuerpflichtiger in beiden Staaten einen Wohnsitz unterhält. Wie jedoch der Senat im Urteil I 410/61 U vom 13. Oktober 1965 (BFH 83, 655, BStBl III 1965, 738) im einzelnen dargelegt hat, hat diese Wohnsitzregelung nach Wortlaut, Sinn und Zweck nur Bedeutung für die Zuteilung der Steuergüter an die Vertragsstaaten. Sie berührt nicht die Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, die bestimmen, in welcher Art und Höhe ein dem Vertragsstaat zugeteiltes Besteuerungsrecht auszuüben ist. Der Senat hält an dieser Auffassung fest. Der vom FG angewandte § 1 Abs. 2 EStG ist also für die Besteuerung des Stpfl. in der Bundesrepublik nicht maßgebend.
2. Die unbeschränkte Einkommensteuerpflicht erstreckte sich nach § 1 Abs. 1 Satz 2 EStG auf sämtliche Einkünfte. Nach § 3 Nr. 41 EStG (vgl. auch § 9 StAnpG) waren indessen die Einkünfte des Stpfl. insoweit steuerfrei, als ihm ein Anspruch auf Befreiung nach den Doppelbesteuerungsabkommen zustand. Unter diese Befreiung fielen -- was unter den Beteiligten unstreitig ist -- die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, die der Stpfl. in der Schweiz und in Österreich erzielte. Diese Befreiung beruhte bei den schweizerischen Einkünften auf Art. 4 DBAS. Auch die österreichischen Einkünfte waren nach Art. 7 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 DBAS der Schweiz zugeteilt. Nur wenn das nicht der Fall wäre, käme die Anwendung des Art. 9 DBA-Österreich in Betracht. Das FA hat dementsprechend zutreffend diese Einkünfte aus der deutschen Besteuerung ausgeschieden und lediglich die in der Bundesrepublik erzielten Einkünfte besteuert.
3. Das FA hat die befreiten Einkünfte aber bei der Ermittlung des Steuersatzes für das der unbeschränkten Steuerpflicht unterliegende Einkommen berücksichtigt. Es beruft sich auf Abschn. II Nr. 14 des Zusatzprotokolls vom 9. September 1957 zum DBAS und auf Art. 15 Abs. 3 DBA-Österreich. Nach dem oben Gesagten kommt hier nur die Anwendung des im DBAS enthaltenen Progressionsvorbehalts in Betracht.
Der Einwand des Stpfl., der in der genannten Vorschrift vereinbarte Progressionsvorbehalt sei nicht unmittelbar anwendbares Recht, ist unbegründet. Im Urteil I 29/65 vom 9. November 1966 (BFH 87, 273, BStBl III 1967, 88) hat der Senat zum Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Kanada zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung bei den Steuern vom Einkommen vom 4. Juni 1956 -- DBA-Kanada -- (BGBl II 1957, 188, BStBl I 1957, 254) ausgeführt: Die Tatsache, daß ein Steuerpflichtiger mit Wohnsitz in der Bundesrepublik oder in Kanada Einkünfte in dem anderen Vertragsstaat erzielt habe, löse nach deutschem Einkommensteuerrecht zwei steuerliche Rechtsfolgen aus. Einmal unterlägen die Einkünfte nach dem Grundsatz der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht der deutschen Einkommensteuer (§ 1 Abs. 1 Satz 2 EStG). Außerdem bewirkten sie zusammen mit den übrigen Einkünften, daß sich der Steuersatz für alle Einkünfte erhöhe, da der Einkommensteuertarif progressiv gestaltet sei (Anlage zu § 32a EStG). Das DBA-Kanada wolle nur die erste, nicht auch die zweite Rechtsfolge beseitigen. Der in Art. XVI Abs. 2 Satz 2 DBA-Kanada vereinbarte Progressionsvorbehalt bestimme also, daß die Erhöhung des Steuersatzes für alle Einkünfte bestehen bleiben solle, d. h. daß der Steuersatz für das zur Besteuerung verbleibende Einkommen so zu ermitteln sei, wie wenn die ausländischen Einkünfte nicht ausgeschieden wären. Er ermächtige jedoch nicht bloß zu einer derartigen Regelung durch innerdeutsches Gesetz, sondern stelle diese Regelung selbst dar. Durch Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG werde er innerstaatliches Recht. Es bedürfe daher keiner weiteren Vorschrift des deutschen EStG zur Anwendung der Vollprogression. Der Progressionsvorbehalt begründe damit also keine inländische Steuerpflicht über die deutschen Steuergesetze hinaus, sondern halte eine steuerliche Rechtsfolge aufrecht.
