Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Rücknahme eines Haftungsbescheids nach langem Zeitablauf
Leitsatz (NV)
Es liegt im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung, wenn nach ca. 11 Jahren ein Antrag auf Rücknahme des der Zahlung zugrunde liegenden Haftungsbescheids mit dem Ziel der Rückerlangung des vermeintlich zu Unrecht an das FA gezahlten Geldbetrages bereits mit Rücksicht auf den unverhältnismäßig langen Zeitablauf abgelehnt wird.
Normenkette
AO 1977 § 130 Abs. 1, §§ 131, 227; FGO §§ 102, 142 Abs. 1; ZPO § 114
Tatbestand
Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin) ist eine Erbin nach X, die als Kommanditistin mit einer Einlage von ... DM an der X-KG (KG) beteiligt war. X war außerdem Eigentümerin des Grundstücks, auf dem das Bürogebäude und die Fabrikationshalle der KG standen. Dieses Grundstück war zur Sicherung von Verbindlichkeiten der KG mit einer Buchhypothek in Höhe von ... DM belastet. Im Jahre 1969 wurde die KG notleidend; zu einem Konkursverfahren kam es aber mangels Masse nicht.
Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) nahm X im Jahre 1969 mit mehreren rechtskräftig gewordenen Haftungsbescheiden für rückständige Umsatzsteuer, Lohnsteuer, Kirchenlohnsteuer und steuerliche Nebenleistungen der KG in Höhe von insgesamt ... DM in Anspruch und ließ deswegen eine Sicherungshypothek auf dem Grundstück der X eintragen. Um die Zwangsversteigerung des Grundstücks zu vermeiden und der X einen freihändigen Verkauf zu ermöglichen, bewilligte das FA entsprechend einem Vorschlag der X die Löschung der Sicherungshypothek gegen Hinterlegung eines Betrages von 150 000 DM aus dem Veräußerungserlös auf einem Notaranderkonto. Hierauf wurde das Grundstück 1970 zusammen mit einem Grundstück des Komplementärs für insgesamt ... DM unter Anrechnung der vom Erwerber übernommenen Buchhypothek auf den Kaufpreis veräußert. Von dem Gesamtkaufpreis entfiel auf das Grundstück der X in Relation zum Schätzwert ein Betrag von 320 000 DM. Hiervon wurden der Antragstellerin 90 000 DM bar ausgezahlt und 150 000 DM vereinbarungsgemäß zugunsten des FA auf dem Notaranderkonto hinterlegt. Dieser Betrag ist -- inzwischen durch Zinsen auf ... DM angewachsen -- 1974 dem FA überwiesen worden.
Nachdem das FA im Jahre 1971 bereits zwei von X gestellte Anträge auf Aufhebung sämtlicher Haftungsbescheide, weil ihre Hafteinlage als Kommanditistin in voller Höhe erbracht worden sei, abgelehnt hatte, beantragten die Antragstellerin und ihr Bruder B als Rechtsnachfolger der verstorbenen X am 17. Mai 1985 erneut die Aufhebung der Haftungsbescheide. Die gegen die Ablehnungsverfügung in der Form der Einspruchsentscheidung des FA erhobene Klage erledigte sich dadurch, daß das FA den beiden Klägern zusagte, die Einspruchsentscheidung aufzuheben und über den Antrag auf Aufhebung der Haftungsbescheide sachlich zu entscheiden. Diese Entscheidung traf das FA mit Verfügung vom ... 1991, in der es den Antrag auf Aufhebung der Haftungsbescheide und den Hilfsantrag auf Erstattung der an das FA überwiesenen ... DM nebst Zinsen seit 1974 ablehnte.
Mit der hiergegen gerichteten Sprungklage, für die die Antragstellerin die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe (PKH) begehrt, tragen die Antragstellerin und B vor, die Haftungsbescheide seien nachträglich rechtswidrig geworden, weil X im Zeitpunkt der Realisierung der Ansprüche ihre Einlage durch die Anrechnung der Buchhypothek auf den Kaufpreis bereits voll erbracht habe. § 171 Abs. 1 des Handelsgesetzbuches (HGB) sei damit als Haftungsgrundlage entfallen, so daß das FA den erhaltenen Betrag nach den Grundsätzen einer ungerechtfertigten Bereicherung zurückzuzahlen habe. Sie beantragen im Hauptsacheverfahren, den Ablehnungsbescheid des FA vom ... 1991 aufzuheben und das FA zur Zurückzahlung des Betrages von ... DM nebst Zinsen seit 1974 zu verurteilen, hilfsweise, die Haftungsbescheide gegen X ersatzlos aufzuheben.
