Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung von Prozesserklärungen; Wiedereinsetzung und Rechtsirrtum
Leitsatz (NV)
1. Bei Auslegung einer Prozesserklärung (hier: Antrag auf Ruhen des Verfahrens) ist in entsprechender Anwendung des § 133 BGB auch zu berücksichtigen, in welchem Umfang und mit welcher Intensität der verfassungsrechtlich garantierte Anspruch auf effektiven Rechtsschutz durch die in Frage stehende Prozesserklärung berührt wird. Ist die Prozesserklärung klar und eindeutig und entspricht sie offensichtlich dem Willen des Beteiligten, besteht jedoch kein Raum für eine gegenteilige Auslegung.
2. Ein Antrag auf Ruhen des Verfahrens hält die Revisionsbegründungsfrist nicht auf. Ein Irrtum darüber ist nicht entschuldbar.
Normenkette
FGO § 56 Abs. 2; GG Art. 19 Abs. 4; BGB § 133
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der erkennende Senat hat auf die Nichtzulassungsbeschwerden des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt --FA--) gegen die angefochtenen Urteile des Finanzgerichts (FG) mit Beschluss vom 9. Februar 2006 die Beschwerden verbunden und die Revision zugelassen. Der Beschluss wurde dem FA am 1. März 2006 zugestellt. Mit Schreiben vom 9. März 2006, eingegangen am 10. März 2006, beantragte das FA, das Revisionsverfahren gemäß § 155 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 251 der Zivilprozessordnung (ZPO) ruhen zu lassen. Es hat hierzu lediglich ausgeführt, in dem bereits beim Bundesfinanzhof (BFH) anhängigen Verfahren V R 55/04 sei wie im Streitfall zu entscheiden, ob es sich bei der Auslieferung portionierter Speisen um die ermäßigt zu besteuernde Lieferung von Lebensmitteln oder um eine sonstige Restaurationsleistung handele. Es erscheine zweckmäßig, das vorliegende Verfahren ruhen zu lassen, bis die vorstehend dargestellte Streitfrage endgültig höchstrichterlich geklärt sei.
Auf den Hinweis der Geschäftsstelle des erkennenden Senats vom 11. April 2006, eine Revisionsbegründung sei bisher nicht eingegangen, beantragte das FA im Schriftsatz vom 18. April 2006, den Antrag auf Ruhen des Verfahrens als Fristverlängerungsantrag zu behandeln. Außerdem sei das streitige Rechtsproblem durch Hinweis auf das mit Aktenzeichen benannte, anhängige Revisionsverfahren hinreichend bezeichnet. Hilfsweise sei Wiedereinsetzung zu gewähren, denn über den Antrag auf Ruhen des Verfahrens sei bisher nicht entschieden worden. Im Hinblick darauf sei von einer Revisionsbegründung abgesehen worden.
Das FA beantragt, die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klagen abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unzulässig. Sie war gemäß §§ 124 Abs. 1, 126 Abs. 1 FGO durch Beschluss zu verwerfen.
Nach § 120 Abs. 2 Satz 1 FGO ist die Revision innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des finanzgerichtlichen Urteils zu begründen. Die Frist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag vom Vorsitzenden des zuständigen Senats des BFH verlängert werden (§ 120 Abs. 2 Satz 3 FGO).
Die Revisionsbegründungsfrist lief am 3. April 2006 ab. Die erst am 18. April 2006 eingegangene Revisionsbegründung war verspätet.
1. Der Antrag auf Ruhen des Verfahrens kann nicht, wie das FA meint, in einen Antrag auf Fristverlängerung gedeutet werden.
a) Prozesserklärungen sind zwar in entsprechender Anwendung des § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) auszulegen. Eine unklare Prozesserklärung ist im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) im Zweifel so auszulegen, dass das Ergebnis dem Willen eines verständigen Beteiligten entspricht (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 8. Januar 1991 VII R 61/88, BFH/NV 1991, 795; vom 27. Mai 2004 IV R 48/02, BFHE 206, 211, BStBl II 2004, 964; vom 15. Dezember 1998 VIII R 74/97, BFHE 187, 404, BStBl II 1999, 300; vom 19. Juli 2005 XI B 206/04, BFH/NV 2006, 68). Ist die Prozesserklärung klar und eindeutig und entspricht offensichtlich dem bekundeten Willen des Beteiligten --wie hier der Antrag auf Ruhen des Verfahrens-- besteht grundsätzlich kein Raum für eine gegenteilige Auslegung.
