Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsmittelbeschränkung beim vorläufigen Rechtsschutz
Leitsatz (NV)
1. Die Beschränkung der Beschwerde beim vorläufigen Rechtsschutz auf Fälle der Zulassung der Beschwerde ausschließlich durch das FG bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen (§128 Abs. 3 FGO) macht Sinn und verstößt nicht gegen die Verfassung.
2. Zur Frage der Unbilligkeit der Vollstreckung vorangemeldeter Umsatzsteuern.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4; AO 1977 § 222; FGO § 115 Abs. 2, § 128 Abs. 3; UStG § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, § 17 Abs. 1, 2 Nr. 1
Tatbestand
Mit dem angefochtenen Beschluß hat das Finanzgericht (FG) die Anträge der Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin) auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wegen Fehlens der gesetzlichen Voraussetzungen abgelehnt.
Das FG befand, der Erlaß einer einstweiligen Anordnung nach §114 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gegen die Fortführung der vom Antragsgegner und Beschwerdegegner (Finanzamt -- FA --) betriebenen Zwangsvollstreckung komme wegen Fehlens eines Anordnungsanspruchs nicht in Betracht. Die Vollstreckung der von der Antragstellerin vorangemeldeten Umsatzsteuern sei nicht unbillig, weil sich das Ermessen des FA, Stundung zu gewähren (§222 der Abgabenordnung -- AO 1977 --), nicht so verengt habe, daß der Antragstellerin ein Rechtsanspruch auf Gewährung der Stundung zustehe, und auch nach Auffassung des Gerichts die Möglichkeit einer Stundung nicht sehr nahe liege. Der Umstand, daß die Umsatzsteuer im Fall der Berechnung der Steuer nach vereinbarten Entgelten (§13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Umsatzsteuergesetzes -- UStG --) entstehen könne, ohne daß das Entgelt für die erbrachte Leistung vereinnahmt worden sei, führe als solcher nach dem gesetzgeberischen Plan nicht zu einer sachlichen Unbilligkeit. Sollte das vereinbarte Entgelt inzwischen uneinbringlich geworden sein, habe die Antragstellerin ohne weiteres die Möglichkeit, eine Berichtigung des Steuerbetrags nach §17 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. Abs. 1 UStG zu erreichen. Im übrigen fehle es auch an einer hinreichenden Darlegung und Glaubhaftmachung, daß ein solcher Berichtigungsanspruch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit begründet und alsbald fällig wäre. Es liege ferner auch keine Unbilligkeit wegen möglicher Geschäftsschädigung der Antragstellerin durch die Vollstreckungsaktivitäten des FA vor. Soweit das Begehren der Antragstellerin gemäß §69 Abs. 3 FGO als Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der Pfändungsverfügung des FA vom 7. August 1997 zu verstehen sei, beständen aus den vorstehenden Erwägungen auch keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verfügung.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin, die sie -- entgegen der Rechtsbehelfsbelehrung des FG -- als Nichtzulassungsbeschwerde gemäß §128 Abs. 3 Satz 2 i. V. m. §115 Abs. 3 FGO analog, hilfsweise als Beschwerde wegen greifbarer Gesetzeswidrigkeit, für statthaft erachtet. Die Sache habe grundsätzliche Bedeutung. Das FG habe verkannt, daß die Antragstellerin einen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung im Rahmen des §222 AO 1977 und auf Einhaltung von Verfahrens- und Formvorschriften bei finanzamtlichen Ermessensentscheidungen habe. Die Entscheidung des FA sei grob ermessensfehlerhaft, da bei einer begründeten Berichtigungsmöglichkeit nach §17 Abs. 2 Nr. 1 UStG die Einziehung von Steuern grundsätzlich unbillig sei und der Steuerschuldner sich nicht auf das Berichtigungsverfahren verweisen lassen müsse. Der angefochtene Beschluß weiche auch von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Gewährleistung eines wirksamen Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) ab. Daraus ergebe sich, daß bei nicht offensichtlich unbegründeten Stundungsbegehren bis zur rechtskräftigen Entscheidung Vollstreckungsschutz zu gewähren sei. Das FG habe diese, sich aus den -- im einzelnen angeführten -- Entscheidungen des BVerfG ergebenden Rechtsgrundsätze verkannt. Daher habe die angefochtene Entscheidung auch den Boden des Gesetzes verlassen und sei, insbesondere was den behaupteten Vorrang der Berichtigungsmöglichkeit und die Auslegung des Begriffs "Billigkeit"angehe, willkürlich, zumindest aber unsinnig.