Das Finanzgericht (FG) hat den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung von PKH für die Durchführung dieser Sprungklage wegen fehlender Erfolgsaussichten abgelehnt. Zur Begründung führte das FG aus, selbst wenn man zu Lasten des FA die Rechtswidrigkeit der Haftungsbescheide unterstelle, sei die Ablehnung ihrer Rücknahme nach § 130 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) nicht zu beanstanden. Das FA habe nämlich, indem es sich auf den besonders langen Zeitablauf von über 10 Jahren zwischen Zahlung (1974) und Antragstellung (1985) berufen habe, das ihm nach dieser Vorschrift eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Dabei sei auch zu berücksichtigen, daß X bereits im Jahre 1971 zwei entsprechende Ablehnungsverfügungen habe bestandskräftig werden lassen und nun auch keine neuen Antragsgründe vorgetragen worden seien.
Zudem stehe es nach Aktenlage keineswegs fest, daß X ihre Hafteinlage durch die Verrechnung der Buchhypothek mit dem Kaufpreis erbracht habe, denn selbst wenn man davon ausgehe, daß X den ihr aus der Veräußerung des Grundstücks noch zustehenden Resterlös von 80 000 DM (320 000 DM ./. 150 000 DM Zahlung auf Notaranderkonto ./. 90 000 DM Barauszahlung) zur Befriedigung von Gläubigern der KG verwendet habe und insoweit enthaftende Wirkung eingetreten sei, bliebe die Kommanditistenhaftung immer noch in Höhe von ... DM bestehen. Auch verstieße es gegen Treu und Glauben, zunächst das FA zu veranlassen, die Löschung der Sicherungshypothek gegen die Zusage der Hinterlegung eines Betrages aus der Veräußerung des Grundstücks zu bewilligen und dann durch Befriedigung der anderen Gläubiger der KG aus dem Erlös der Veräußerung die dem FA gegebene Sicherheit wertlos zu machen.
Da die Haftungsbescheide als rechtlicher Grund für die Zahlung an das FA bestehen geblieben seien, stehe der Antragstellerin auch kein Rückzahlungsanspruch zu. Ein Anspruch auf Rücknahme der Haftungsbescheide schließlich komme nicht in Betracht, da die Rücknahme nicht die einzige fehlerfreie Entscheidung des FA darstelle, also keine Ermessensreduzierung auf Null vorliege.
Mit der Beschwerde hält die Antragstellerin ihren PKH-Antrag für das Klageverfahren aufrecht. Sie macht weiter geltend, die Haftung der X nach § 171 Abs. 1 HGB sei nachträglich durch Erbringung der Hafteinlage im Zusammenhang mit dem Verkauf ihres Grundstücks entfallen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist nicht begründet.
Das FG hat der Antragstellerin zu Recht die Bewilligung von PKH versagt. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 142 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung -- FGO -- i. V. m. § 114 der Zivilprozeßordnung -- ZPO --).