Diese rechtliche Betrachtung trifft auch für das DBAS zu. Die Progressionsvorbehalte weichen zwar im Wortlaut geringfügig voneinander ab, decken sich aber inhaltlich und verfolgen den gleichen Zweck. Für den Sinngehalt ist es ohne Bedeutung, ob es heißt: "Die Bundesrepublik behält aber das Recht, die ... von der Bemessungsgrundlage ausgenommenen Einkünfte bei der Festsetzung des anwendbaren Steuersatzes zu berücksichtigen" (DBA-Kanada) oder "dieses Abkommen beschränkt nicht das Recht jedes der beiden Staaten, die Steuern für die ihm überlassenen ... Einkünfte nach dem Satz zu erheben, der dem gesamten ... Einkommen ... entspricht" (DBAS). Danach stellt auch der Progressionsvorbehalt in dem DBAS in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz die unmittelbare Rechtsgrundlage für die Anwendung der Vollprogression dar.
4. Vor Behandlung der Frage, ob die Anwendung des Progressionsvorbehalts für die Jahre 1957 und 1958 dem GG widerspricht, ist noch auf die Behauptung des Stpfl. einzugehen, er habe bei der Begründung seines Wohnsitzes in der Bundesrepublik darauf vertraut, daß das FA ihn gemäß dem Urteil des RFH VI A 71/37 vom 10. März 1937 (RStBl 1937, 486) als beschränkt steuerpflichtig behandeln würde. Das FA sei aber von der Rechtsauffassung dieses Urteils abgewichen, und zwar für bereits zurückliegende Veranlagungszeiträume. Dadurch habe es dem Stpfl. die Möglichkeit genommen, sich rechtzeitig auf die geänderte Rechtsauffassung einzustellen, und habe deshalb gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen.
Wäre diese Ansicht zutreffend, so wäre allerdings die Revision des FA unbegründet, ohne daß es auf die aufgeworfene Verfassungsfrage ankäme. Das FA hat aber den Grundsatz von Treu und Glauben nicht verletzt. Es hat zwar anfangs nur beschränkte Einkommensteuerpflicht angenommen und deshalb davon abgesehen. den Stpfl. zu veranlagen. Es war dadurch aber nicht gehindert, nach Klärung des Sachverhalts durch eine Betriebsprüfung seine erste Beurteilung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu überprüfen. Dabei war es an die Gründe des RFH-Urteils VI A 71/37, a. a. O., nicht gebunden. Es durfte den Stpfl. nunmehr als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig betrachten und mußte dann die bisher unterlassenen Veranlagungen nachholen. Die Steueransprüche waren weder verjährt noch verwirkt, noch standen ihrer Geltendmachung verbindliche Zusagen des FA entgegen.
IV.
In das DBAS ist der Progressionsvorbehalt erstmals durch das Zusatzprotokoll vom 9. September 1957, das am 20. April 1959 in Kraft getreten ist, aufgenommen worden, und zwar mit Rückwirkung auf den 1. Januar 1957 (vgl. oben I). Es fragt sich, ob diese Rückwirkung verfassungsrechtlich zulässig ist. Von der Beantwortung dieser Frage hängt die Entscheidung des Rechtsstreits für die Veranlagungszeiträume 1957 und 1958 ab. Ist die Rückwirkung rechtsgültig, so ist die Revision des FA in vollem Umfang begründet und der Steuerbescheid wiederherzustellen. Denn der Progressionsvorbehalt war dann bereits am 1. Januar 1957 wirksam geworden, und zwar als unmittelbar anwendbares Recht (vgl. oben III, 3). Das FA hat dann zutreffend den Steuersatz für die inländischen Einkünfte nach den gesamten Einkünften bemessen. Ist die Rückwirkungsvorschrift nichtig, so kann die Revision des FA für die Veranlagungszeiträume 1957 und 1958 keinen Erfolg haben, soweit bei der Steuerfestsetzung die Anwendung des Progressionsvorbehalts zur Erhöhung des Steuersatzes geführt hat. Denn dann fehlte für diese Veranlagungszeiträume die Rechtsgrundlage für die Anwendung der Vollprogression.