Sollte die vorgetragene Auffassung zur Statthaftigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde unzutreffend sein, sei §128 Abs. 3 FGO als verfassungswidrig anzusehen und daher eine Vorlage gemäß Art. 100 GG durch den Senat an das BVerfG angebracht.
Entscheidungsgründe
Das Rechtsmittel ist nicht statthaft und daher als unzulässig zu verwerfen.
1. Nach §128 Abs. 3 Satz 1 FGO steht den Beteiligten gegen die Entscheidung des FG über die Aussetzung der Vollziehung nach §69 Abs. 3 FGO sowie über eine einstweilige Anordnung nach §114 Abs. 1 FGO die Beschwerde nur zu, wenn sie in der Entscheidung zugelassen worden ist. Das FG hat die Beschwerde in der angefochtenen Entscheidung nicht zugelassen, vielmehr seinen Beschluß unter Verweis auf §128 Abs. 3 FGO ausdrücklich für unanfechtbar erklärt. Mithin ist die Beschwerde bereits nicht statthaft.
2. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist eine Zulassung der Beschwerde durch den BFH nach dem Verfahren des §115 Abs. 3 FGO nicht möglich. §128 Abs. 3 Satz 2 FGO sieht hinsichtlich der Zulassung lediglich die entsprechende Anwendung des §115 Abs. 2 FGO vor. Hiernach entscheidet allein das FG, ob eine Zulassung der Beschwerde aus einem der dort genannten Gründe in Betracht kommt. Eine Beschwerde wegen Nichtzulassung der Beschwerde ist in den Fällen des §128 Abs. 3 FGO nicht statthaft (vgl. z. B. BFH-Beschlüsse vom 14. Dezember 1994 VI B 149/94, BFH/NV 1995, 628, und vom 18. Juni 1996 VIII B 43/96, BFH/NV 1996, 846).
Entgegen der Auffassung der Antragstellerin ist diese gesetzliche Regelung weder unsinnig noch verfassungswidrig. Art. 19 Abs. 4 GG eröffnet zwar jedem, der durch Maßnahmen der Verwaltung in seinen Rechten verletzt ist, den Zugang zu Gerichten, gebietet aber nicht, daß in jedem Fall gegen eine gerichtliche Entscheidung ein Rechtsmittel gegeben sein muß (BFH-Beschluß vom 13. März 1986 VIII B 45/85, BFH/NV 1986, 424). Einen verfassungsrechtlich abgesicherten Anspruch des Bürgers auf eine zweite Instanz gibt es nicht (BVerfG-Beschluß vom 7. Juli 1992 2 BvR 1631, 1728/90, BVerfGE 87, 48, 61).
Folglich wäre sogar ein völliger Ausschluß der Beschwerde, zumal in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, die eilig sind und den vor Gericht gebrachten Fall nicht endgültig entscheiden, mit verfassungsrechtlichen Einwänden nicht angreifbar. Erst recht muß dies für eine Regelung wie §128 Abs. 3 FGO gelten, die eine Zulassung der Beschwerde in bestimmten Fällen ermöglicht und die Entscheidung darüber ausschließlich dem erstinstanzlichen Gericht anheimgibt (so auch BVerfG-Beschluß vom 12. März 1976 2 BvR 119/76, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1976, 217, hinsichtlich der Vorgängerregelung der Vorschrift in Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs).
