Entscheidungsstichwort (Thema)
Überraschungsentscheidung; Hinweispflicht des Vorsitzenden
Leitsatz (NV)
1. Eine Verletzung des Rechts auf Gehör durch eine sog. Überraschungsentscheidung liegt nicht vor, wenn das Gericht Einzelheiten aus dem Sachvortrag eines der Beteiligten, denen der andere nicht widersprochen hat, als gegeben annimmt.
2. Ist nach der materiellen Rechtslage eine Gesamtwürdigung einer Mehrzahl von Tatsachen und Indizien vorzunehmen, verletzt das Gericht nicht seine Hinweispflicht, wenn es in der mündlichen Verhandlung nicht zu erkennen gibt, wie es die einzelnen Tatsachen und Indizien gewichten werde.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 76 Abs. 2, § 96 Abs. 2; DBA BEL Art. 4 Abs. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
FG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 14.09.2004; Aktenzeichen 2 K 1163/03) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger), ein holländischer Staatsangehöriger, kam 1970 aus beruflichen Gründen nach Deutschland und wohnte ab Dezember 1982 mit seiner Familie in einem von der damaligen Ehefrau (E) erworbenen Haus in X. Nach Trennung der Eheleute gingen E und die beiden Kinder wenige Jahre später in die Niederlande zurück. Im Dezember 1993 heiratete der Kläger seine langjährige Freundin (F), die in X eine Boutique betrieb und seit November 1988 mit Wohnung in dem oben genannten Haus gemeldet ist. Das Haus wurde ihr 1992 übertragen, nachdem ihr und dem Kläger schon vorher ein Wohnrecht eingeräumt worden war. Dieses Wohnrecht bestand für den Kläger auf Lebenszeit fort.
Im Dezember 1990 meldete sich der Kläger nach England ab. Seit Januar 1993 hatte er eine Wohnung in Belgien gemietet, in der er seit dem 9. Januar 1996 gemeldet war. Dahin meldete sich am 1. Dezember 1996 auch F ab. Der Kläger ist der Auffassung, seit 1990 in Deutschland mangels eines inländischen Wohnsitzes nicht mehr unbeschränkt steuerpflichtig zu sein.
Demgegenüber kam der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) nach einer Steuerfahndungsprüfung, in deren Rahmen das Haus in X und die belgische Wohnung durchsucht und die Nachbarn in X befragt worden waren, zu dem Ergebnis, dass die unbeschränkte Steuerpflicht in den Jahren 1994 bis 1996 fortbestanden hatte, weil der Kläger seinen Wohnsitz in X beibehalten und das dortige Haus den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen dargestellt habe. Er erließ daher am 6. Februar 2002 Vermögensteuerbescheide auf den 1. Januar 1994, 1995 und 1996 sowie am 25. Mai 2004 einen Einkommensteuerbescheid für 1996. Die Vermögensteuer wurde dabei auf … und die Einkommensteuer 1996 auf … festgesetzt. Das Begehren des Klägers, die Vermögensteuerbescheide aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid 1996 vom 25. Mai 2004 dahin zu ändern, dass die Einnahmen aus Kapitalvermögen mit … DM angesetzt werden, hatte weder im Einspruchs- noch im Klageverfahren Erfolg.
Auch das Finanzgericht (FG) nahm für die Streitjahre eine unbeschränkte Einkommensteuer- und Vermögensteuerpflicht des Klägers an. Er habe zwar über zwei Wohnsitze verfügt, nämlich einen in Belgien und einen in Deutschland; gemäß Art. 4 Abs. 2 Nr. 1 des deutsch-belgischen Doppelbesteuerungsabkommens (DBA-Belgien) vom 11. April 1967 (BGBl II 1969, 18) gelte er aber in den Streitjahren als vorrangig in Deutschland ansässig, weil er hier durchgängig über eine ständige Wohnstätte verfügt und zu dieser nach dem Gesamtbild der Verhältnisse die engeren persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen gehabt habe. Das Haus in X sei sein "Refugium" gewesen, in das er sich nach Erledigung der Alltagsgeschäfte in England, Frankreich, Holland und Belgien immer wieder zurückgezogen habe. Dabei berief sich das FG im Wesentlichen auf folgende Umstände:
a) In dem Haus hielt sich F auf, die der Kläger Ende 1993 auch geheiratet hat.