b) Der Antrag des FA, das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, hat nicht die Wirkung, dass der Lauf der Begründungsfrist gehemmt war (BFH-Beschlüsse vom 9. Mai 1985 V R 192/84, BFHE 143, 411, BStBl II 1985, 552; vom 28. Dezember 1993 I R 106/93, juris; ebenso zum Antrag auf Aussetzung des Verfahrens BFH-Beschluss vom 17. März 1999 VII B 346/98, juris; Verfassungsbeschwerde wurde gemäß §§ 93a, 93b des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen, BVerfG-Beschluss vom 8. Juni 1999 1 BvR 810/99).
2. Der Inhalt des Schriftsatzes entspricht auch nicht den Mindestanforderungen an eine Revisionsbegründung.
Die Revisionsbegründung muss u.a. die bestimmte Bezeichnung der Umstände enthalten, aus denen sich die Rechtsverletzung ergibt (§ 120 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. a FGO). Hierzu wird von der Rechtsprechung des BFH gefordert, dass die erhobene Rüge eindeutig erkennen lässt, welche Norm der Revisionskläger für verletzt hält, und dass der Revisionskläger ferner die Gründe tatsächlicher und rechtlicher Art angibt, die seiner Auffassung nach das angefochtene Urteil als unrichtig erscheinen lassen. Das folgt aus dem Sinn und Zweck der Norm, nämlich das Revisionsgericht zu entlasten und den Revisionskläger zu zwingen, Inhalt, Umfang und Zweck des Revisionsbegehrens von vornherein klarzustellen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 11. März 2004 VII R 15/03, BFHE 205, 22, BStBl II 2004, 566). Demgemäß muss sich der Revisionskläger mit den tragenden Gründen des finanzgerichtlichen Urteils auseinander setzen und darlegen, weshalb er dieses für unrichtig hält (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 16. Oktober 1998 III R 7/98, BFH/NV 1999, 501; BFH-Urteile in BFHE 205, 22, BStBl II 2004, 566; vom 16. März 2000 III R 21/99, BFHE 192, 169, BStBl II 2000, 700).
Im Streitfall kann offen bleiben, ob und unter welchen Umständen die Bezugnahme auf andere Schriftsätze wie z.B. auf die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde als Revisionsbegründung ausreicht. Denn das FA hat nicht auf seine früheren Schriftsätze Bezug genommen. Der Hinweis auf ein anderes Verfahren und darauf, dass dort über dieselbe (konkrete) Rechtsfrage zu entscheiden sei, reicht nicht aus (BFH in BFHE 143, 411, BStBl II 1985, 552).
3. Die innerhalb der Antragsfrist (§ 56 Abs. 2 FGO) beantragte Wiedereinsetzung in die Revisionsbegründungsfrist kann nicht gewährt werden. Nach § 56 Abs. 1 FGO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn der Kläger ohne Verschulden gehindert war, die Frist einzuhalten. Die Nichteinreichung der Revisionsbegründung beruht ersichtlich auf einem Rechtsirrtum über die Möglichkeit der Anordnung des Ruhens des Verfahrens bei Fehlen der Sachurteilsvoraussetzungen; ein solcher Rechtsirrtum ist insbesondere bei einer der in § 62a Abs. 1 Satz 3 FGO bezeichneten --ebenso wie bei den in § 62a Abs. 1 Satz 1 FGO bezeichneten-- Personen nicht entschuldbar (vgl. BFH-Beschluss vom 21. Februar 2001 X R 5/01, BFH/NV 2001, 936, m.w.N.). Der Vertreter i.S. des § 62a Abs. 1 Satz 3 FGO hätte wissen müssen, dass der Antrag auf Ruhen des Verfahrens den Lauf der Revisionsbegründungsfrist nicht aufhält (z.B. BFH in BFHE 143, 411, BStBl II 1985, 552). Aus demselben Grund verhilft auch der Hinweis des FA, die Revisionsbegründung sei unterblieben, weil der BFH noch nicht über den Antrag auf Ruhen des Verfahrens entschieden habe, dem Wiedereinsetzungsantrag nicht zum Erfolg.
Fundstellen
BFH/NV 2006, 1852 |
HFR 2006, 1121 |