Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussetzung des Verfahrens bei vorläufig festgesetzten Vorsorgeaufwendungen - Ermessensausübung durch BFH als Beschwerdegericht
Leitsatz (amtlich)
Eine Aussetzung des finanzgerichtlichen Verfahrens (§ 74 FGO) wegen der beim BVerfG anhängigen Verfassungsbeschwerden zur Verfassungsmäßigkeit des Sonderausgabenhöchstbetrags (§ 10 Abs.3 EStG) kommt nicht in Betracht, wenn das FA die angefochtene Einkommensteuerfestsetzung hinsichtlich der Vorsorgeaufwendungen für vorläufig erklärt hat (Fortführung des BFH-Beschlusses vom 10. November 1993 X B 83/93, BFHE 172, 197, BStBl II 1994, 119).
Orientierungssatz
Im Beschwerdeverfahren wegen Aussetzung des Klageverfahrens hat der BFH als Beschwerdegericht eigenes Ermessen auszuüben.
Normenkette
EStG § 10 Abs. 3; FGO §§ 74, 102
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) machte in der Einkommensteuererklärung 1991 Vorsorgeaufwendungen in Höhe von 11 263 DM geltend, die der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt --FA--) mit dem nach § 10 Abs.3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) abziehbaren Höchstbetrag von 3 510 DM als Sonderausgaben berücksichtigte. Das FA setzte die Einkommensteuer unter anderem hinsichtlich der beschränkt abziehbaren Vorsorgeaufwendungen vorläufig fest.
Der Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 1991, mit dem der Kläger das Ruhen des Verfahrens nach § 363 der Abgabenordnung (AO 1977) beantragte, war erfolglos. Das FA führte in der Einspruchsentscheidung aus, es könne offenbleiben, ob der Einspruch im Hinblick auf den Beschluß des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 18. September 1992 III B 43/92 (BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123) zulässig sei; er sei jedenfalls unbegründet, weil die Steuerfestsetzung im Einklang mit den geltenden Gesetzen stehe.
Mit der Klage beantragte der Kläger, die Einspruchsentscheidung aufzuheben und das FA zur Aussetzung des Verfahrens nach § 363 AO 1977 zu verpflichten oder das Klageverfahren nach § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auszusetzen, bis das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) über die für ihn einschlägigen Verfassungsbeschwerden entschieden habe.
Er führte aus: Soweit beim BVerfG anhängige Verfahren vorgreiflich für Prozesse vor dem Finanzgericht (FG) seien, sei das FG zur Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO verpflichtet (BFH-Entscheidungen vom 7. Februar 1992 III B 24,25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408 und III R 61/91, BFHE 167, 279, BStBl II 1992, 592). In entsprechender Anwendung dieser Verpflichtung habe auch das FA das Einspruchsverfahren auszusetzen. Nach dem BFH-Beschluß in BFHE 169, 110, BStBl II 1993, 123 entfalle das Rechtsschutzinteresse für eine Klage nicht dadurch, daß das FA den angefochtenen Steuerbescheid von sich aus für vorläufig erkläre. Würden die anhängigen Verfassungsbeschwerden zurückgenommen, wäre er --der Kläger-- nicht in der Lage, ein solches Verfahren selbständig zu betreiben.
Das FG setzte durch Beschluß die Entscheidung über den Rechtsstreit bis einen Monat nach Kenntnis des Gerichts über die Entscheidungen des BVerfG zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der beschränkten Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen aus.
Zur Begründung führte das FG aus: Die von der Rechtsprechung geforderten Voraussetzungen für eine Aussetzung des Klageverfahrens seien im Streitfall gegeben, da beim BVerfG zahlreiche Verfassungsbeschwerden gegen die beschränkte Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen anhängig seien. Die Vorläufigkeit der Steuerfestsetzung könne das Rechtsschutzinteresse für die Klage schon deshalb nicht beseitigen, weil "die Stellung des Steuerpflichtigen bei vorläufiger Steuerfestsetzung einerseits sowie im Einspruchs- und Klageverfahren andererseits grundlegend verschieden" sei. Nur wenn der Steuerpflichtige Einspruch gegen den Steuerbescheid eingelegt habe, könne er Aussetzung der Vollziehung verlangen; bei Wegfall des Musterverfahrens könne er ohne zeitliche Verzögerung selbst die Streitfrage verfassungsrechtlich klären lassen. Ferner trage er nicht das Risiko der Verjährung nach § 171 Abs.8 AO 1977.