b) Eine der Firmen, für die der Kläger tätig war, habe sich noch in X befunden; der Kläger habe selber bekundet, die Firma "30 Mal jährlich an zwei bis drei Tagen" aufgesucht und bei dieser Gelegenheit auch F besucht zu haben.
c) Der Kläger sei von 1982 bis einschließlich 1986 Leiter und (Fest-)Organisator des von ihm 1982 gegründeten Vereins Y gewesen, den er und F von X aus gesteuert hätten.
d) Eine Nachbarin in X habe ausgesagt, der Kläger habe sich im maßgeblichen Zeitraum an den Wochenenden regelmäßig in X aufgehalten. Noch zwei weitere Nachbarn hätten dies bestätigt.
e) Eine Versteuerung der Einkünfte habe für die Streitjahre in Belgien nicht stattgefunden.
f) Die vom Kläger in den Streitjahren in Belgien gegründeten Firmen … und … seien den belgischen Steuerbehörden nicht bekannt.
g) Der Kläger habe nach wie vor die Ärzte und Zahnärzte im Raum X aufgesucht.
h) Der Kläger sei in X auch von Freunden und Bekannten besucht worden.
i) Der Kläger habe mehrfach sich widersprechende Angaben über seine Wohnverhältnisse in England und Belgien gemacht (vorletzter und letzter Absatz auf Seite 12 der Entscheidung des FG).
j) F habe die Wohnung in X trotz ihrer Abmeldung nach Belgien im Dezember 1996 beibehalten.
Mit der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger eine Verletzung seines Rechts auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG-- und § 96 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) sowie der Hinweispflicht des Gerichts (§ 76 Abs. 2 FGO). Das FG habe sein Urteil auf Grundlagen gestützt, die in der mündlichen Verhandlung nicht angesprochen worden seien und dem Sachverhalt widersprächen, von dem die Beteiligten ausgegangen seien. Daher stelle das Urteil eine Überraschungsentscheidung dar. So seien die Beteiligten davon ausgegangen, dass er, der Kläger, zur Zeit seines Aufenthalts in England --nämlich 1991, 1992 und 1993-- nicht in X gewohnt habe. Deshalb habe ihn auch das FA für diese Jahre nur als beschränkt steuerpflichtig behandelt.
Eine Abmeldung nach Belgien zum 9. Januar 1986 habe es nicht gegeben, da er, der Kläger, sich 1990 von X nach England abgemeldet habe und danach nie mehr in X gemeldet gewesen sei. Zum 9. Januar 1996 habe es lediglich eine Anmeldung in Belgien gegeben. Überhaupt sei nicht erkennbar gewesen, welches Gewicht das FG dem Aufenthalt in England beimessen und dass es seinen dortigen Wohnsitz zu einer "Aufenthaltsstation abqualifizieren" werde. Die Ausführungen des FG hinsichtlich des Mobiliars und des fehlenden Telefonanschlusses in der Wohnung in Belgien seien falsch. Auch habe er für seine belgischen Firmen den belgischen Behörden Bilanzen eingereicht. Er habe mit F in Belgien auch ein normales gesellschaftliches Leben geführt.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet. Die gerügten Verfahrensmängel liegen entweder nicht vor oder sind von der Art, dass die Entscheidung nicht auf ihnen i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO beruhen kann.
