Entscheidungsstichwort (Thema)
Hinweispflicht des Gerichts; Überraschungsentscheidung
Leitsatz (NV)
Eine Hinweispflicht des Gerichts kann bestehen, wenn sich das Urteil sonst als Überraschungsentscheidung erweisen würde. Das kann der Fall sein, wenn der Spruchkörper im Verlauf des Verfahrens einen rechtlichen Hinweis gibt und später im Urteil entgegengesetzt entscheidet, ohne die Beteiligten zuvor auf die abweichende Burteilung hinzuweisen. Weicht der Vollsenat hingegen von einer Rechtsansicht ab, die der Berichterstatter zu einem früheren Zeitpunkt gegenüber den Prozessbeteiligten geäußert hat, besteht regelmäßig keine entsprechende Hinweispflicht. Denn ein rechtskundig vertretener Prozessbeteiligter kann im Allgemeinen nicht darauf vertrauen, dass der Vollsenat der Rechtsansicht des Berichterstatters folgt.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 96 Abs. 2
Verfahrensgang
FG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 05.08.2008; Aktenzeichen 10 K 10387/04 B) |
Gründe
Die Beschwerde ist unbegründet und durch Beschluss zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Der Beklagte und Beschwerdeführer (Beklagter) macht zu Unrecht als Verfahrensmangel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO geltend, das Finanzgericht (FG) habe eine Überraschungsentscheidung getroffen und dadurch seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) verletzt.
a) Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste (ständige Rechtsprechung, z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 17. März 2008 IX B 258/07, BFH/NV 2008, 1180). Eine solche Konstellation kann auch gegeben sein, wenn der Spruchkörper im Verlauf des Verfahrens einen rechtlichen Hinweis gibt und später im Urteil entgegengesetzt entscheidet, ohne die Beteiligten zuvor auf diese abweichende Beurteilung hinzuweisen; eine entsprechende Hinweispflicht besteht allerdings regelmäßig dann nicht, wenn der Vollsenat von einer Rechtsansicht abweicht, die der Berichterstatter zu einem früheren Zeitpunkt gegenüber den Prozessbeteiligten geäußert hat. Denn ein rechtskundiger Prozessbeteiligter kann im Allgemeinen nicht darauf vertrauen, der Spruchkörper werde der Rechtsansicht des Berichterstatters folgen (z.B. BFH-Beschluss vom 28. November 2006 X B 160/05, BFH/NV 2007, 480, m.w.N.).
b) Danach liegt hier keine Überraschungsentscheidung vor.
Dabei kann dahinstehen, ob dies schon daraus folgt, dass der Beklagte nach Zugang des Einzelrichterübertragungsbeschlusses, an dem der vormalige Berichterstatter erkennbar nicht beteiligt war, mit einem zwischenzeitlich erfolgten Wechsel des Berichterstatters rechnen musste und schon deshalb nicht darauf vertrauen konnte, dass die Entscheidung des Gerichts der in dem Berichterstatterschreiben geäußerten Rechtsansicht entsprechen werde. Denn auch aus den Umständen des Falles ergibt sich, dass der Beklagte nicht auf eine entsprechende Entscheidung vertrauen durfte. Nicht nur der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger), sondern auch der Beklagte selbst haben von der ihnen durch das Gericht jeweils eingeräumten Möglichkeit ausführlich Gebrauch gemacht, zu dem Berichterstatterschreiben bzw. zu der dazu dann eingegangenen Äußerung des Klägers Stellung zu nehmen. Die entscheidungserhebliche Frage, wie der Beschluss des Amtsgerichts vom März 2004 auszulegen war, blieb auch nach dem Berichterstatterschreiben zwischen den Beteiligten streitig. Bei dieser Sachlage musste der Beklagte damit rechnen, dass selbst der Berichterstatter seine in dem Hinweisschreiben geäußerte Rechtsmeinung aufgrund der Stellungnahmen noch einmal überdenken und zu einer anderen Auffassung gelangen könnte.
2. Die Revision ist auch nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO zuzulassen.
a) Soweit der Beklagte das Vorliegen einer Abweichung der angegriffenen Entscheidung von Entscheidungen anderer Gerichte behauptet, fehlt es schon an Ausführungen dazu, dass die vermeintlichen Divergenzentscheidungen zu einem vergleichbaren Sachverhalt --Berechtigtenbestimmung des Vormundschaftsgerichts nach § 64 Abs. 2 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes-- ergangen sind und ihnen insoweit ein anderer Rechtssatz zugrunde liegt als der angegriffenen Entscheidung.
b) Es liegt auch kein sog. qualifizierter Rechtsanwendungsfehler vor, der zu einer Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO führen könnte. Ein solcher Rechtsanwendungsfehler ist nur gegeben, wenn er von erheblichem Gewicht und deshalb geeignet ist, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Rechtsprechung zu beschädigen. Dies ist nur bei offensichtlichen materiellen oder formellen Rechtsanwendungsfehlern des FG im Sinne einer willkürlichen oder zumindest greifbar gesetzwidrigen Entscheidung der Fall (z.B. BFH-Beschluss vom 19. Mai 2008 V B 29/07, BFH/NV 2008, 1501). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.
Das FG hat den durch einen Richter getroffenen Beschluss des Amtsgerichts vom März 2004 als Entscheidung über eine Erinnerung gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 des Rechtspflegergesetzes gegen den Beschluss des Rechtspflegers vom Januar 2004 angesehen. Diese Auslegung ist jedenfalls vertretbar und daher für das Revisionsgericht bindend. Aus den in den Akten des Beklagten befindlichen Unterlagen ergibt sich, dass das Amtsgericht selbst das Begehren des Klägers als Erinnerung gegen den Beschluss des Rechtspflegers ausgelegt hat (vgl. Schreiben des Amtsgerichts vom 13. Februar 2004, demzufolge "zwecks Entscheidung über die Erinnerung des Kindesvaters" ein Termin anberaumt wurde) - und nicht als Antrag auf Änderung nach § 18 des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit.
Fundstellen