Mit der Beschwerde gegen den Beschluß über die Aussetzung des Klageverfahrens trägt das FA vor: Der Einkommensteuerbescheid sei hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Streitfragen von vornherein vorläufig ergangen. Für ein Klageverfahren bestehe daher kein berechtigtes Interesse mehr. Durch den Ausspruch der teilweisen Vorläufigkeit sei sichergestellt, daß der Kläger an einer ggf. aufgrund der Rechtsprechung des BVerfG erforderlich werdenden gesetzlichen Neuregelung teilhaben könne. Im übrigen werde auf den BFH-Beschluß vom 10. November 1993 X B 83/93 (BFHE 172, 197, BStBl II 1994, 119) Bezug genommen. Danach komme eine Aussetzung des Klageverfahrens nicht in Betracht, wenn die Einkommensteuer bereits im Bescheid oder nachträglich im Einspruchsverfahren wegen der verfassungsrechtlichen Streitfragen vorläufig festgesetzt worden sei.
Das FA beantragt, den Beschluß des FG über die Aussetzung des Klageverfahrens aufzuheben.
Der Kläger beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Er führt aus: Anders als in der vom FA zitierten BFH-Entscheidung in BFHE 172, 197, BStBl II 1994, 119 sei im Streitfall ein Rechtsschutzinteresse gegeben. Er wolle nicht nur die Veranlagungen offen halten, sondern es gehe ihm um die Verfassungswidrigkeit selbst. Im Klageverfahren sollten FA und FG die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Normen prüfen. Erkläre das BVerfG bestimmte Vorschriften für verfassungswidrig, wirke sich die Entscheidung unmittelbar auf das Klagebegehren aus: es erledige sich. Damit sei der Tatbestand des § 74 FGO gegeben, das FG könne aussetzen. Zu Recht habe das FG in seinem Aussetzungsbeschluß darauf hingewiesen, daß ihm --dem Kläger-- durch Aussetzung des Verfahrens die Möglichkeit erhalten werden müsse, z.B. im Falle der Rücknahme der beim BVerfG anhängigen Verfassungsbeschwerde das Verfahren um die Verfassungswidrigkeit selbst zu führen. § 74 FGO erlaube dem Gericht eine Ermessensentscheidung. Das FG habe sein Ermessen dahingehend ausgeübt, daß ausgesetzt werde. Selbst wenn die Aussetzung nicht zwingend sein sollte, so verletze sie doch keine Ermessensgrenzen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses.
1. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH kann das FG (in direkter oder zumindest entsprechender Anwendung des § 74 FGO) das Klageverfahren aussetzen, wenn die Entscheidung von dem Ausgang beim BVerfG anhängiger Musterverfahren abhängt (z.B. in BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408). Wird eine Aussetzungsentscheidung des FG mit der Beschwerde angegriffen, ist der BFH als Beschwerdegericht nicht auf die Überprüfung der Ermessensausübung durch das FG beschränkt. § 102 FGO gilt nur für die Überprüfung der Ermessensentscheidungen von Behörden. Anders als bei der Revision darf der BFH nicht nur die Rechtmäßigkeit der Vorentscheidung prüfen. Als Beschwerdegericht ist er auch Tatsacheninstanz und hat eigenes Ermessen auszuüben (BFH-Entscheidungen vom 24. März 1981 VII B 64/80, BFHE 133, 8, BStBl II 1981, 475; vom 27. November 1992 III B 133/91, BFHE 169, 498, BStBl II 1993, 240, und vom 18. Februar 1992 III B 20/91, BFH/NV 1992, 754).
Eine Aussetzung des Klageverfahrens im Hinblick auf anhängige Verfahren beim BVerfG kommt nicht in Betracht, wenn die Klage wegen Fehlens einer Sachurteilsvoraussetzung keinen Erfolg haben kann oder wenn aus anderen Gründen die Klage nicht zu einer Sachprüfung des angefochtenen Einkommensteuerbescheids hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Besteuerungsgrundlagen führen kann (BFHE 172, 197, BStBl II 1994, 119).