Die Abhängigkeit der Entscheidung von der Rechtsgültigkeit der Rückwirkung betrifft die in der Schweiz erzielten Einkünfte nach Art. 4 DBAS. Sie betrifft aber, wie schon ausgeführt, auch die in Österreich angefallenen Einkünfte, die nach dem DBAS (Art. 7 und 8 Abs. 2) in der Bundesrepublik befreit sind. Denn bei einem Steuerpflichtigen mit Hauptwohnsitz in der Schweiz und zweitem Wohnsitz in der Bundesrepublik handelt es sich vorrangig um die Abgrenzung der Besteuerungsrechte zwischen der Schweiz und der Bundesrepublik. Daher gilt hinsichtlich des Inkrafttretens des Progressionsvorbehalts für die österreichischen Einkünfte nichts anderes als für die schweizerischen Einkünfte.
V.
Der BdF hält die im Zusatzprotokoll vorgesehene Rückwirkung des Progressionsvorbehalts für die Zeit ab 1. Januar 1957 nicht für verfassungswidrig, da dies Recht schon vorher bestanden habe, also eine Rückwirkung nicht vorliege, zudem aber der Stpfl. mit der Einführung diese Rechts hätte rechnen müssen.
Im Schriftsatz vom 19. Januar 1966 hat er im wesentlichen wie folgt Stellung genommen: Das deutsche Steuerrecht bemesse bei unbeschränkter Steuerpflicht die Steuerkraft des Steuerpflichtigen, namentlich also auch die Höhe der Progression, an dessen gesamtem Welteinkommen. Stelle ein Doppelbesteuerungsabkommen gewisse Einkünfte von der deutschen Steuer frei, so solle damit nur die Doppelbesteuerung dieser Einkünfte vermieden werden; es sollten aber nicht die übrigen Einkünfte des Steuerpflichtigen von der Steuerprogression entlastet werden, die seiner tatsächlichen Leistungskraft entspreche. Für diese Einkünfte bleibe die deutsche Besteuerung auch hinsichtlich der Progression bestehen. Der Progressionsvorbehalt sei deshalb stets anzuwenden, soweit nicht die Doppelbesteuerungsabkommen die Bundesrepublik zwängen, bei der Bemessung der Steuerprogression füur die ihr zur Besteuerung zugewiesenen Einkünfte die aus den anderen Staaten stammenden "steuerbefreiten" Einkünfte auszuscheiden. Ob die in einem Abkommen angeordnete Freistellung eine so weitgehende Wirkung habe, müsse aus der Vertragsregelung selbst begründet werden. Die Abkommen wiesen dem Quellenstaat nur gewisse, aus seinem Gebiet stammende Einkünfte zu, während dem Wohnsitzstaat die Besteuerung des gesamten übrigen Welteinkommens vorbehalten werde. Entsprechend der deutschen Steuersystematik solle nach dem Abkommen der Quellenstaat die Vollprogression nicht anwenden. Für die unbeschränkte Steuerpflicht habe die deutsche Vertragspraxis aber stets Wert darauf gelegt, den Progressionsvorbehalt im Abkommen zu erwähnen. Wenn die frühere deutsche Verwaltungspraxis anscheinend bei Abkommen, die den Progressionsvorbehalt nicht ausdrücklich enthielten, auch bei unbeschränkter Steuerpflicht von seiner Anwendung abgesehen hätten, so sei doch eine allgemeine Anweisung in dieser Richtung -- soweit bekannt -- nicht ergangen.
