Leitsatz (amtlich)
1. Die Vorschrift des § 84 AO gilt nicht für die gesetzlichen Fristen im Verfahren vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit.
2. Ein Steuerpflichtiger, der des öfteren oder länger auf Geschäftsreisen ist, muß es sich als Verschulden anrechnen lassen, wenn er keine Vorkehrungen dafür trifft, daß ihn Zustellungen verläßlich rechtzeitig erreichen oder erforderlichenfalls Termine ordnungsgemäß wahrgenommen werden können.
2. Der Steuerpflichtige muß das mit der von ihm gewählten Versendungsart (Einschreibebrief) verbundene Risiko möglicherweise verzögerter und verspäteter Zustellung tragen.
2. Ein Rechtsirrtum darüber, in welcher Frist ein Rechtsmittel einzulegen ist, kann ein Grund für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sein, aber auch dies nur, wenn der Irrtum unverschuldet ist. Das ist zu verneinen, wenn ein Prozeßführender - zumal bei drohendem Fristablauf - sich trotz zutreffender Rechtsmittelbelehrung keine Gewißheit darüber verschafft, in welcher Weise er mit Sicherheit seine Rechtsmittelfrist wahren kann und muß.
2. Die Kürze der Fristüberschreitung ist für sich allein kein Grund für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Normenkette
AO § 84; FGO §§ 56, 120, 124
Tatbestand
Das angefochtene Urteil ist dem Kläger - bei dessen Abwesenheit seiner Gehilfin - am 31. Juli 1970 unter Aufnahme einer Postzustellungsurkunde (PZU) zugestellt worden (§ 53 Abs. 2 FGO, § 3 VwZG, § 183 Abs. 1 ZPO). Es enthielt eine ordnungsgemäße Rechtsmittelbelehrung (§ 55 Abs. 1 Satz 2 FGO). Durch Schriftsatz vom 29. August 1970, als Einschreibesendung aufgegeben am 31. August 1970 und eingegangen beim FG am 1. September 1970, hat der Kläger Revision eingelegt. Die Revisionsfrist war mit Ablauf des 31. August 1970 abgelaufen (§ 120 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, § 54 Abs. 2 FGO, § 222 ZPO, §§ 187 bis 189 BGB). Durch Verfügung des Vorsitzenden des II. Senats vom 25. September 1970 - zugestellt mit PZU am 30. September 1970 - wurde der Kläger darauf aufmerksam gemacht, daß die Revision verspätet eingegangen sei, daß aber unter den Voraussetzungen des § 56 FGO auf rechtzeitigen Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sei.
Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 7. Oktober 1970, rechtzeitig innerhalb der Zweiwochenfrist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO eingegangen beim BFH am 9. Oktober 1970, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.
Der Kläger macht geltend, das Urteil des FG sei ihm, da er - wie auch im August und September 1970 - meist im Ausland tätig sei, erst nach Beendigung eines Urlaubs seiner Sekretärin am 29. August 1970 einem Samstag, zur Kenntnis gelangt. Da die Postämter samstags um 12 Uhr schlössen, er die Revision aber "eingeschrieben" habe übersenden wollen, habe er das Schreiben erst am 31. August 1970 aufgeben können. Im übrigen sei er überzeugt, daß in Terminfällen das Datum des Poststempels maßgebend sei.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Der Senat vermag dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu entsprechen, da der Kläger nicht ohne Verschulden verhindert war, die Revisionsfrist (§ 120 Abs. 1 FGO) einzuhalten (§ 56 Abs. 1 FGO).
Vorweg ist klarzustellen, daß der vom Kläger behauptete Auslandsaufenthalt in der fraglichen Zeit eine sogenannte Frist-"Anlaufhemmung", wie im § 84 AO vorgesehen, nicht bewirken konnte. Diese Vorschrift gilt, wie der Senat in dem Urteil II R 42/68 vom 12. Juni 1968 (BFH 93, 30, BStBl II 1968, 658) in Übereinstimmung mit dem IV. Senat des BFH (Urteil IV 297/62 vom 11. August 1966, BFH 87, 266, 269, BStBl III 1967, 126) entschieden hat, nur für die Fristen im Bereich des Verfahrens vor den Finanzverwaltungsbehörden, nicht aber für die gesetzlichen Fristen im Verfahren vor den Gerichten der Finanzgerichtsbarkeit. Deshalb ist es unerheblich, ob und wann der Kläger zu Beginn oder während des Laufs der Revisionsfrist innerhalb oder außerhalb des Geltungsbereiches der AO war oder zurückgekehrt war.
