Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung rechtlichen Gehörs, der Amtsermittlungspflicht sowie richterlicher Hinweispflichten; Rechtsfolgen überlanger Verfahrensdauer
Leitsatz (NV)
1. Bezieht sich die behauptete Verletzung des rechtlichen Gehörs nur auf einzelne Feststellungen oder rechtliche Gesichtspunkte, so ist darzulegen, wozu sich der Beteiligte nicht habe äußern können, was er bei ausreichender Gewährung noch vorgetragen hätte und dass bei Berücksichtigung dieses Sachvortrags eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre.
2. Des Weiteren ist darzulegen, dass der Beteiligte sämtliche zumutbaren Möglichkeiten genutzt habe, sich rechtliches Gehör zu verschaffen.
3. Das FG ist nicht verpflichtet, den ordnungsgemäß vertretenen Kläger auch persönlich zum Termin zur mündlichen Verhandlung zu laden.
4. Der Prozessvertreter kann seinerseits eine persönliche Anhörung des Beteiligten herbeiführen oder ggf. sogar eine Beteiligtenvernehmung beantragen.
5. Der Amtsermittlungsgrundsatz wird durch die Mitwirkungspflichten der Beteiligten begrenzt. Die Sachaufklärungsrüge kann nicht dazu dienen, Beweisanträge oder Fragen zu ersetzen, die eine fachkundig vertretene Partei selbst in zumutbarer Weise hätte stellen können, jedoch zu stellen unterlassen hat.
6. Der richterliche Hinweis soll in erster Linie zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens, zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und zur Vermeidung von Überraschungsentscheidungen den Beteiligten Schutz und Hilfestellung geben, ohne ihre Eigenverantwortlichkeit indes einzuschränken.
7. Inhalt und Umfang der Hinweispflichten hängen von der Sach- und Rechtslage des Einzelfalles ab, von der Mitwirkung der Beteiligten und von deren individuellen Möglichkeiten.
8. Die Hinweispflichten entfallen auch bei fachkundig vertretenen Beteiligten nicht von vornherein vollständig. Jedoch stellt das Unterlassen eines Hinweises bei steuerlich Beratenen und durch einen sachkundig vertretenen Prozessbevollmächtigten vertretenen Beteiligten regelmäßig keine Verletzung der Hinweispflichten dar, wenn nicht ausnahmsweise besondere Umstände einen Hinweis erfordern.
9. Das FG ist weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet. Selbst bei einer umstrittenen Rechtslage muss ein fachkundig vertretener Beteiligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einrichten.
10. Auch bei Zweifeln an der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist das Gericht nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen ausnahmsweise zu einer abweichenden Würdigung verpflichtet. Eine unzulässige überlange Verfahrensdauer wirkt sich in der Regel nicht auf die Darlegungs- und objektive Feststellungslast aus.
11. Nur ausnahmsweise kann, wenn z.B. durch die unangemessene Behandlung des Verfahrens ein Beweismittel verloren gegangen ist, im Wege einer Beweiserleichterung das Ausmaß der Überzeugungsbildung im Rahmen der gerichtlichen Beweiswürdigung beeinflusst werden.
Normenkette
FGO § 76 Abs. 1-2, § 80 Abs. 1 S. 1, §§ 82, 96 Abs. 2, § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 116 Abs. 3 S. 3; GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1; ZPO §§ 283, 295, 450
Verfahrensgang
FG Münster (Urteil vom 11.07.2006; Aktenzeichen 15 K 6111/00 G) |
Gründe
Die Beschwerde ist unzulässig und durch Beschluss zu verwerfen (§ 132 FGO).
Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) hat die geltend gemachten Verfahrensverstöße nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO nicht entsprechend den gesetzlichen Anforderungen (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) bezeichnet.
1. Die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 96 Abs. 2 FGO, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--) hat der Kläger nicht schlüssig dargetan.
a) Zur schlüssigen Erhebung dieser Rüge ist darzulegen, wozu sich der Beteiligte nicht habe äußern können, was er bei ausreichender Gewährung noch vorgetragen hätte und dass bei Berücksichtigung dieses Sachvortrags eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre. Diese Anforderungen gelten jedenfalls dann, wenn sich --wie hier-- die behauptete Verletzung des rechtlichen Gehörs nur auf einzelne Feststellungen oder rechtliche Gesichtspunkte bezieht. Insbesondere aber müssen die Beteiligten darlegen, inwieweit sie alle zumutbaren Möglichkeiten genutzt haben, sich das rechtliche Gehör vor dem Finanzgericht (FG) auch zu verschaffen (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 14. Juni 2006 VIII B 153/05, juris; vom 8. März 2001 III B 94/00, BFH/NV 2001, 1036).
b) Die Behauptung, das rechtliche Gehör sei durch einen der Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 10. Mai 2006 beigefügten, ein anderes Verfahren betreffenden Zusatz vereitelt worden, entbehrt offensichtlich einer Grundlage.