Die vom Gesetzgeber vorgegebenen Kriterien für die Zulassung der Beschwerde sind auch nicht willkürlich oder unsinnig. Sie entsprechen den Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§115 Abs. 2 FGO) und sind auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes sachgerecht. Ob eine Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), kann vom Gericht erster Instanz, das sich ausgiebig mit der tatsächlichen und rechtlichen Problematik des Streitfalls zu beschäftigen hat, zuverlässig beurteilt werden. Aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) muß es ihm auch möglich sein, bei der Entscheidung des Rechtsstreits von einer etwa bestehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung bewußt abzuweichen und seine divergierende Rechtsauffassung vom übergeordneten Gericht überprüfen zu lassen (§115 Abs. 2 Nr. 2 FGO). Schließlich kann es auch vorkommen, daß ein vom Gericht begangener Verfahrensfehler nach seiner Aufdeckung in der Instanz nicht mehr behoben werden kann und daher das Rechtsmittel von diesem Gericht selbst zugelassen wird (§115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
Des weiteren ist bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung einer Vorschrift, die die Einlegung eines Rechtsmittels ausschließt oder beschränkt, zu berücksichtigen, daß nach der Rechtsprechung des BVerfG in Fällen grob prozessualen Unrechts, wenn die Einlegung des ordentlichen Rechtsmittels ausgeschlossen ist, von Verfassungs wegen ein außerordentlicher Rechtsbehelf zum übergeordneten Fachgericht eröffnet sein kann. Die erfolglose Einlegung eines solchen außerordentlichen Rechtsbehelfs wird vom BVerfG sogar als Zulässigkeitsvoraussetzung für die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde angesehen (BVerfG- Beschluß vom 15. August 1996 2 BvR 662/95, Neue Juristische Wochenschrift 1997, 46).
3. Die Beschwerde ist im Streitfall auch nicht als außerordentliche Beschwerde wegen greifbarer Gesetzeswidrigkeit statthaft.
a) Eine solche Beschwerde ist zwar in der FGO nicht vorgesehen, wird ausnahmsweise aber in Fällen, in denen ein Beschluß kraft Gesetzes unanfechtbar wird, dann für zulässig erachtet, wenn der Beschluß unter schwerwiegender Verletzung von Verfahrensvorschriften zustandegekommen ist oder auf einer Gesetzesauslegung beruht, die offensichtlich dem Wortlaut und dem Zweck des Gesetzes widerspricht und die eine Gesetzesanwendung zur Folge hat, die durch das Gesetz ersichtlich ausgeschlossen werden sollte (vgl. Senatsbeschluß vom 22. November 1994 VII B 144/94, BFH/NV 1995, 791, m. w. N.).
b) Der Senat kann im Streitfall dahingestellt sein lassen, ob eine solche "außerordentliche" Beschwerde auch für Fälle in Betracht kommt, in denen die Beschwerde nach §128 Abs. 3 FGO nicht statthaft ist. Denn die Voraussetzungen, unter denen eine solche Beschwerde ausnahmsweise zulässig sein könnte, sind im Streitfall nicht schlüssig dargelegt.
Eine schwerwiegende Verletzung von Verfahrensvorschriften durch das FG wird von der Antragstellerin nicht geltend gemacht und ist auch nicht ersichtlich. Aus dem Vortrag der Antragstellerin folgt auch kein greifbarer Gesetzesverstoß hinsichtlich des Inhalts der angefochtenen Entscheidung. Die die Vorentscheidung tragende Auffassung des FG, eine sachliche Unbilligkeit als Voraussetzung für die Gewährung einer Stundung (hier: der vorangemeldeten Umsatzsteuer) nach §222 AO 1977 sei schon dann zu verneinen, wenn der Steuerpflichtige eine ihm vom Gesetz eingeräumte verfahrensmäßige Gestaltung zur Vermeidung drohender Nachteile (hier: Berichtigung der Bemessungsgrundlage bei Uneinbringlichkeit) unterlasse, beruht augenscheinlich weder auf einer Gesetzesauslegung, die offensichtlich dem Wortlaut und dem Zweck des Gesetzes widerspricht, noch hat sie eine Gesetzesanwendung zur Folge, die durch das Gesetz ersichtlich ausgeschlossen werden sollte. Alle weiteren Erwägungen des FG liegen letztlich im Tatsächlichen und sind daher einer Überprüfung im Rahmen eines außerordentlichen Rechtsbehelfs von vornherein nicht zugänglich.
Fundstellen
Haufe-Index 67219 |
BFH/NV 1998, 818 |