Steuersatz bei Umsätzen einer Bäckerei in "Vorkassenzonen"
Hintergrund: Verkauf von Backwaren zum Vor-Ort-Verzehr
Die A stellt Backwaren her. In ihren Filialen stellt sie Geschirr, Tische und Bestuhlung zum Verzehr vor Ort bereit. Die meisten Filialen befanden sich in sog. Vorkassenzonen (nicht durch geschlossene Wände abgetrennte Eingangsbereiche) von Lebensmittelmärkten. Einige Filialen waren separat betriebene Ladengeschäfte.
In allen Filialen wurden die zum Verzehr vor Ort bestimmten Waren und Speisen direkt am Verkaufstresen an die Kunden abgegeben, die das Geschirr in der Regel in bereitstehende Regale zurückgaben. Wenn die Kunden dies unterließen, räumte das Personal der A die Tische ab. Anschließend wurde das Geschirr von Arbeitnehmern der A gereinigt, die ausschließlich als Verkaufspersonal, d.h. nicht als qualifiziertes gastronomisches Fachpersonal (Kellner, Koch) angestellt waren.
A meinte, die in der Gesamtleistung enthaltenen Dienstleistungen gäben dem jeweiligen Umsatz nicht das Gepräge. Der Umsatz sei in der Gesamtschau als (ermäßigt zu besteuernde) Lieferung von Nahrungsmitteln zu qualifizieren.
Das FA und ihm folgend das FG vertraten dagegen die Auffassung, die Dienstleistungselemente ständen gegenüber den Lieferungselementen im Vordergrund.
Der BFH ordnete das Ruhen des Revisionsverfahrens bis zur Entscheidung des EuGH im Verfahren C-703/19 an. Nach Ergehen des EuGH-Urteils Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Katowicach v. 22.4.2021, C-703/19, EU:C:2021:314 (MwStR 2021, 567) konnte der BFH nun über die Revision entscheiden.
Entscheidung: Der Dienstleistungscharakter überwiegt
Der BFH wies die Revision als unbegründet zurück. Die tatsächliche Würdigung des FG, dass die Umsätze der A Dienstleistungen seien, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Abgrenzung von Lieferungen und sonstigen Leistungen in der Gastronomie
Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MwSt-DVO gilt die Abgabe von zubereiteten oder nicht zubereiteten Speisen und/oder Getränken "zusammen mit ausreichenden unterstützenden Dienstleistungen", die deren sofortigen Verzehr ermöglichen, als (Restaurant- und Verpflegungs-)Dienstleistung. Die Art der Zubereitung ist nicht entscheidend. Vielmehr müssen die unterstützenden Dienstleistungen zum einen ausreichend sein, um den sofortigen Verzehr dieser Speisen zu gewährleisten, und zum anderen im Verhältnis zu deren Abgabe überwiegen (EuGH-Urteil Dyrektor Izby ... v. 22.4.2021, C-703/19, Rz. 58). Dabei sind Aspekte wie Service, Garderoben, Toiletten und die Bereitstellung von Geschirr, Mobiliar oder Gedeck zu berücksichtigen (EuGH-Urteile Bog, EU:C:2011:135, BStBl II 2013, 256, Rz. 69; Dyrektor Izby ... v. 22.4.2021, C-703/19, Rz 60). Nicht zu berücksichtigen sind Dienstleistungen und Verzehrvorrichtungen (ohne Mitbenutzungsrecht) eines Dritten (BFH v. 3.8.2017, V R 15/17, BFH/NV 2017, 1572, Rz 21).
Rechtsprechung des BFH
Nach diesen Grundsätzen liegt bei der Abgabe von Speisen zum Mitnehmen eine ermäßigt zu besteuernde Lieferung vor (BFH v. 26.10.2006, V R 58/04, BStBl II 2007, 487). Die Schwelle zum Restaurantumsatz ist jedoch überschritten, wenn standardisiert zubereitete Speisen durch einen Imbissstand zum Verzehr an einem Tisch mit Sitzgelegenheiten abgegeben werden. Denn die Bereitstellung von Mobiliar mit Geschirr und Besteck erfordert einen gewissen Personaleinsatz (BFH v. 30.6.2011, V R 18/10, BStBl II 2013, 246).
Im Streitfall stehen die Dienstleistungselemente im Vordergrund
A hat den Kunden nicht nur Backwaren und Fast-Food verkauft, sondern diesen gegenüber auch zusätzliche Dienstleistungen erbracht, indem sie neben der Zubereitung der standardisierten Produkte zum Verzehr Tische und Sitzmöglichkeiten sowie Tassen, Geschirr und Besteck zur Verfügung gestellt hat. Das FG ging davon aus, das Mobiliar sei sowohl aus objektiver Empfängersicht als auch nach den objektiven Gegebenheiten ausschließlich zur Nutzung durch die Kunden der A bestimmt. Aufgrund dieser Dienstleistungen (Verzehrvorrichtungen, Serviceleistungen, Geschirrstellung) sei nach der Sicht des Durchschnittsverbrauchers der Dienstleistungscharakter in den Vordergrund getreten, so dass die Gesamtleistung als Restaurationsleistung und damit Dienstleistung zu qualifizieren sei. Der personelle Einsatz könne (insbesondere im Vergleich mit einem Außer-Haus-Verkauf) nicht mehr als nur geringfügig angesehen werden. Diese Würdigung des FG ist möglich und verstößt weder gegen Denkgesetze noch gegen Erfahrungssätze. Sie bindet daher den BFH (§ 118 Abs. 2 FGO).
Hinweis: Bindende Tatsachenwürdigung des FG
Der BFH verdeutlicht, dass in diesen Fällen die Entscheidung von der Tatsachenwürdigung des FG aufgrund der Gesamtbetrachtung der Umstände aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers abhängt. Ist die Würdigung des FG nachvollziehbar und folgerichtig, ist der BFH an diese Tatsachenfeststellung gebunden (§ 118 Abs. 2 FGO). Dass eine andere Würdigung ebenso möglich gewesen wäre, ist in der Revision unbeachtlich. Der Schwerpunkt des Verfahrens liegt in derartigen Fällen daher in der Tatsacheninstanz, d.h. im Verfahren vor dem FG. Dort sind die für die Qualifizierung entscheidenden Momente darzulegen.
Rückwirkende Begriffsklärung durch die MwSt-DVO
Im Streit war der USt-Bescheid 2006. Obwohl die MwSt-DVO erst ab dem 1.7.2011 galt (Art. 65 MwSt-DVO), konnte Art. 6 Abs. 1 Sätze 1 und 3 MwSt-DVO gleichwohl rückwirkend zur Auslegung für das Streitjahr herangehzogen werden, da die Regelung lediglich rückwirkend Begriffe klären, die sich bereits zuvor in der Richtlinie 77/388/EWG bzw. der Richtlinie 2006/112/EG befunden haben.
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