Bereits in der Einspruchsentscheidung vom 31. August 2000 hatte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) den für die Annahme von den Katalogberufen ähnlichen Berufen erforderlichen Nachweis ausreichender Kenntnisse in den Hauptbereichen der Betriebswirtschaftslehre bzw. die notwendige fachliche Breite und Qualifikation vermisst. Der damalige Prozessvertreter im Klageverfahren hatte im Übrigen die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die steuerrechtliche Anerkennung als ähnlichen Beruf in der Klageschrift vom 23. Oktober 2000 selber zutreffend wiedergegeben. In der Klageerwiderung vom 7. Dezember 2000 hat das FA ausdrücklich an seiner Rechtsauffassung in der Einspruchsentscheidung festgehalten. Dem Prozessvertreter hätte somit obgelegen, die Tatsachen schlüssig vorzutragen und ggf. Beweisanträge zu stellen, dies umso mehr als bei einem fachkundigen Vertreter die Kenntnis der einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung vorauszusetzen ist (vgl. zum EDV-Berater: BFH-Urteil vom 4. Mai 2004 XI R 9/03, BFHE 206, 233, BStBl II 2004, 989; zu dem einem beratenden Betriebswirt ähnlichen Beruf: BFH-Beschluss vom 8. Januar 1997 IV B 56/96, BFH/NV 1997, 399).
Das FG ist nach § 80 Abs. 1 Satz 1 FGO nicht verpflichtet, den ordnungsgemäß vertretenen Kläger persönlich zum Termin zur mündlichen Verhandlung zu laden (BFH-Beschlüsse vom 5. Dezember 2006 VIII B 4/06, BFH/NV 2007, 490; vom 14. Juni 2006 VIII B 153/05, juris).
Dem Prozessvertreter war es indes seinerseits unbenommen, eine persönliche Anhörung des Klägers herbeizuführen oder ggf. sogar eine Beteiligtenvernehmung nach § 450 der Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 82 FGO zu beantragen (BFH-Beschluss vom 25. September 2003 XI B 11/01, BFH/NV 2004, 77).
Auf die aus dem Ladungszusatz von dem vertretenen Kläger irrig gezogenen Schlussfolgerungen kann es insoweit nicht ankommen.
2. Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO, und der Hinweispflicht nach § 76 Abs. 2 FGO)
a) Der Kläger legt nicht dar, welche konkreten Ermittlungen sich dem FG nach dessen insoweit maßgebender materiell-rechtlicher Auffassung, dass der Klagevortrag bereits nicht schlüssig sei, hätten aufdrängen müssen und weshalb er, obwohl er in der mündlichen Verhandlung fachkundig vertreten gewesen ist, nicht von sich aus im Rahmen der ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 11. Juli 2006 durchgeführten Erörterung der Sach- und Rechtslage sich die Möglichkeit eines ergänzenden Sachvortrags ggf. durch einen nachzulassenden Schriftsatz nach § 283 ZPO i.V.m. § 155 FGO (dazu BFH-Beschluss vom 22. April 2005 III B 58/04, BFH/NV 2005, 1589) hat einräumen lassen oder von sich aus entsprechende Beweisanträge gestellt hat (dazu auch § 295 ZPO i.V.m. § 155 FGO; BFH-Beschluss in BFH/NV 2007, 490; zu den Rügeanforderungen BFH-Beschluss vom 9. Februar 2006 VIII B 52/05, BFH/NV 2006, 1155).
Das FG hat zudem nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO zwar den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Indes wird der Amtsermittlungsgrundsatz durch die Mitwirkungspflichten der Beteiligten nach § 76 Abs. 1 Satz 2 FGO begrenzt. Die Sachaufklärungsrüge kann nicht dazu dienen, Beweisanträge oder Fragen zu ersetzen, welche eine fachkundig vertretene Partei selbst in zumutbarer Weise hätte stellen können, jedoch zu stellen unterlassen hat (BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2007, 490; vom 20. April 2006 VIII B 33/05, BFH/NV 2006, 1338, m.w.N.).
b) Ebenso wenig hat der Kläger die behauptete Verletzung der gerichtlichen Hinweispflichten nach § 76 Abs. 2 FGO schlüssig gerügt.
aa) Der richterliche Hinweis nach § 76 Abs. 2 FGO soll in erster Linie zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens, zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und zur Vermeidung von Überraschungsentscheidungen Schutz und Hilfestellung für die Beteiligten geben, ohne dass indes deren Eigenverantwortlichkeit dadurch eingeschränkt oder beseitigt wird.
