Leitsatz (amtlich)
Es ist eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, ob eine Untätigkeitsklage zulässig ist, wenn das FA auf Antrag des Steuerpflichtigen über dessen Einspruch nicht entschieden hat, ohne dies dem Steuerpflichtigen mitzuteilen.
Normenkette
FGO § 46 Abs. 1-2, § 115 Abs. 2-3
Tatbestand
Der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt – FA –) veranlagte die Steuerpflichtige mit Bescheid vom 31. Januar 1963 zur Einkommensteuer 1960 und setzte dabei deren vorläufig festgestellten Anteil am Gewinn einer OHG bei den Einkünften an. In den Erläuterungen zum Einkommensteuerbescheid führte das FA aus, die sich aufgrund des Rechtsmittelverfahrens gegen den Feststellungsbescheid möglicherweise ergebenden Änderungen würden ggf. nach § 218 Abs. 4 AO berücksichtigt werden. Mit dem fristgerecht eingelegten Einspruch beantragte die Steuerpflichtige zugleich, das Einspruchsverfahren bis zur Entscheidung über das Gewinnfeststellungsverfahren ruhen zu lassen bzw. auszusetzen. Daraufhin ist im Einspruchsverfahren von seiten der Beteiligten nichts mehr geschehen.
Am 25. November 1966 legte die Steuerpflichtige in der Einkommensteuersache Untätigkeitsklage ein mit dem Antrag, das Klageverfahren bis zur Entscheidung über die einheitliche Gewinnfeststellung der OHG nach § 74 FGO auszusetzen, hilfsweise, den Einkommensteuerbescheid 1960 hinsichtlich der Tarifanwendung nach § 34 EStG und der Vermögensabgabe – als Sonderausgabe – für vorläufig zu erklären. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mangels Rechtsschutzinteresses als unzulässig ab. Es fehle außerdem an den Klagevoraussetzungen nach § 49 Abs. 1 Satz 1 FGO. Auch der Hilfsantrag der Steuerpflichtigen könne keinen Erfolg haben. Das FG hat die Revision nicht zugelassen.
Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Steuerpflichtigen, mit der grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und Verfahrensmängel geltend gemacht werden.
Das FA beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde hat Erfolg.
Nach § 115 Abs. 3 FGO ist die Revision zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder das Urteil von einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder bei einem geltend gemachten Verfahrensmangel die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen kann. Die vorliegende Rechtssache ist von grundsätzlicher Bedeutung. Grundsätzliche Bedeutung setzt voraus, daß die für die Entscheidung des Streitfalls maßgebende Rechtsfrage das Interesse der Gesamtheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Dies ist insbesondere anzunehmen, wenn die Rechtsfrage auch für eine Reihe anderer gleichgelagerter Fälle bedeutungsvoll und bisher in der Rechtsprechung des BFH nicht abschließend geklärt ist (vgl. die Entscheidung VI B 2/66 vom 15. Juli 1966, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 86 S. 708 – BFH 86, 708 –, BStBl III 1966, 628).
Der BFH vertritt in ständiger Rechtsprechung (Entscheidungen III B 9/66 vom 10. Februar 1967, BFH 87, 447, BStBl III 1967, 182; VI B 19/67 vom 22. September 1967, BFH 90, 274, BStBl II 1968, 61; I B 48/67 vom 9. April 1968, BFH 92, 170, BStBl II 1968, 471) die Auffassung, daß die Klagefrist nach § 46 Abs. 2 FGO wegen des Vorliegens „besonderer Verhältnisse des Einzelfalls” verlängert wird, wenn ein „zureichender Grund” nach § 46 Abs. 1 FGO vorliegt. Hieraus wird gefolgert, daß die Untätigkeitsklage unzulässig ist, wenn ein zureichender Grund gegeben ist und solange dieser anhält (BFH-Beschluß VI B 19/67). Hiergegen wenden sich Tipke-Kruse (Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 46 FGO Anm. 8) und v. Wallis-List (Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 46 FGO Anm. 7 bis 8) unter Hinweis auf Modest (Der Betrieb 1969 S. 98 ff.). Mit dieser Kritik hat sich der BFH noch nicht auseinandergesetzt. Hält man diese Frage aufgrund der Rechtsprechung des BFH jedoch für bereits hinreichend geklärt, so fehlt es jedenfalls an einer BFH-Entscheidung zur Frage, ob eine Untätigkeitsklage zulässig ist, wenn das FA auf Antrag des Steuerpflichtigen den Einspruch nicht beschieden, dies dem Steuerpflichtigen aber – wie hier – nicht mitgeteilt hat. Diese Fälle sind häufig; vgl. Neumann, Der Betriebs-Berater 1966 S. 895 (BB 1966, 895). In der Literatur ist die Erhebung der Untätigkeitsklage ausdrücklich empfohlen worden, so von Meilicke, BB 1968, 988 f., einschränkend Wendt, BB 1968, 1231 f. – unter Hinweis auf Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bd. 28 S. 305, wonach das Klagerecht verliert, wer die Jahresfrist nicht einhält. Daß es nach einer Entscheidung des FG Berlin, Entscheidungen der Finanzgerichte 1967 S. 462 (nicht der vorliegende Fall), der Mitteilung des Grundes nicht bedarf, wenn die Beteiligten das Ruhen des Einspruchsverfahrens vereinbart haben – hier hatte das FA dem Steuerpflichtigen geantwortet –, wird von Becker-Riewald-Koch (Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 46 FGO Anm. 2 Abs. 3) und Tipke-Kruse (a. a. O., § 46 FGO Anm. 5) zustimmend zitiert.
Die BFH-Entscheidung VII B 5-8, 73-76/68 vom 17. Februar 1970, nicht veröffentlicht, sowie VII R 36/70 vom 31. August 1971 (BStBl II 1972, 20) stellen entscheidend auf die Mitteilung des zureichenden Grundes ab. Die BFH-Entscheidungen IV R 253/66 vom 27. Juni 1968 und VII B 129/67 vom 27. September 1968, beide nicht veröffentlicht, haben die Untätigkeitsklage für unzulässig erachtet, wenn eine ausdrückliche Einigung der Beteiligten über die Aussetzung des Einspruchsverfahrens vorlag.
Der Frage kommt über den Einzelfall hinaus praktische Bedeutung zu. Ihre Klärung im künftigen Revisionsverfahren dient sowohl der Einheitlichkeit der Rechtsprechung als auch einer Weiterentwicklung des Steuerrechts. Bei dieser Rechtslage bedarf es keiner Erörterung, ob die weiteren geltend gemachten Zulassungsgründe vorliegen.
Fundstellen
Haufe-Index 514589 |
BFHE 1972, 191 |