Entscheidungsstichwort (Thema)
Übersendung der Akten zum Zwecke der Akteneinsicht
Leitsatz (NV)
Die Übersendung von Akten zum Zwecke der Akteneinsicht in die Kanzlei des Prozessbevollmächtigten ist im Regelfall ausgeschlossen, wenn dieser als Rechtsanwalt am Landgericht des Ortes zugelassen ist, an dem sich auch das zuständige Finanzgericht befindet.
Normenkette
FGO § 78 Abs. 1 S. 1
Gründe
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
Nach § 78 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) können die Beteiligten die Gerichtsakten und die dem Gericht vorgelegten Akten einsehen. Danach besteht ein Anspruch auf Einsichtnahme der Akten in der Geschäftsstelle des mit der Streitsache befassten Senats. Die Entscheidung über eine Versendung der Akten zum Zweck der Einsichtnahme außerhalb des Gerichts ist hingegen eine Ermessensentscheidung. Hinsichtlich dieser Ermessensentscheidung ist der Bundesfinanzhof (BFH) als Beschwerdegericht Tatsacheninstanz und deshalb gehalten, eigenes Ermessen auszuüben. Bei dieser Entscheidung ist sowohl der in § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO gesteckte Ermessensrahmen zu beachten als auch die für und gegen eine Aktenversendung sprechenden Interessen gegeneinander abzuwägen (vgl. BFH-Beschluss vom 16. November 1998 VI B 162/98, BFH/NV 1999, 649, m.w.N.).
Bei Ausübung seines Ermessens gelangt der Senat zu dem Ergebnis, dass die beantragte Versendung der Akten zur Akteneinsicht in die Kanzleiräume des Prozessbevollmächtigten nicht geboten ist. Nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung ist die Einsicht in die Prozessakten ―vor allem wegen der Gefahr des Verlustes der Akten und im Interesse einer ständigen Verfügbarkeit― im Regelfall bei Gericht zu gewähren. Die dadurch bedingten "normalen" Unbequemlichkeiten und der Zeitverlust müssen grundsätzlich hingenommen werden. Dieser Grundsatz schließt zwar Ausnahmen nicht aus, beschränkt sie aber auf Sonderfälle. Die teilweise abweichende rechtliche Regelung und Verfahrenspraxis zur Akteneinsicht in anderen Gerichtszweigen ―insbesondere gemäß § 147 Abs. 4 der Strafprozessordnung und § 100 Abs. 2 Satz 3 der Verwaltungsgerichtsordnung― ist für die Ermessensausübung auf der Rechtsgrundlage des § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO ohne rechtliche Bedeutung (vgl. BFH-Beschluss vom 22. April 1997 X B 62/97, BFH/NV 1997, 787).
Im Streitfall bestehen keine Besonderheiten, die es rechtfertigen könnten, Akteneinsicht in den Kanzleiräumen des Prozessbevollmächtigten zu gewähren. Die Prozessbevollmächtigten sind beim Landgericht bzw. Oberlandesgericht X zugelassene Rechtsanwälte und haben deshalb des öfteren Termine in X. Das Finanzgericht (FG) geht so mit Recht davon aus, dass die Akteneinsicht in der Geschäftstelle des zuständigen Senats möglich und zumutbar ist. Denkbar wäre im Übrigen auch eine Einsicht in die ―zwischenzeitlich vervollständigten― Akten beim beklagten Arbeitsamt oder beim Amtsgericht Y (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 1999, 649).
Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass es sich im Streitfall nicht um einen "normalen" finanzgerichtlichen Prozess in Steuerfragen, sondern um Kindergeldfragen handelt. Die ab 1996 geltende Ausgestaltung des Kindergeldanspruchs als Steuervergütung (§ 31 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes) führt dazu, dass auch die Vorschriften des finanzgerichtlichen Verfahrens, also auch § 78 Abs. 1 Satz 1 FGO, anwendbar sind. Es besteht kein Grund, Behördenakten in Kindergeldsachen bezüglich der Akteneinsicht anders zu behandeln als Steuerakten (BFH-Beschluss in BFH/NV 1999, 649).
Fundstellen
Haufe-Index 425140 |
BFH/NV 2000, 855 |