1. Das FG hat das Recht des Klägers auf Gehör nicht durch eine Überraschungsentscheidung verletzt. Soweit der Kläger zur Begründung dieser Verfahrensrüge auf die Beurteilung seines Aufenthalts in England durch das FG abhebt, geht auch das FG davon aus, dass der Kläger während seines Aufenthalts in England dort einen Wohnsitz hatte. Es nimmt allerdings an, dass daneben auch ein Wohnsitz in X bestand. Die Annahme konnte den Kläger nicht überraschen. Bereits das FA hat in der Erwiderung auf die Klageschrift, in der der Kläger ausgeführt hatte, zwischen den Beteiligten sei unstreitig, dass er in den Jahren 1991, 1992 und 1993 keinen Wohnsitz in X gehabt habe, dies bezweifelt. Es schreibt dort, der Kläger habe zumindest seit dem 10. Dezember 1993 --wahrscheinlich aber auch schon vorher-- einen Wohnsitz i.S. des § 8 der Abgabenordnung (AO 1977) in X gehabt. Damit war für den Finanzrechtsstreit der gesamte Zeitraum seit 1991 zum Streitstoff geworden. Das FA hat ferner in seinem Schriftsatz vom 10. Mai 2004 zu der in Belgien gegründeten Firma … vorgetragen, es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger persönlich oder im Zusammenhang mit der Beratungsfirma in Belgien steuerlich veranlagt wurde. Solange der Kläger darauf nicht reagierte, konnte er nicht überrascht sein, wenn das FG sich darauf berief.
2. Das FG hat das Recht des Klägers auf Gehör auch nicht dadurch verletzt, dass es gegen seine Hinweispflicht gemäß § 76 Abs. 2 FGO oder gegen § 93 Abs. 1 FGO verstoßen hätte. Danach hat das Gericht die Streitsache mit den Beteiligten tatsächlich und rechtlich zu erörtern. Inhalt und Umfang der Hinweispflicht sind von der Sach- und Rechtslage des einzelnen Falles abhängig (vgl. von Groll in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl. 2002, § 76 Anm. 41). Im Streitfall war der Rechtssatz, unter den der Sachverhalt zu subsumieren war, einfach und den Beteiligten geläufig. Es war gemäß Art. 4 Abs. 2 Nr. 1 DBA-Belgien zu bestimmen, wo der Kläger in den Streitjahren aufgrund engerer persönlicher und wirtschaftlicher Beziehungen den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen hatte. Was die tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen anbelangt, ergab sich aus dieser Rechtslage, dass eine Gesamtwürdigung einer Mehrzahl einzelner Tatsachen und Indizien vorzunehmen sein würde und daher von seiten des Klägers alles vorgetragen werden musste, was nach seiner Auffassung gegen einen Lebensmittelpunkt in X für die Streitjahre sprach. Darauf brauchte --weil offenkundig-- nicht eigens hingewiesen zu werden.
Diese Gesamtwürdigung brauchte das FG nicht bereits in der mündlichen Verhandlung zu treffen. Die nach § 93 Abs. 1 FGO vorgeschriebene Erörterung der Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten verpflichtet das Gericht nicht, bereits in der mündlichen Verhandlung zu erkennen zu geben, wie es die einzelnen Tatsachen und Indizien werten und gewichten werde, um den Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich einer einzelnen Tatsache besonders zuzuwenden. Dies ist regelmäßig auch gar nicht möglich, weil die Wertung und Gewichtung der Tatsachen, Indizien und Argumente erst am Ende der Urteilsberatung als dessen Ergebnis festliegt.
3. Soweit der Beschwerdebegründung zusätzlich eine Aufklärungsrüge zu entnehmen sein sollte --worauf die Angabe des § 76 Abs. 1 FGO hindeuten könnte--, wäre die Beschwerde unzulässig, weil es an Ausführungen dazu fehlte, weshalb sich dem FG eine weitere Sachaufklärung ohne dahin gehende Beweisanträge hätte aufdrängen müssen.
Fundstellen
Haufe-Index 1468133 |
BFH/NV 2006, 583 |