2. Im Streitfall besteht für die Klage kein Rechtsschutzbedürfnis. Sie ist daher wegen Fehlens einer Sachurteilsvoraussetzung unzulässig (BFH-Beschluß vom 18. Februar 1994 VI B 123/93, BFH/NV 1994, 548).
a) Der Kläger hat mit der Klage gegen den Einkommensteuerbescheid 1991 geltend gemacht, es seien "ungewisse Besteuerungsgrundlagen zum Nachteil" berücksichtigt worden. Nach dem BFH-Beschluß vom 29. April 1992 VI B 152/91 (BFHE 167, 152, BStBl II 1992, 752) müßten ungewisse Besteuerungsgrundlagen aber zum Vorteil des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, weil ansonsten die Besteuerung gegen die Grundrechte verstoßen würde.
Das FA hat dem Einkommensteuerbescheid 1991 das geltende Recht zugrunde gelegt, die Einkommensteuer jedoch hinsichtlich der verfassungsrechtlich umstrittenen Besteuerungsgrundlagen vorläufig festgesetzt. Weder das FA noch das FG darf dem Steuerpflichtigen höhere Abzugsbeträge als im Gesetz vorgesehen zugestehen. In der vom Kläger zitierten Entscheidung hat der BFH im Wege der Auslegung den Eintrag von negativen Einkünften aus Vermietung und Verpachtung als Freibetrag auf der Lohnsteuerkarte zugelassen. Eine verfassungskonforme Auslegung, die zum Abzug von Vorsorgeaufwendungen über die im Gesetz festgelegten Grenzen hinaus führt, ist dagegen nicht möglich. Soweit die gesetzliche Regelung verfassungswidrig ist, kann dies nur das BVerfG feststellen und dem Gesetzgeber eine gesetzliche Neuregelung aufgeben.
Ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Klage vor dem FG kann bei vorläufiger Festsetzung also nur insoweit bestehen, als der Kläger aus berechtigtem Interesse (vgl. BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408 unter 3. e) eine weitere Vorlage an das BVerfG erreichen will oder eine abweisende Entscheidung des FG, damit er dagegen Verfassungsbeschwerde erheben kann. Der Kläger hat jedoch ausdrücklich in der Klagebegründung dargelegt, er wolle im Interesse der Prozeßökonomie kein eigenes Verfahren durch die Instanzen hindurch bis vor das BVerfG anstrengen. Es geht ihm also ersichtlich nur darum, den Einkommensteuerbescheid nicht bestandskräftig werden zu lassen, damit er an einer ggf. aufgrund der Entscheidung des BVerfG notwendig werdenden gesetzlichen Neuregelung teilhaben kann. Diesem Begehren ist bereits durch die vorläufige Festsetzung Rechnung getragen worden. Einer Klage gegen den Einkommensteuerbescheid 1991 bedarf es hierfür nicht.
b) Das Rechtsschutzbedürfnis kann nicht darauf gestützt werden, daß nur bei Einlegung eines Rechtsbehelfs oder Rechtsmittels die Vollziehung des Einkommensteuerbescheids ausgesetzt werden kann. Nach der Rechtsprechung des BFH (Beschluß vom 20. Juli 1990 III B 144/89, BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104 m.w.N.) kommt auch bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts wegen der behaupteten Verfassungswidrigkeit einer Norm keine Aussetzung der Vollziehung in Betracht, weil in solchen Fällen das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung höher zu bewerten ist als das Interesse des Steuerpflichtigen an der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes.