1. Der Senat ist mit der Vorinstanz der Ansicht, daß die lediglich auf Ermessensfehler hin zu überprüfende Verwaltungsentscheidung (§ 102 FGO) vom ... 1991, mit der das FA den Antrag auf Aufhebung der Haftungsbescheide abgelehnt hat, nach der hier gebotenen summarischen Prüfung im Ergebnis nicht zu beanstanden ist. Dabei kann offen bleiben, ob als Korrekturvorschrift für die bestandskräftigen Haftungsbescheide § 130 Abs. 1 AO 1977 oder § 131 AO 1977, jeweils i. V. m. Art. 97 § 9 Sätze 1 und 2 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung heranzuziehen wäre. Denn selbst wenn zu Lasten des FA von der Rechtswidrigkeit der Haftungsbescheide auszugehen wäre, ist die Ablehnung der Aufhebung der Haftungsbescheide -- dann im Rahmen des § 130 Abs. 1 AO 1977 -- durch das FA rechtmäßig. Wie schon das FG ausgeführt hat, war sich das FA im Streitfall bewußt, daß es eine Ermessensentscheidung zu treffen hatte, und hat sein Ermessen, hilfsweise für den Fall der Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheids, dahin ausgeübt, daß es eine Zurücknahme ablehnte. Der hierfür vom FA u. a. als maßgeblich angegebene Grund, daß nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und unter Berücksichtigung der besonders langen Verfahrensdauer ein überwiegendes Aufhebungsinteresse nicht bestehe, hält einer Überprüfung im Rahmen des § 102 FGO stand.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu § 227 AO 1977 (vgl. Senatsurteil vom 17. März 1987 VII R 26/84, BFH/NV 1987, 620 m. w. N.) liegt es im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung, wenn ein unverhältnismäßig spät gestellter Antrag auf Erstattung von Abgaben aus sachlichen Billigkeitsgründen schon mit Rücksicht auf den Zeitablauf zwischen Zahlung und Antragstellung abgelehnt wird. Diese Rechtsprechung kann, wie bereits das FG angenommen hat, als Ausfluß eines allgemeinen Rechtsgedankens auch auf den Streitfall übertragen werden. In erster Linie wird zwar die Aufhebung von Verwaltungsakten angestrebt. Das materielle Interesse der Antragstellerin erschöpft sich darin jedoch nicht. Es ist, wie ihr weiterer Hauptantrag zeigt -- und insofern sind die Sachverhalte vergleichbar --, auf die Rückerstattung eines hier vermeintlich zu Unrecht an das FA gezahlten Geldbetrages gerichtet.
Unstreitig sind zwischen der Zahlung des Geldbetrages vom Notaranderkonto an das FA (1974) bis zur Stellung des Antrags auf Aufhebung der Haftungsbescheide (1985) knapp 11 Jahre vergangen, ohne daß die Antragstellerin weder vor dem FG noch im vorliegenden Beschwerdeverfahren einleuchtende Gründe für diese Verzögerung hat angeben können. Daß das FA nicht zur Sache entschieden habe, wie die Antragstellerin wohl im Hinblick auf die Vorgänge nach 1985 vorträgt, erklärt nicht, weshalb die 1985 verstorbene X die Angelegenheit über 10 Jahre auf sich beruhen ließ. Denn das FA hatte gar keine Veranlassung, sich erneut mit der Sache zu befassen, nachdem es bereits im Jahre 1971 zweimal entsprechende Aufhebungsbegehren der X abgelehnt und X hiergegen keinen gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch genommen hatte.
Nach den Umständen des Falles rechtfertigt somit bereits der bloße, unverhältnismäßig lange Zeitablauf zwischen Zahlung und Antragstellung die Ermessensentscheidung des FA, die Rücknahme der Haftungsbescheide abzulehnen. Im Rahmen dieser Entscheidung über die PKH kann dabei dahingestellt bleiben, ob die Befugnis dazu sich aus Erwägungen der Rechtsverwirkung durch Säumigkeit (vgl. Urteil des Senats vom 13. Januar 1976 VII R 47/74, BFHE 118, 3, 4) oder aus solchen der Rechtssicherheit und der Wahrung des Rechtsfriedens ergibt.
Zutreffend und ergänzend hat das FG dabei auch berücksichtigt, daß die Antragstellerin gegenüber dem früheren Vorbringen der X neue Antragsgründe nicht geltend gemacht hat. Es wird nämlich nach wie vor vorgetragen, daß X ihre Hafteinlage im Zusammenhang mit den Vorgängen beim Verkauf ihres Grundstücks im Jahre 1970, also bereits in dem auf den Erlaß der Haftungsbescheide nachfolgenden Jahr, erbracht habe.
Nach alldem kommt es auf die weitere Ermessenserwägung des FA, wonach die Aufrechterhaltung der Haftungsbescheide auch im öffentlichen Interesse geboten sei, weil sie in materiell-rechtlicher Hinsicht zutreffend seien, und auf das dem entgegenstehende, im wesentlichen auch die Beschwerde stützende Vorbringen der Antragstellerin, die Kommanditistenhaftung sei durch Erbringung der Einlage beim Verkauf des Grundstücks erloschen, nicht mehr an.
Fundstellen
Haufe-Index 419832 |
BFH/NV 1995, 4 |