Die Vollprogression sei im DBAS vom 15. Juli 1931 mangels Einigung darüber, ob sie auch bei beschränkter oder nur bei unbeschränkter Steuerpflicht anzuwenden sei, offengeblieben. Die Schweiz habe auf Grund des Verzichts auf eine Regelung im Abkommen die Vollprogression stets bei beschränkter und unbeschränkter Steuerpflicht angewendet. Die deutsche Seite habe auch bei den weiteren Verhandlungen die endgültige Bestätigung der Vollprogression bei unbeschränkter Steuerpflicht wegen des weitergehenden schweizerischen Verlangens bis zur Klärung des Gesamtkomplexes offengehalten. Entsprechend sei auch für die deutsche Verwaltung keine besondere Verwaltungsanweisung ergangen, die Vollprogression bei unbeschränkter Steuerpflicht anzuwenden. Die Einfügung des Progressionsvorbehalts in das Zusatzprotokoll vom 9. September 1957 habe diese Streitfrage abschließend lösen sollen. Es habe aber Übereinstimmung darüber bestanden, daß bereits das DBAS vom 15. Juli 1931 nach dem Willen der Vertragsschließenden die Vollprogression bei unbeschränkter Steuerpflicht zugelassen habe. Insoweit habe die Vertragsänderung nur klarstellende Bedeutung gehabt. Die Begrenzung der Anwendung des Progressionsvorbehalts auf die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 habe deshalb keine Rückwirkung konstituieren, sondern die deutschen Steuerpflichtigen dagegen sichern sollen, daß die deutsche Steuerverwaltung den Progressionsvorbehalt auf unbegrenzt zurückliegende Veranlagungszeiträume anwende. Aber selbst bei Annahme einer Rückwirkung sei diese verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Anwendung der Vollprogression sei bis zum Abschluß des Zusatzprotokolls umstritten gewesen. Ihre Nichtanwendung durch die deutsche Steuerverwaltung bei unbeschränkter Steuerpflicht habe im wesentlichen daran gelegen, daß sich die Vertragsstaaten nicht über die Vollprogression bei beschränkter Steuerpflicht hätten einigen können. Die Steuerpflichtigen hätten deshalb mit einer Änderung der Verwaltungspraxis zu ihren Ungunsten im Rahmen der Auslegung des geltenden Abkommens für eine unbegrenzte Vergangenheit rechnen müssen. In dieser Lage sei die Untersagung der Vollprogression für Veranlagungszeiträume, die vor dem 31. Dezember 1956 geendet hätten, das verfassungskonforme Mittel gewesen, die bestehenden Unklarheiten zu beseitigen, ohne zu Lasten der Steuerpflichtigen unbillig weit zurückzugreifen.
VI.
Der Senat ist aus folgenden Überlegungen der Ansicht, daß die Einführung des Progressionsvorbehalts mit Rückwirkung für die Kalenderjahre 1957 und 1958 gegen den Verfassungsgrundsatz der Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 GG) verstößt
1. Der Senat teilt nicht die Auffassung des BdF, die Einführung des Progressionsvorbehalts in das Zusatzprotokoll habe die Rechtslage nicht geändert, sondern nur klargestellt. Die Anwendbarkeit der Vollprogression folgt nicht schon unmittelbar aus dem EStG, sondern erst aus dem Progressionsvorbehalt in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz.
Der Senat hat in dem Urteil I 29/65, a. a. O., eingehend begründet, daß sich die Anwendbarkeit des Steuersatzes, der sich bei Einbeziehung der durch ein Doppelbesteuerungsabkommen von der inländischen Steuer befreiten ausländischen Einkünfte ergibt, bei der Einkommensbesteuerung unbeschränkt Steuerpflichtiger aus dem deutschen EStG allein nicht ableiten läßt: "Der zu versteuernde Einkommensbetrag ist nach § 32 Abs. 1 EStG das um bestimmte Freibeträge und um die sonstigen vom Einkommen abzuziehenden Beträge verminderte Einkommen. Einkommen ist der Gesamtbetrag der Einkünfte aus den im Gesetz bestimmten Einkunftsarten nach Ausgleich mit Verlusten, die sich aus einzelnen Einkunftsarten ergeben, und nach Abzug der Sonderausgaben (§ 2 Abs. 2 Satz 1 EStG). Dabei erstreckt sich die unbeschränkte Einkommensteuerpflicht auf sämtliche Einkünfte, mögen sie im Inland oder im Ausland erzielt worden sein (§ 1 Abs. 1 Satz 2 EStG), es sei denn, daß durch ein Doppelbesteuerungsabkommen bestimmte Einkünfte von der Steuer befreit werden (§ 3 Nr. 41 EStG, § 9 StAnpG). Bleiben nach einem Doppelbesteuerungsabkommen Einkünfte steuerfrei, wie im Streitfall nach Art. XI Abs. 1, XVI Abs. 2 Satz 1 DBA-Kanada die Einkünfte aus der freiberuflichen Tätigkeit, die der Steuerpflichtige in Kanada ausgeübt hat, so fallen sie nach dem deutschen EStG auch nicht mehr unter den 'zu versteuernden Einkommensbetrag' im Sinne der Einkommensteuertabelle. Dieser setzt sich vielmehr nur aus den von der Steuerfreiheit nicht erfaßten Einkünften zusammen." Erst der im DBA-Kanada enthaltene Progressionsvorbehalt führte dazu, daß der auf das so ermittelte Einkommen anzuwendende Steuersatz sich nach dem Einkommen einschließlich der durch das DBA-Kanada freigelassenen Einkommensteile bemißt.