Der Vorsitzende hat im Rahmen seiner richterlichen Prozessförderungs- und Fürsorgepflichten u.a. darauf hinzuweisen, dass Formfehler beseitigt und sachdienliche Anträge gestellt werden. Der Erfolg einer Klage soll nicht an der Rechtsunerfahrenheit des Klägers, zumal in Formsachen, scheitern.
Inhalt und Umfang der aus § 76 Abs. 2 FGO folgenden Hinweispflichten sind indes von der Sach- und Rechtslage des einzelnen Falles abhängig, von der Mitwirkung der Beteiligten und von deren individuellen Möglichkeiten. Die Hinweispflichten entfallen zwar auch bei fachkundig vertretenen Beteiligten nicht von vornherein vollständig. Jedoch stellt das Unterlassen eines Hinweises regelmäßig bei steuerlich Beratenen und durch einen fach- und sachkundigen Prozessbevollmächtigten vertretenen Beteiligten keine Verletzung der Pflichten aus § 76 Abs. 2 FGO dar, es sei denn, es würden besondere Umstände, die eine Ausnahme von dieser Regel erforderten, dargelegt (BFH-Beschlüsse vom 28. November 2003 III B 7/03, BFH/NV 2004, 645; vom 7. Dezember 2006 IX B 50/06, BFH/NV 2007, 1135, m.w.N.; vom 23. Februar 2005 VII B 133/04, BFH/NV 2005, 1325).
bb) Im Übrigen ist das FG weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet, also dazu, die maßgebenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte mit den Beteiligten vorher umfassend und im Einzelnen zu erörtern oder ihnen die einzelnen für die Entscheidung erheblichen Gesichtspunkte, Schlussfolgerungen oder das Ergebnis einer Gesamtwürdigung im Voraus anzudeuten oder mitzuteilen. Auf naheliegende tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte braucht es zumindest dann nicht hinzuweisen, wenn die Beteiligten fachkundig vertreten sind. Daher muss selbst dann, wenn die Rechtslage umstritten ist, ein Beteiligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einrichten (BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2007, 1135, mit umfangreichen Nachweisen; in BFH/NV 2007, 490).
cc) Liegen --wie hier-- die rechtliche Bedeutung bestimmter Tatsachen und die sich daraus ergebende Notwendigkeit, diese Tatsachen zur Erreichung des Prozessziels bei Gericht vorzubringen und zu substantiieren, auf der Hand, so stellt ein unterlassener richterlicher Hinweis jedenfalls dann keine gegen § 76 Abs. 2 FGO verstoßende Pflichtverletzung dar, wenn der Kläger --wie hier-- sachkundig vertreten war (vgl. auch BFH-Beschluss vom 4. Mai 2005 XI B 224/03, BFH/NV 2005, 1483).
dd) Eine abweichende Würdigung ist auch nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen ausnahmsweise deshalb geboten, weil die Angemessenheit der Verfahrensdauer zweifelhaft ist. Zum einen hat der Kläger insoweit bereits keine schlüssige Verfahrensrüge erhoben (zu den Anforderungen BFH-Beschlüsse vom 1. Dezember 2005 XI B 72/05, juris, m.w.N.; vom 17. Januar 2006 VIII B 172/05, BFH/NV 2006, 799; vom 15. November 2006 XI B 17/06, BFH/NV 2007, 474).
Zum anderen wirkt sich selbst eine gemessen an Art. 19 Abs. 4 GG unzulässige, überlange Verfahrensdauer in der Regel nicht auf die Darlegungs- und objektive Feststellungslast aus, sondern kann nur ausnahmsweise, z.B. wenn durch eine unangemessene Behandlung des Verfahrens durch das FG ein Beweismittel verloren geht, im Wege einer Beweiserleichterung das Ausmaß der Überzeugungsbildung im Rahmen der gerichtlichen Beweiswürdigung beeinflussen (grundlegend BFH-Urteil vom 23. Februar 1999 IX R 19/98, BFHE 188, 264, BStBl II 1999, 407).
Indes hat der Kläger derartige besondere Umstände, wonach sich die Entscheidungsgrundlagen tatsächlich verändert hätten, selbst nicht behauptet.
Fundstellen
Haufe-Index 1809792 |
BFH/NV 2007, 2312 |