Der Umstand, daß der Kläger wegen seiner beruflichen Reisetätigkeit und des Urlaubs seiner Sekretärin das Urteil des FG - wie er sagt - erst am 29. August 1970, also erst kurz vor Fristablauf zur Kenntnis bekommen hat, vermag - die Richtigkeit seiner Darstellung als glaubhaft gemacht (§ 56 Abs. 2 Satz 2 FGO) unterstellt - die Fristversäumnis nicht zu entschuldigen. Nach der ständigen Rechtsprechung - auch anderer oberster Gerichte - muß es sich ein Steuerpflichtiger, der als beruflich Tätiger des öfteren oder länger auf Geschäftsreisen ist, als Verschulden anrechnen lassen, wenn er keine Vorkehrungen dafür trifft - z. B. durch Bestellung eines Vertreters, Nachsendeantrag bei der Post oder entsprechenden Auftrag an seine Bürokräfte -, daß ihn Zustellungen verläßlich rechtzeitig erreichen oder erforderlichenfalls Termine ordnungsgemäß wahrgenommen werden können. Das gilt im besonderen Maße, wenn er mit der Zustellung eines unter Umständen zu seinem Nachteil ergehenden Urteils in nächster Zeit rechnen muß (vgl. BFH-Urteil IV 602/56 U vom 24. Januar 1957, BFH 64, 234, BStBl III 1957, 89; Beschluß des BGH IV ZR 12/70 vom 29. Mai 1970, Versicherungsrecht 1970 S. 857 - VersR 1970, 857 -; Mattern-Meßmer, Reichsabgabenordnung, Tz. 355; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 2. bis 4. Aufl., § 86 AO Tz. 9, mit weiteren Nachweisen). Das muß sich auch der Kläger entgegenhalten lassen, der durch mit PZU zugestellte Verfügung des Vorsitzenden des erkennenden Senats des FG vom 9. Juni 1970 zur mündlichen Verhandlung geladen war.
Im übrigen hätte der Kläger, wenn es ihm - wie er behauptet - nicht mehr möglich gewesen sein sollte, den am Samstag, dem 29. August 1970 gefertigten Revisionsschriftsatz von zwei Sätzen wegen Postschlusses noch an diesem Tag als Einschreibesendung aufzugeben, auf andere geeignete Weise sicherstellen müssen, daß die drohende Fristversäumnis vermieden würde. Das hätte z. B. zunächst durch gewöhnlichen, vorsichtshalber als Eilbrief am 29. August 1970 aufgegebenen Brief geschehen können, da gewöhnliche Briefsendungen zwischen X und dem Sitz des FG ausweislich der Akten regelmäßig nur einen Tag laufen, oder durch Aufgabe eines Telegramms (zur Zulässigkeit der Rechtsmitteleinlegung durch Telegramm vgl. BFH-Beschluß III B 36/67 vom 21. Juni 1968, BFH 92, 438, BStBl II 1968, 589; BGH-Beschluß I St R 114/60 vom 29. April 1960, NJW 1960, 1310; Urteil des BVerwG V C 138/55 vom 14. Dezember 1955, BVerwGE 3, 56). Es steht einem Rechtsmittelberechtigten zwar frei, eine Frist bis zum letzten Tag auszuschöpfen; dann trifft ihn jedoch eine erhöhte Sorgfaltspflicht, um sicherzustellen, daß bei normalem Beförderungsverlauf nach der gewählten Beförderungsart mit dem fristgerechten Eingang des Rechtsmittels beim Empfänger gerechnet werden kann. Das gilt auch, wenn ein Rechtsmittelführer etwa aus Gründen besonderer Vorsicht sein Rechtsmittel lieber als eingeschriebenen Brief einlegen möchte. Wählt er diese Versendungsart, so muß er das hiermit verbundene Risiko tragen, daß nach allgemeiner Erfahrung bei Einschreibesendungen mit postalischen Verzögerungen in der Zustellung gerechnet werden muß (BFH-Beschluß IV R 126/69 vom 12. März 1970, RFH 98, 467, BStBl II 1970, 460; BVerwG-Urteil III C 249/64 vom 22. Februar 1966, NJW 1966, 1090).