An die Stelle der Vorschrift des DBA-Kanada treten im Streitfall die Art 4 und 7 DBAS, durch die die Einkünfte des Stpfl. aus der in der Schweiz bzw. Österreich geleisteten Arbeit von der deutschen Einkommensteuer befreit sind. Bis zur Aufnahme des Progressionsvorbehalts in das Zusatzprotokoll vom 9. September 1957 ergab sich aus dem DBAS keine Rechtsgrundlage für die Vollprogression. Wie der BdF angibt, war es bis dahin der Wille der Vertragsstaaten, die Progressionsfrage nicht zu regeln. Es fehlte deshalb nach Auffassung des Senats an einer in der Bundesrepublik erforderlichen besonderen gesetzlichen Grundlage für die Anwendung des Progressionsvorbehalts. Hieraus ergibt sich, daß die Rechtslage für den Stpfl. nach dem ursprünglichen DBAS durchweg günstiger war als nach Einführung des Progressionsvorbehalts durch das Zusatzprotokoll vom 9. September 1957.
2. Die Rückwirkung des Progressionsvorbehalts ist jedenfalls für 1957 und 1958 zu bejahen. Bei der veranlagten Einkommensteuer, wie im Streitfall, entsteht die Steuerschuld nach § 3 Abs. 5 Nr. 1 Buchst. c StAnpG mit dem Ablauf des Veranlagungszeitraums, d. h. gemäß § 25 Abs. 1 EStG mit dem Ablauf des Kalenderjahres. Die Einkommensteuerschuld des Stpfl. ist danach für die Kalenderjahre 1957 und 1958 am 31. Dezember 1957 bzw. 31. Dezember 1958 entstanden. Das Zusatzprotokoll vom 9. September 1957 ist erst am 20. April 1959 in Kraft getreten. Es hat mit dem darin aufgenommenen Progressionsvorbehalt die Rechtslage zu Lasten des Stpfl. verändert. Durch die Vorschrift, den Progressionsvorbehalt bereits für die Veranlagungszeiträume 1957 und 1958 anzuwenden, erstreckte sich die Verschlechterung der Rechtslage auf bereits abgeschlossene Tatbestände. Die Anordnung der Rückwirkung beinhaltet also eine echte Rückwirkung im Sinne der Entscheidungen des BVerfG 2 BvL 4/59 vom 31. Mai 1960, BVerfGE 11, 139 [145 f.], 2 BvL 6/59 vom 19. Dezember 1961, BVerfGE 13, 261 [271], und 2 BvL 8/64 vom 16. November 1965, BVerfGE 19, 187 [195].
3. Gesetze, die dem Bürger rückwirkend eine öffentlich-rechtliche Leistungspflicht gegenüber dem Staat auferlegen oder sie erhöhen, sind grundsätzlich unzulässig. Sie zerstören das Vertrauen in die bestehende Rechtsordnung und verstoßen damit gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. Das gilt besonders für rückwirkende belastende Steuergesetze (vgl. die Entscheidungen des BVerfG 1 BvL 17/57 vom 4. Mai 1960, BVerfGE 11, 64 [72]; 2 BvL 4/59, a. a. O.; 2 BvL 15/59 vom 14. November 1961, BVerfGE 13, 206 [212 f.]; 2 BvR 345/60 vom 14. November 1961, BVerfGE 13, 215 [223 f.]; 2 BvL 6/59, a. a. O.; 2 BvL 8/64, a. a. O.).
4. Der Grundsatz der Unzulässigkeit rückwirkender belastender Normsetzung läßt allerdings Ausnahmen zu, die sich aus der Tragweite des Vertrauensschutzes für den Bürger ergeben. Nach Ansicht des Senats liegt aber ein solcher Ausnahmefall hier nicht vor.