c) Auch die verjährungsrechtlichen Risiken des § 171 Abs.8 AO 1977 begründen --wie der Senat bereits im Beschluß in BFHE 172, 197, BStBl II 1994, 119 entschieden hat-- kein Rechtsschutzbedürfnis für eine Klage. Es ist dem Steuerpflichtigen oder seinem Berater zumutbar, nach Beseitigung der Ungewißheit einen Antrag auf Änderung des Bescheids zu stellen, um dessen Bestandskraft zu verhindern. Im übrigen ist durch das Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz (StMBG) vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 1993, 2310, BStBl I 1994, 50) § 171 Abs.8 AO 1977 geändert worden: Ist die Einkommensteuer --wie im Streitfall-- im Hinblick auf anhängige Verfahren beim BVerfG teilweise vorläufig festgesetzt worden (§ 165 Abs.1 Satz 2 Nr.3 AO 1977 i.d.F. des StMBG), endet die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf von zwei Jahren (bisher einem Jahr), nachdem die Ungewißheit beseitigt ist und die Finanzbehörde hiervon Kenntnis erlangt hat. Diese Änderung trägt dazu bei, daß das FA in Massenverfahren tatsächlich genügend Zeit hat, alle betroffenen Bescheide an eine Entscheidung des BVerfG anzupassen. Die Neuregelung gilt für alle am 30. Dezember 1993 anhängigen Verfahren (Art.97 § 1 Abs.4 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung --EGAO 1977-- i.d.F. des StMBG), also auch im Streitfall.
d) Entgegen der Auffassung des FG läßt sich das Rechtsschutzbedürfnis auch nicht daraus herleiten, daß der Steuerpflichtige bei Wegfall des Musterverfahrens ohne zeitliche Verzögerung selbst die Streitfrage verfassungsrechtlich klären lassen könne. Das FG hat das Verfahren im Streitfall im Hinblick auf die beim BVerfG anhängigen Verfahren zur Verfassungsmäßigkeit der Sonderausgabenhöchstbeträge ausgesetzt. Zu dieser Frage sind zahlreiche Verfassungsbeschwerden beim BVerfG anhängig (vgl. die Nachweise im BFH-Beschluß vom 25. August 1993 X B 32/93, BFHE 171, 412, BStBl II 1993, 797). Es ist unwahrscheinlich, daß es in keinem dieser Verfahren zu einer Klärung der materiell-rechtlichen Frage kommt. Auch für diesen unwahrscheinlichen Fall ist der Kläger aber nicht klaglos gestellt. Er könnte beantragen, die vorläufige Steuerfestsetzung für endgültig zu erklären (§ 165 Abs.2 Satz 3 AO 1977 i.d.F. des StMBG) und gegen den endgültigen Bescheid Einspruch, Klage und ggf. Revision sowie anschließend Verfassungsbeschwerde einlegen. Die dadurch entstehende zeitliche Verzögerung ist hinzunehmen. Es ist nicht gerechtfertigt, wegen der im Grunde nur theoretischen Möglichkeit des Wegfalls der beim BVerfG anhängigen Verfahren die FG mit Verfahren zu überschwemmen.
e) Das vom FG in anderen Verfahren herangezogene Argument des unterschiedlichen Zinslaufs bei der Verzinsung nach § 233a AO 1977 (Verzinsung von Steuererstattungen) und der Verzinsung nach § 236 AO 1977 (Prozeßzinsen im Falle des Obsiegens) ist ebenfalls nicht geeignet, ein Rechtsschutzbedürfnis für die Klage zu begründen. Prozeßzinsen sind eine Folge der berechtigten Inanspruchnahme des Gerichts; allein die Möglichkeit ihrer Entstehung im Falle eines Obsiegens kann eine Klageerhebung nicht rechtfertigen (BFH-Beschluß vom 8. Mai 1992 III B 138/92, BFHE 167, 303, BStBl II 1992, 673).
3. Eine Kostenentscheidung entfällt, weil durch die Beschwerdeentscheidung kein Verfahren i.S. des § 143 Abs.1 FGO beendet worden ist (vgl. BFH-Beschluß vom 20. Oktober 1987 VII B 82/87, BFH/NV 1988, 387).
Fundstellen
Haufe-Index 65270 |
BFH/NV 1994, 80 |
BStBl II 1994, 803 |
BFHE 174, 498 |
BFHE 1995, 498 |
BB 1994, 1851 |
BB 1994, 1922 |
BB 1994, 1922-1924 (LT) |
DB 1994, 2012 (L) |
DStR 1994, 1419-1420 (KT) |
DStZ 1994, 702-703 (KT) |
HFR 1994, 658-659 (LT) |
StE 1994, 558 (K) |