Selbst wenn der Kläger seine Revisionsschrift erst deshalb am Tage des Ablaufs der Revisionsfrist abgesandt haben sollte, weil er - wie er behauptet - angenommen habe, für die Wahrung der Revisionsfrist sei das Datum des Poststempels maßgebend, vermöchte dies die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu rechtfertigen. Zwar kann ein Rechtsirrtum, wenn er sich nicht auf das materielle Recht, sondern auf die Dauer der Frist bezieht, also darauf, in welcher Frist überhaupt ein Rechtsmittel einzulegen ist, ein Grund für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sein; aber auch dies nur, wenn der Irrtum unverschuldet ist (§ 56 Abs. 1 FGO; vgl. schon Urteile des RFH VI a A 2/21 vom 12. Juli 1922, und V A 352/22 vom 11. Oktober 1922, RFH 10, 151 und 243 -; I A 281/26 vom 16. November 1926, RFH 20, 95; BFH-Beschluß II B 3/67 vom 9. Mai 1967, BFH 88, 541, 544, BStBl III 1967, 472). Der Kläger war aber durch die mit dem Wortlaut des § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO übereinstimmende Rechtsmittelbelehrung ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Revision "innerhalb" eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich "beim FG einzulegen" war. Innerhalb eines Monats ist aber eine Revision bei dem Gericht nicht "eingelegt", wenn sie innerhalb der Frist nicht beim Gericht eingegangen, sondern lediglich zur Beförderung an das Gericht bei der Post aufgegeben ist (vgl. BVerwG-Urteil III C 249/64 vom 22. Februar 1966, NJW 1966, 1091 linke Spalte). Die Revision als prozessuale Willenserklärung ist wirksam erst eingelegt, wenn sie mit Eingang beim Gericht in dessen Machtbereich gelangt ist (vgl. auch BVerwG-Urteile IV C 101/63 vom 31. Januar 1964, Wertpapier-Mitteilungen 1964 S. 366 - WM 1964, 366 -, und III C 138/62 vom 13. Februar 1964, WM 1964, 644; Tipke-Kruse, a. a. O., § 54 FGO Tz. 6, mit weiteren Nachweisen). Es muß von einem Prozeßführenden erwartet werden, daß er sich - erst recht, wenn Fristablauf droht - Gewißheit darüber verschafft, in welcher Weise er mit Sicherheit seine Rechtsmittelfrist wahren kann und muß. Hat er dies - trotz des unmittelbar bevorstehenden Fristendes - unterlassen, obwohl ihm Zweifel über den genauen Zeitpunkt des Ablaufs der Rechtsmittelfrist gekommen waren oder doch angesichts der Rechtsmittelbelehrung hätten kommen müssen, so muß er sich dies als eine Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt und somit als Verschulden anrechnen lassen, zumal da er in solcher Lage nicht den für ihn günstigsten, sondern den ungünstigsten Fall annehmen muß (BFH-Beschluß II R 8/68 vom 20. Juni 1968, BFH 93, 30, 32, BStBl II 1968, 659; BVerwG-Urteile III B 148/60 - III C 138/60 vom 14. Dezember 1961, BVerwGE 13, 239, NJW 1962, 882; III C 249/64, a. a. O.; v. Wallis-List in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 1. bis 5. Aufl., § 56 FGO Tz. 4). Die Kürze der Fristüberschreitung von nur einem Tag ist für sich allein kein Grund für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. die Nachweise der ständigen Rechtsprechung bei v. Wallis-List in Hübschmann-Hepp-Spitaler, a. a. O., § 56 FGO Tz. 14).
Nach allem mußte die Revision unter Zurückweisung des Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 Abs. 4 FGO) mangels fristgerecht eingelegter Revision auf Kosten des Klägers (§ 135 Abs. 2 FGO) als unzulässig verworfen werden (§ 124, § 126 Abs. 1 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 69188 |
BStBl II 1971, 143 |
BFHE 1971, 490 |