a) Das Vertrauen ist nicht schutzwürdig, wenn der Bürger nach der rechtlichen Situation in dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz zurückbezogen wird, mit dieser Regelung rechnen mußte (Entscheidungen des BVerfG 1 BvR 14, 25, 167/52 vom 30. April 1952, BVerfGE 1, 264 [280]; 1 BvR 102/51 vom 24. April 1953, BVerfGE 2, 237 [264 f.]; 2 BvL 4, 26, 40/56, 1, 7/57 vom 12. November 1958, BVerfGE 8, 274 [304]). Dies war aber nicht der Fall. Das Zusatzprotokoll datiert allerdings vom 9. September 1957, ist aber erst durch das Zustimmungsgesetz vom 5. März 1959 Bestandteil des deutschen Steuerrechts und veröffentlicht worden. In den Jahren 1957 und 1958 brauchte der Stpfl. mit dem Progressionsvorbehalt nicht zu rechnen (vgl. Urteil des BVerfG 2 BvL 6/59, a. a. O.). Zwar zeigte die Entwicklung bei den nach dem Kriege abgeschlossenen Doppelbesteuerungsabkommen die Tendenz, den Progressionsvorbehalt einzuführen und damit die Steuerbefreiung darauf zu beschränken, die doppelte steuerliche Erfassung von Einkommensteilen zu vermeiden, ohne dadurch den Steuersatz zu berühren. Der Stpfl. durfte aber darauf vertrauen, daß die günstigere Rechtsposition, die nach dem DBAS bestand, gemäß rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht rückwirkend beseitigt würde.
b) Der Staatsbürger kann auf das geltende Recht bei seinen Plänen auch dann nicht vertrauen, wenn es unklar und verworren ist. Unter diesen Umständen ist es dem Gesetzgeber erlaubt, die Rechtslage rückwirkend zu klären (Beschluß des BVerfG 1 BvL 17/57 vom 4. Mai 1960, BVerfGE 11, 64 [72]). In dem vom BVerfG entschiedenen Fall wurde eine erlaubte rückwirkende Klarstellung als verfassungsgemäß anerkannt, weil die ursprüngliche gesetzliche Regelung eine Reihe von Fragen offengelassen hatte, so daß die Vorschriften kaum praktikabel waren und der Betroffene auf ihre Handhabung in einem bestimmten Sinn nicht rechnen konnte. Im Streitfall kann jedoch von einer in hohem Maße unklaren und verworrenen Lage nicht gesprochen werden. Aus den bereits dargelegten Gründen bedeutete die Einführung des Progressionsvorbehalts nicht eine Klarstellung, sondern eine Änderung der Rechtslage. Dem entsprach auch die deutsche Verwaltungspraxis, die durchweg, und zwar auch im Verhältnis zur Schweiz, von der Berücksichtigung der vollen Progression bei Anwendung des Steuersatzes gegenüber unbeschränkt Steuerpflichtigen absah, wenn und solange das Doppelbesteuerungsabkommen keinen Progressionsvorbehalt enthielt.
5. Anders als die Jahre 1957 und 1958 ist das Jahr 1959 zu beurteilen. Hier wurde der Steuertatbestand erst am 31. Dezember 1959, also erhebliche Zeit nach dem Inkrafttreten der Änderung abgeschlossen. Eine echte Rückwirkung liegt danach nicht vor. Allerdings hatte die Verwirklichung des Tatbestandes bereits vor Erlaß des Zustimmungsgesetzes begonnen. Nach den Entscheidungen des BVerfG 2 BvR 1/60 vom 19. Dezember 1961 (BVerfGE 13, 274 [278]) und 2 BvL 22, 23/63 vom 7. Juli 1964 (BVerfGE 18, 135 [143]) kann aber ein Steuerpflichtiger in der Regel nicht darauf vertrauen, daß der zu Beginn eines Veranlagungszeitraums geltende Steuertarif bis zu dessen Ende unverändert bleibt und Steuervergünstigungen auch für die Zukunft aufrechterhalten werden. Der Stpfl. durfte zu Beginn des Veranlagungszeitraums 1959 nicht damit rechnen, daß die Progressionsvergünstigung nach dem DBAS, die in erkennbarem Widerspruch zu der herrschenden allgemeinen Tendenz der Doppelbesteuerungsabkommen stand, nicht im Laufe des Veranlagungszeitraums beseitigt werde
6. Der erkennende Senat hält nach alledem Art. 1 Satz 1 des Zustimmungsgesetzes vom 5. März 1959 für verfassungswidrig, soweit diese Vorschrift der im Abschnitt IV Abs. 3 Satz 1 des Zusatzprotokolls vereinbarten, auf die Kalenderjahre 1957 und 1958 rückwirkenden Einführung des im Abschn. II unter Nr. 14 des Zusatzprotokolls enthaltenen Progressionsvorbehalts zustimmt und davon Einkünfte betroffen werden, die in der Bundesrepublik Deutschland zu versteuern sind.
Fundstellen
Haufe-Index 424528 |
BStBl II 1968, 101 |
BFHE 1968, 357 |